Als Knirps über den Wolken

Vom ersten Flug als Drei- oder Vierjährige können aus Werner Karths Generation wohl nur wenige erzählen. Der 95-jährige Basler hob bereits 1929 ab.

Neugierig war ich schon als kleiner Bub. «Frag nicht so viel», bremste mich mein Vater jeweils, wenn ich auf dem Sonntagsspaziergang zu viel wissen wollte. Aber mein Motto ist bis heute: Sich für alles interessieren und sich immer eine eigene Meinung bilden anstatt nur vom Hörensagen. Dadurch habe ich viel Spannendes gelernt und erlebt.

Schon früh reiste ich allein zu den Grosseltern nach Deutschland. Meine Eltern setzten mich jeweils in Basel im Badischen Bahnhof in den Zug und baten den Kondukteur, mich in Offenburg den wartenden Grosseltern zu übergeben. Das klappte bestens. Ich erinnere mich, wie ich aus dem Fenster der Grosseltern die nächtlichen Fackelzüge der SS und SA in ihren schwarzen Uniformen mit Musik verfolgte. Damals verstand ich natürlich nicht, was geschah, sondern bewunderte einfach das Spektakel. Mein Vater kaufte zum Glück später das Schweizer Bürgerrecht – ich bin also ein Secondo.

Flug über Basel

Dass ich bereits als Drei- oder Vierjähriger das erste Mal flog, lag daran, dass meine Eltern den Direktor des damaligen Basler Flughafens Sternenfeld kannten. 1929 nahm er zuerst meine Mutter und dann mich mit auf einen Rundflug über die Stadt. Die Ausrüstung samt Fliegerbrille lieh mir seine Tochter.

Anno dazumal: Werner Karth als kleiner Junge am Flugplatz Sternenfeld, um 1929.
© zVg

Wir flogen einen Doppeldecker, eine Caudron: Hinten sass der Pilot, vorne der Passagier. Ich kleiner Knirps war kaum gross genug zum Hinausschauen und fürchtete mich vor dem lauten Motor direkt vor mir. Kaum hatte ich mich an den Lärm gewöhnt, war der Flug auch schon vorbei. Trotz der ausgestandenen Ängste faszinierte mich die Fliegerei mein ganzes Leben.

Flughafen Sternenfeld um 1933, Flugzeug: Imperial Airways London
Flughafen Sternenfeld um 1933, Flugzeug «Horatius» der Imperial Airways London © zVg

In meiner Kindheit war der Flughafen Sternenfeld ein beliebtes Ziel für Sonntagsausflüge mit der Familie. Von der Restaurantterrasse sah man direkt auf den Flugplatz, Absperrungen gab es früher nicht. Regelmässig fanden auch Flugtage statt mit Attraktionen wie Fallschirmabsprüngen und Kunstflügen. Am meisten beeindruckte mich der deutsche Pilot Ernst Udet, der es schaffte, mit dem Flügel seiner auf dem Kopf fliegenden Maschine ein Taschentuch vom Boden aufzuheben.

Das Bild mit meiner Mutter und mir vor dem Flugzeug schoss mein Vater. Er war ein leidenschaftlicher Fotograf, der schon Kameras besass, als dies bei Privaten noch kaum verbreitet war. Jeden Franken, den er von seinem bescheidenen Buchhalterlohn abzweigen konnte, steckte er in seine Ausrüstung.

Auch diese Kindheitserinnerungen sind auf Fotos festgehalten: Guetzle und Weihnachtsabend, 1928.

Mein Vater kaufte auch eine Filmkamera und einen Projektionsapparat, die er aus Offenburg nach Basel schmuggelte. Dank ihm besitze ich viele Fotos und Filme aus den 1920er und 1930er Jahren, für die sich auch schon Museen interessierten.

Die Landung der «Hindenburg»

Ballonfahrt um 1929
Ballonflug um 1929 © zVg

Eines zeigt zum Beispiel den Start zum bekannten Gordon-Bennett-Ballon-Wettfliegen vom Gaswerk Basel aus. Sieger wurde, wer am weitesten flog, wobei manche bis Hamburg, andere bloss bis Pratteln kamen. Ebenfalls beim Gaswerk erlebte ich bei strömendem Regen eine Zwischenlandung des Zeppelins «Hindenburg» – jenes grossen Luftschiffs, das wenig später 1937 nach der Atlantiküberquerung in den USA in Flammen aufging.

Schliesslich verknüpfe ich mit dem Gaswerk auch die Erinnerung an die Kinder, deren Keuchhusten dort therapiert wurde. Auf Anraten von Kinderärzten liess man sie auf den grossen Aschehaufen spielen, die bei der so genannten Verkokung von Kohle entstanden. Die Dämpfe, die aus der Asche aufstiegen, galten als heilsam gegen den «blauen Husten», unter dem damals viele Kinder litten. Das Koks wurde auch in Säckchen verkauft, was sicher wesentlich günstiger war als ein Aufenthalt in einem Höhenkurort wie Davos.

Schon in jungen Jahren wollte ich möglichst viel selbst entscheiden und mochte es gar nicht, dass mir andere sagten, was ich tun oder lassen sollte. Erst die Eltern und Geschwister, später die Lehrer, der Leutnant im Militär oder der Pfarrer … Wohl auch deshalb verlief mein Leben nicht einfach geradlinig, sondern vollführte viele interessante Wendungen.

Das erste Auto

Noch als Schüler gründete ich eine Firma, handelte mit Bodenwichse und besass bereits vor meinem 18. Geburtstag mein erstes Auto, einen Fiat. Später wollte ich Zahnarzt werden, lernte dann aber Kaufmann und stieg in den Autohandel ein. Beim Pharmaunternehmen Roche brachte ich es bis zum Abteilungschef. Es gibt wirklich kaum etwas, was ich in meinem Leben nicht ausprobiert hätte.

Seit 1985 wohne ich wieder in Basel, bis vor fünf Jahren zusammen mit meiner Frau, die ich bis zu ihrem Tod pflegte. Mit 95 ist man so etwas wie der letzte Mohikaner im Umfeld, alle Schulkameraden und Freunde sind längst verstorben. Auch meine Söhne sind bereits 70 und 65 Jahre alt. Ich habe sechs Enkel und einige Urenkelinnen und Urenkel.

Leider ist vieles nicht mehr wie vorher, seit ich letzten Winter an Corona erkrankte und lange im Spital lag. Ich höre viel schlechter und bin nicht mehr gut zu Fuss. Das Virus hat mein Leben völlig umgekrempelt und ich bin immer noch dabei, wieder Tritt zu fassen. In meinem Alter ist das jedoch leichter gesagt als getan. Im Moment verbringe ich meine Zeit zuhause. Zum Glück kann ich gut mit dem Computer umgehen, das verschafft mir Kontakte zur Aussenwelt.

Aufgezeichnet von Annegret Honegger


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Beitrag vom 11.11.2021

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