Lebensträume sind wichtig – auch mit 90!
Gesundheit, das Wiedersehen mit einer geliebten Person, Unabhängigkeit: Auch betagte Menschen hegen Ansprüche an die Zukunft. Wir haben bei Pensionärinnen und Pensionären nachgefragt, welche Ziele sie im Leben haben.
Wer keine Wünsche an die Zukunft hat, bleibt stehen. Lebensträume hingegen bringen uns vorwärts, setzen manchmal Kräfte frei, mit denen wir scheinbar Unmögliches schaffen. Allein der Glauben an eine schönere, glückliche Zukunft hält uns gesund und tröstet uns in schweren Zeiten Trost.
Der Schweizer Versicherungskonzern Swiss Life fragte vor drei Jahren bei Schweizerinnen und Schweizern nach, was ihnen die Zukunft bringen soll. Die meisten hegen keine kühnen Lebenswünsche. Sie wollen gesund bleiben (37 Prozent), hoffen auf ein glückliches Familienleben (21 Prozent) und möchten das Leben geniessen (18 Prozent). Reichtum spielt für die Menschen eine weit geringere Rolle. Nur rund 10 Prozent erachten Geld Einkommen als Lebensziel.
Wovon aber träumen ältere Menschen? Menschen, die Einschränkungen, ja sogar Abhängigkeiten hinnehmen müssen? Haben 90-jährige überhaupt noch Wünsche? Diese Fragen stellten wir Bewohnerinnen und Bewohnern des Betagtenzentrums Emmenfeld in Emmen LU, des Alterszentrums Willisau sowie der «Stiftung Altersbetreuung Herisau».
«Kochen hält die Familie zusammen»
Nachdem mein Mann starb, bewohnte ich unser gemeinsames Haus allein. Bis ich eines Nachts umfiel. Seither bin ich hier im Altersheim. Ich werde im Mai 92 Jahre alt. Ein schönes Alter, vor allem, wenn man noch so selbstständig ist wie ich. Jeden Morgen bin ich dankbar, dass ich ohne Hilfe aufstehen und abends allein ins Bett gehen kann. Leider habe ich keine Küche hier – das vermisse ich. Nur schon eine Herdplatte wäre schön … Immerhin kann ich den Pflegenden jeweils einen Thermoskrug mitgeben, den sie mit heissem Wasser füllen. Manchmal bekomme ich ihn aber erst mittags wieder zurück. Doch das spielt keine Rolle, Hauptsache, ich habe Wasser. So kann ich wenigstens einen Schnellkaffee aufsetzen.
Mein Mann und ich führten einen Bauernhof und hatten einen Knecht als Hilfe. Mit 43 wurde ich erstmals Mutter von Zwillingen, zwei Mädchen. Damals kochte ich viel. Das hält die Familie zusammen und man kann damit erst noch viel Geld sparen. Ich kochte oft auf Vorrat, damit ich vorbereitet war, wenn mein Mann spontan jemanden zum Essen mitbrachte. Damals gab es jeden Tag Fleisch: Hackbraten, Voressen, Braten, Plätzli, Kutteln … Die Männer liebten Kutteln. Mein Mann so sehr, dass er jeweils sagte: «Mach genug, dann reicht es auch noch fürs Znacht.» Ich selbst bevorzugte Herdöpfelsalat mit Kotelett. Doch das war einmal. Heute muss das Fleisch für mich schön weich sein.
Hier muss ich nicht mehr kochen, ich bekomme das Essen unten im Restaurant. Aber hie und da würde ich gerne selber wieder am Herd stehen und mir eine Omelette zubereiten – mit ein wenig Konfitüre dazu. Kürzlich sagte ich im Heim zu einem Mitbewohner: Ich koche dir mal etwas Spezielles. Da bekam ich vom Pflegepersonal sofort zu hören, dass das aus Sicherheitsgründen nicht möglich sei. Wenn ich heute meine Töchter besuche, dann kochen sie und zwar sehr gut. Gerade letzte Woche machte ich einer der beiden ein Kompliment für ihre Kochkünste. Sie entgegnete nur: «Ja, von wem ich das wohl gelernt habe?»
