49 Jahre in Afrika
Einmal Namibia und zurück: Aus dem Emmental zog Eva Lubisch-Wagner 1969 als junge Mutter mit ihren Kindern nach Afrika – der Frauenrechte wegen. Heute lebt die 85-Jährige wieder am Thunersee. Und berichtet von zwei Zügleten zur richtigen Zeit.
Text: Annegret Honegger
Der Liebe wegen oder für einen guten Job zieht es viele Schweizerinnen und Schweizer ins Ausland. Bei Eva Lubisch war das anders. «Die Frauenrechte!» nennt sie als Auswanderungsgrund am Telefon. Mit 33 Jahren stieg sie ins Flugzeug, um für sich und ihre beiden Kinder eine neue Heimat zu suchen. Ihr Bruder, der in Windhoek, der Hauptstadt von Namibia, als Lehrer arbeitete, hatte vom afrikanischen Land und seinen Möglichkeiten geschwärmt. Das Leben als Geschiedene sei dort viel einfacher, Kinderbetreuung ab dem Babyalter selbstverständlich. Und für Frauen gebe es viele Stellen.
Das war genau, was sich Eva Lubisch wünschte. «Als Geschiedene wurde man damals in der Schweiz schräg angeschaut und diskriminiert», erinnert sie sich. «Erwähnte ich bei der Wohnungssuche meinen Zivilstand, erhielt ich eine Absage.» Deshalb wohnte Eva Lubisch seit dem Ende ihrer Ehe mit den Kindern bei ihrer Mutter in Langnau im Emmental.
Namibia hingegen war interessiert an Fachleuten aus Europa. Mit der Aussicht auf eine Stelle als Leiterin der Kunstvereinigung in Windhoek, flog Eva Lubisch 1969 nach Afrika. Sohn und Tochter blieben bei der Grossmutter und sollten folgen, sobald alles Organisatorische geklärt war. Doch die Vormundschaftsbehörde lehnte diese Lösung ab und brachte die Kinder für die Wartezeit getrennt in Pflegefamilien unter. Für Eva Lubisch ein weiterer Schlag ins Gesicht als Geschiedene.
Das Husarenstück der Grossmutter
Auch in Windhoek erlebte sie erst eine Enttäuschung. Die versprochene Stelle war nun doch nicht frei. Aber sie fand bald eine Arbeit, eine Wohnung und gute Kindergarten- und Schulplätze für die Kinder. Die Flugtickets waren bereits gekauft, da machte ihr die Schweizer Bürokratie abermals einen Strich durch die Rechnung. Mit 33 Jahren, befanden die Beamten, sei Eva Lubisch zu jung für ein solches Abenteuer, die Kinder lasse man deshalb erst in drei Jahren ziehen. Eva Lubisch wird noch Jahrzehnte später wütend, wenn sie davon erzählt.
Umso lieber berichtet sie vom Husarenstück ihrer Grossmutter, das nun folgte. Die damals 91-Jährige nahm ein Taxi von Deutschland in die Schweiz, holte ihre Urenkel bei den Pflegefamilien ab und setzte sie in Frankfurt ins Flugzeug nach Namibia. Die Schweizer Polizei passte die Kinder vergeblich am Flughafen Kloten ab. «Ich war so glücklich, als ich die beiden in Windhoek in die Arme schliessen konnte», erinnert sich Eva Lubisch. Ihr Glück war perfekt, als ein Kollege aus der Gymnasialzeit, der unterdessen Jurist und Statthalter war, die übereifrigen Schweizer Beamten schliesslich zurückpfiff.
«Danach ging es nur aufwärts», denkt Eva Lubisch an ihre Anfänge in Namibia zurück. Die Familie lebte sich rasch ein, kleine Verständigungsprobleme gab es nur zu Beginn: «Meine Tochter, die nur Berndeutsch sprach, suchte im Kindergarten vergeblich das, was wir ‘AB’ nannten…». Ab dann sprach Eva Lubisch mit ihren Kindern nur noch hochdeutsch.
Früh gelernt, sich anzupassen
Sich in einer neuen Umgebung zurechtzufinden, hatte Eva Lubisch selbst bereits als Kind gelernt. Ihre Familie lebte als Auslandschweizer in Deutschland, bis sie 1944 wegen des Krieges in die Schweiz zog. Basel, Tessin, Arosa, Emmental: «Ich ging in acht verschiedene Schulen und wurde oft ausgelacht, weil ich anders sprach als die anderen. Geschadet hat mir das nicht: So lernte ich früh, unabhängig zu sein und mich anzupassen.»
In Namibia lernte sie Afrikaans, die dem Flämisch/Niederländisch ähnliche Sprache der Südafrikaner, die das Land damals verwalteten. Auch Deutsch spielte eine grosse Rolle wegen Namibias Vergangenheit als deutsche Kolonie «Deutsch-Südwestafrika». Bis heute gibt es dort viele deutsche Bäckereien, Metzgereien und lutherische Kirchen. Von Südafrika hatte man das System der Apartheid übernommen, also die Trennung von Weissen und Schwarzen – «allerdings nicht so strikt wie in Südafrika». So hatte Eva Lubisch weisse und schwarze Freunde. Für Weisse gab es auf den Ämtern jedoch separate Schalter mit weniger Wartezeit und Personal im Haushalt war selbstverständlich: «Bügeln musste ich fünfzig Jahre nicht.»
