In ihren Büchern wird hoffnungslos geliebt und munter gemordet. Die deutsche Autorin Ingrid Noll schreibt Krimis und führt selber ein unspektakuläres, bürgerliches Leben. Vor kurzem ist ihr neustes Buch erschienen.
Text: Usch Vollenwyder
Ihr Vater nannte sie Plumplori, ihre Schwester Trampeltier. Dabei wäre Lorina, Hauptperson im neusten Buch von Ingrid Noll, gerne Balletttänzerin geworden. Stattdessen arbeitet sie als Betreuerin bei der alten Frau Alsfelder und wohnt in deren Villa mit Blick auf den Pfälzer Wald. Lorina hat mit ihrer Anstellung das grosse Los gezogen: Ihre Arbeitgeberin mag sie und mit Boris, Frau Alsfelders Masseur, verbindet sie schon bald eine heimliche Liebschaft. Allerdings eine sehr einseitige, und Lorina sinnt auf Rache: Boris’ Ende ist abzusehen.
«Meine Hauptperson muss schwierig und auch ein bisschen neurotisch sein», sagt Ingrid Noll. Sonst wäre sie kaum fähig, einen Mord zu begehen. Während vieler Wochen erschafft die Schriftstellerin diese fiktive Person in all ihren Facetten, sie lebt mit ihr und den Nebenfiguren, entwickelt sie weiter beim Bügeln oder beim Unkrautjäten in ihrem Garten. Für diese Vorlaufzeit benötige sie einige Monate, «erst dann lege ich richtig los». Um möglichst glaubwürdig zu sein, lässt sie ihre Romane jeweils in einem Milieu und einer Gegend spielen, die sie kennt. Gegen zwanzig Bücher und zahlreiche Kurzgeschichten aus ihrer Feder sind inzwischen erschienen.
«In meinen Büchern geht es rund», sagt Ingrid Noll unter den blühenden Glyzinien auf der Terrasse ihres Hauses in Weinheim, einer kleineren Stadt in der Nähe von Heidelberg. «Mein eigenes Leben hingegen ist bürgerlich und unspektakulär.» Die Heirat habe sie davor bewahrt, als Lehrerin arbeiten zu müssen. Ingrid Noll half in der Arztpraxis ihres Mannes Peter Gullatz, zog drei Kinder gross und ist heute vierfache Grossmutter. Alle wohnen in der Nähe. Sie mag den Kontakt mit der jüngsten Generation: «Es interessiert mich, wie es ihr geht und was sie fühlt.»
Zu schreiben begann die heute 85-jährige Ingrid Noll erst mit 55 Jahren: «Als alle Kinder von zu Hause ausgezogen waren, stand mir plötzlich ein eigenes Zimmer zur Verfügung.» Für Liebesgeschichten sei sie damals wohl schon zu alt gewesen. Also schreibt sie Kriminalromane, mit denen sie ihre unterschiedlichsten Leserinnen und Leser «von der Schuhverkäuferin bis zur Chefärztin» unterhalten will. In der Schule waren Aufsätze ihre Stärke, von jeher hatte sie ihren jüngeren Geschwistern und später den Kindern Geschichten erdichtet. Als Kind habe sie sich eine ältere Schwester namens Elli erfunden und ihre Umgebung damit irritiert, dass Elli in einem Gefängnis in Moskau sitze. «Meine Fantasie ist mein Kapital», ist sie überzeugt.
Zurück nach Shanghai
Ihre Kindheit verbrachte Ingrid Noll zusammen mit ihren Eltern und drei Geschwistern in China. Dort waren in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts Ärzte besonders gesucht. In Schanghai führte ihr Vater eine gutgehende Praxis, er versorgte chinesische und ausländische Patientinnen und Patienten. «Wir waren eine verwöhnte Familie», erinnert sich Ingrid Noll. Umso grösser war der Schock, als sie nach der Machtübernahme Maos 1949 als Flüchtlinge nach Deutschland zurückkehren mussten.
Wie ein «Alien» sei sie sich in der neuen Welt vorgekommen. Das Leben im Nachkriegsdeutschland war hart, ihre Mutter musste plötzlich selber kochen, das Essen schmeckte ungewohnt, die Kleider waren anders. War sie vorher von den Eltern unterrichtet worden, musste sie nun die öffentliche Schule besuchen: «Turnen war Folter», sagt sie. In Deutsch und Englisch hingegen war sie ihren Klassenkameradinnen und -kameraden voraus.
Vor vielen Jahren reiste sie zusammen mit ihrer damals 90-jährigen Mutter und den drei Schwestern zurück nach Schanghai, um ihren dort lebenden Bruder zu besuchen. Eine bewegende Rückkehr sei es gewesen, erinnert sich Ingrid Noll, ein Rückfall in alte, abgelegte Rollen. Tausend Kleinigkeiten hätten Kindheitserinnerungen geweckt, Gerüche, Flötentöne, das chinesische Essen, die kleinen Bambusstühle. Sie bedauert, dass sie die chinesische Sprache nie gelernt hat.
«Die Sanduhr läuft», meint die Schriftstellerin, die unter ihrem Mädchennamen schreibt. Sie bleibt realistisch: «Ich fände es schade, wenn ich jetzt abtreten müsste, aber es wäre auch in Ordnung.» Alles gehe langsamer, brauche mehr Zeit. Ein weiteres Buchprojekt hat sie schon begonnen: Als offizielle Botschafterin Weinheims lässt sie ihren nächsten Krimi in ihrer Heimatstadt spielen. Die historische Altstadt, die engen, kopfsteingepflasterten Gassen, der belebte Marktplatz im Zentrum oder auch der Schlosspark bieten sich als Kulisse für einen weiteren Ingrid-Noll-Fall an. ❋
Ingrid Noll: «Kein Feuer kann brennen so heiss», Roman. Diogenes Verlag AG, Zürich 2021, 293 S., ca. CHF 33.90
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