«Die Neugier sollten wir uns bis zum Tod bewahren»
Ich schaue oft zum Himmel hoch und beobachte die Wolken: Jeden Tag erstrahlt der Himmel in neuem Licht. So verhält es sich auch mit unserem Leben: Auch wenn keine grossen Umbrüche anstehen, bietet es jeden Tag Neues. Kleine Dinge, die uns inspirieren und vorwärtsbringen. Die Neugier, jeden Tag neu zu entdecken, möchte ich mir bewahren.
Man muss nicht zwingend grosse Träume haben, um sich in Schwung zu halten – tiefgreifende Neugierde ist aber ein wichtiger Bestandteil. Ich bin gerade daran, meine Zukunft neu zu ordnen. Mein Umfeld hat mich etwas aus dem Gleichgewicht gebracht, nun habe ich mich im Emmenfeld erholt. Ich will aber zurück in ein selbstständiges Leben. Ich träume von einer eigenen Wohnung, von einem Leben mit meinen Kollegen und vor allem mit meinen beiden «Meitschi».
Träume sind wichtig im Leben, sie bewahren uns vor dem Zerfall. Man muss sie aber anpacken, sonst bleiben sie Schäume. Ich beispielsweise habe angefangen, zu fotografieren. Ich finde meine Sujets in der Natur. Meine Fotografien lassen neue Blickwinkel zu. Der Stein, die Flechte könnten auch ein Gesicht, ein Fabeltier oder etwas Utopisches darstellen. Man kann ein Bild im Bild sehen. Die Fantasie soll angeregt werden, um Dinge zu erblicken, die sonst verborgen blieben.
«Die Puzzles erinnern mich an viele schöne Stunden»
Eisenbahnen faszinieren mich seit meiner Kindheit. Meine Gotte schenkte mir eine zum fünften Geburtstag, damit war meine Leidenschaft entflammt. Wir reisten oft hinter der schnaubenden Dampflok von Willisau nach Wolhusen. Später brachte mich der Zug hin zu den Alpen, hinein in die Natur. Denn ich war begeisterter Bergsteiger.
An diese schönen Stunden erinnern mich meine Puzzles, die ich hier im Alterszentrum zusammensetze. Sie alle zeigen Zugstrecken. Jeweils drei bis vier Wochen bin ich mit den 1000 Teilen beschäftigt. Das fertige Werk lasse ich ein paar Tage auf dem Tisch liegen, dann verstaue ich es wieder in der Kartonschachtel und mache mich an ein anderes.
Mittlerweile bin ich auf den Rollstuhl angewiesen, selber reisen kann und mag ich nicht mehr. In meinem Alter sollte man keine grossen Träume und Wünsche mehr haben. Dafür hatte ich ja genug Zeit im Leben. Trotzdem hoffe ich, dass ich noch möglichst viele Puzzles schaffe. Sie liegen bereits im Schrank parat.
Die aktuelle Puzzle-Reise führt mich über das Landwasserviadukt der Rhätischen Bahn. Danach nehme ich die Gornergratbahn von Zermatt in Angriff, sie gehört zu meinen Lieblingsstrecken. Sie bietet einen grandiosen Ausblick aufs Matterhorn. Den mächtigen Zacken hätte ich beinahe selber bestiegen. Doch meinem Begleiter wurde es beim Aufstieg schlecht, deshalb mussten wir kurz vor dem Ziel umkehren.
Ich wäre auch gern Lokführer geworden. Doch dieser Lebenswunsch blieb mir verwehrt. Mein Vater wurde früh krank, also musste ich helfen, meine acht Geschwister durchzubringen. Später arbeitete ich als Schreiner, doch meine Liebe zu den Zügen ist geblieben. Ich las viel darüber und baute eine Modelleisenbahn und dirigierte darin drei Züge, darunter ein TGV. Die Fantasiewelt spannte sich über 2,8 mal 1,5 Meter. Ein gutes Jahr arbeitete ich daran. Was für eine grosse Freude!
Die Eisenbahn gibt es nicht mehr, in meinem Zimmer blieb dafür kein Platz. Einzig eine alte Dampflok und die Doppellok der Burgdorf-Thun-Bahn nahm ich mit – und natürlich ganz viele Erinnerungen. Die Puzzles frischen sie jeweils auf. Ohne Wehmut, ohne Bitterniss.
- Weitere Traum-Geschichten finden Sie in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift «Zeitlupe».