Die Post braucht bis zu drei Monate
Mit der alten Heimat blieb Eva Lubisch in Kontakt. Im Schweizer Club, dessen Präsidentin sie zeitweise war, verfolgte man das Geschehen in der Schweiz, las die Auslandausgaben von Schweizer Zeitungen – mit Verzögerung, denn die Post benötigte sechs Wochen bis drei Monate. Jedes zweite Jahr reiste Eva Lubisch mit den Kindern in die Schweiz, um den Kontakt mit deren Vater und ihrer Familie zu pflegen. Wann immer möglich nahm sie an der Klassenzusammenkunft der Langnauer Sekundarschule und an Treffen für Auslandschweizer teil. Bis heute hat sie aus dieser Zeit Freundinnen und Freunde in aller Welt, mit denen sie per WhatsApp Kontakt hält. «Computer und Handys machten die Kommunikation viel einfacher und brachten uns auch die Möglichkeit, in der Schweiz elektronisch abzustimmen – allerdings nur über eidgenössische Vorlagen.»
Politisch stand Namibia im Umbruch. Während des jahrelangen bewaffneten Kampfs der südwestafrikanischen Volksorganisation SWAPO um die Unabhängigkeit explodierten in Windhoek Bomben, auf dem Land wurden weisse Farmer vertrieben oder getötet. Die Auslandschweizer, erzählt Eva Lubisch, bestellten Armeewaffen in der Heimat und führten eine Art «Obligatorisches» ein. Sie selbst engagierte sich in der fortschrittlichen «Interessengruppe deutschsprachiger Südwester» und diskutierte mit den Kämpfern, die viele Ideen für die Zukunft Namibias aus Ausbildungscamps in kommunistischen Ländern wie der DDR, Rumänien, Russland oder China mitbrachten. 1990 erlangte das Land nach mehr als 100 Jahren Fremdbestimmung in demokratischen Wahlen die Unabhängigkeit.
Neubeginn mit 65
Als ihr zweiter Mann an Krebs erkrankte und nach Jahren der Pflege starb, war Eva Lubisch 65 Jahre alt, die Kinder ausgeflogen und ihr Erspartes aufgezehrt. So eröffnete sie in ihrem grossen Haus ein Bed and Breakfast. Später zog sie an die namibische Atlantikküste: «Dort ist das Klima verträglicher als in der Hauptstadt, die auf 1800 Metern über Meer liegt». Die Winter in Windhoek in denen Eva Lubisch ohne richtige Heizung «nur mit kleinen Öfeli» litt, seien an der Küste viel angenehmer, die Sommer nicht zu heiss. Auch deshalb geniessen dort viele Pensionierte ihren Ruhestand.
Dies lockt jedoch auch Verbrecher an. Eine brutale Serie von Morden an alleinstehenden älteren Frauen liess Eva Lubisch ihre Pläne überdenken. «Ich wollte nicht in ständiger Unsicherheit und Angst leben», sagt sie und packte abermals ihre Koffer. Seit 2018 wohnt sie wieder in der Schweiz, ganz in der Nähe von Sohn und Enkelkindern. «Zum Glück hatte ich immer in die AHV einbezahlt, so komme ich über die Runden».
Zurück in der Schweiz
Statt im Atlantik schwimmt sie nun im Thunersee. Und kann nach zwei Wechseln des Kontinents vergleichen. In Namibia schätzte sie, dass die Gesellschaft in den 1960er-Jahren freier und toleranter war, sie als geschiedene Frau respektierte: «Als ich die Schweiz verliess, gab es ja noch nicht einmal das Frauenstimmrecht!» Auch geniesse man als älterer Mensch in Afrika hohes Ansehen, werde bevorzugt bedient und profitiere von vielen Vergünstigungen. «Ab sechzig wird man in Namibia ‘Tanni’ genannt, mit grauen Haaren dann ‘Ouma’ – das sind dort Ehrentitel.» Zurück in der Schweiz stellte sie überrascht fest, dass kaum ein Kind mehr aufstehe im Bus.
Dafür schätzt sie die hiesige Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit: «In Namibia muss man meist ein paar Monate auf einen Handwerker warten.» Liebte sie dort den frischen Fisch aus dem Meer, so ist es hier die grosse Auswahl an Gemüse in den Läden: «Namibia ist sehr trocken, es gibt wenig Landwirtschaft und vieles wird aus Südafrika importiert.» Fürs Skifahren und für Bergtouren, die sie in Namibia vermisste, sei sie unterdessen leider zu alt.
Die Entwicklung in ihrer afrikanischen Heimat beobachtet sie mit Sorge. Wie das Wegbleiben der Touristen wegen der Pandemie der Wirtschaft schadet. Wie immer mehr Industriezweige von Chinesen übernommen werden. Gerade noch zur rechten Zeit habe sie Namibia verlassen: «Durch Corona wäre ich jetzt völlig isoliert, könnte nicht mehr reisen». Umso mehr geniesst sie es, die Familie in der Nähe zu haben. Und einen Laden, in dem es St. Galler Bratwürste, Cervelats, Schweizer Wein und Käse zu kaufen gibt. All dies hatte die Schweizer Vertretung in Windhoek jeweils für den ersten August extra eingeflogen.
Zeitlupe-Serie: Auslandschweizerinnen und -schweizer
Mehr als 10 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer leben im Ausland. Die Zeitlupe gibt ihnen in einer Artikel-Serie ein Gesicht. Lesen Sie hier weitere interessante Portraits.
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