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Meine Stadt (1) 18. Oktober 2021

Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (69) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom Abendverkauf, Demo-Lärm und einem übermächtigen Polizeiaufgebot. 

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Eigentlich will ich nur einen neuen Wintermantel kaufen, nachdem ich den alten Ende letzter Saison zur Hundejacke degradiert habe. Also fahre ich in den Abendverkauf nach Bern. Bern ist meine Stadt. Ich kenne ihre Ecken, Strassen und Geschäfte. Natürlich weiss ich, dass auch an diesem Donnerstag eine Demo der Impfgegner und Massnahmenkritikerinnen angesagt ist. Doch als ich kurz vor sieben Uhr aus dem Zug steige und die Rolltreppe hinauf zum Loeb-Egge nehme, dem Treffpunkt der Berner und Bernerinnen, ist nichts von einem demonstrierenden Menschenauflauf zu sehen oder zu hören.

Ich gehe «ds Rohr ab» Richtung Käfigturm. So nennen die Einheimischen den Gang durch die Lauben bis hinunter zum Bärengraben. Auf beiden Seiten der Spitalgasse stehen dunkle Kastenwagen mit montierten Gittern an der Front und den Vorderseiten. Werden sie seitlich ausgefahren, gibt es kein Durchkommen mehr. Polizisten sitzen hinter dem Steuer oder stehen neben den Einsatzwagen. Der Bundesplatz liegt im Dunkeln und ist ebenfalls mit einer Barrikade aus Gittern abgesperrt. Weisse Kastenwagen mit dem Emblem von Police Bern rollen in der Schauplatzgasse aus. Polizisten mit Helm und Schild springen aus der Hintertür und formieren sich zu Zweierreihen. 

Ich überquere den Waisenhausplatz, der Wintermantel ist vergessen. Beim Bollwerk steht ein dunkles Ungetüm mitten auf der Strasse, sein grosses Rohr weist Richtung Bahnhofplatz . Es muss ein Wasserwerfer sein. Seine Scheinwerfer tauchen die Umgebung in grelles Licht. In jeder Strasse und Gasse rund um den Bahnhof stehen weisse und schwarze Kastenwagen, an jeder Ecke und in jeder Passage sind Polizisten in Vollmontur postiert. Sie haben einen Stöpsel im Ohr, einige tragen ein Megaphon unter dem Arm. Die geballte Polizeipräsenz ist unheimlich. 

Ich gehe Richtung Bahnhof, von wo in der Zwischenzeit laute Musik, Trommelwirbel, Treicheln und «Liberté»-Rufe zu hören sind. Unter dem Baldachin drängen sich unbeirrt Protestierende, tragen Fackeln, schwingen Fahnen und schwenken Trycheln. Es sieht aus wie an einer Chilbi, wäre die doch ziemlich überschaubare Menge nicht von einem undurchdringlichen Polizeikordon umgeben. Ein Polizeihund bellt die eigenen Reihen an. Aus einem Lautsprecher tönt es in breitem Berndeutsch: «Achtung, Achtung, das isch e wichtegi Durchsag vor Polizei». Unbeteiligte und Schaulustige werden gebeten, den Platz umgehend zu verlassen. «Merssi viumau», sagt die unsichtbare Stimme. Im auf- und abschwellenden Lärm geht die Durchsage unter. 

Ich bin ratlos. Ich ärgere mich wie viele über die wöchentliche Demo in meiner Stadt. Ihre Botschaft ist längst verstanden, geändert wird deswegen am aktuell geltenden Corona-Regime nichts. Noch bedrückender empfinde ich das übermächtige Polizeiaufgebot. Auch es gehört nicht in meine Stadt. Ich sehe keinen Weg aus dieser verfahrenen Situation. Ob sich die verhärteten Fronten nach der Pandemie wieder auflösen werden, weiss ich nicht. 

Als ich um halb neun Uhr durch die Bahnhofhalle zu meinem Zug gehe, sehe ich ein Röslein auf dem Boden liegen. Jemand muss es aus einem Strauss verloren haben. Passanten und Passantinnen machen einen Bogen um die Blume. Ich hebe sie auf. Daheim schneide ich sie an und stelle sie in eine Vase. Sie blüht rosa. Ich betrachte sie als gutes Omen. 


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Beitrag vom 18.10.2021

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