Schmetterlinge schlafen nicht Von Monica Cantieni

Gret deckte seit dreiundsechzig Jahren den Tisch für zwei Damit wollte sie nun nicht aufhören. Auch wenn Bernadette meinte:
«Liebes, du musst es akzeptieren.» 
Auch wenn der Pfarrer gesagt hatte: 
«Er ist jetzt bei Gott.» 

Sie rechnete aus, wie weit es sein mochte zu Gott. An einem Tag war es unmöglich zu schaffen. Länger waren sie jedoch nie getrennt gewesen, Kari und sie. Da erst begriff sie. 

Die Tage waren lang, aber im Gegensatz zu den Nächten waren sie ein Klacks. Gret fand keinen Schlaf. Stattdessen warf sie sich die ganze Nacht von einer Seite auf die andere. Den Blick auf den fluoreszierenden Sekundenzeiger des Weckers gerichtet, blieb sie schlaflos liegen. Jeden Morgen nahm sie eine Tablette gegen die Kopfschmerzen ein, weil sie nicht geschlafen hatte. Am Abend nahm sie eine, um einschlafen zu können.

Morgen.

Morgen würde sie ihre Tochter in Übersee anrufen. 

Das Wachsein wollte partout kein Ende nehmen. Nicht an diesem Tag, nicht am nächsten, auch nicht in den Wochen danach. Nachts öffnete sie beide Flügel des Kleiderschranks, wo Karis Kleider lagen. Sie dufteten immer noch. Im Bett drehte sie sich auf den Bauch, dann auf den Rücken, der schmerzte. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Als sie sich auf die rechte Bettseite wälzte, sah sie im Spiegel ihren gebeugten Rücken auf der anderen Seite des Bettes. Sie bekam Mitleid mit dem Rücken, gerne hätte sie ihn gestreichelt.

Durch den Spion konnte sie den Pfarrer sehen. Er hatte geklingelt. Hatten sie einen Termin?
«Gret? Sind Sie da?» 
Sie blieb schweigend stehen. Ihr Atem beschlug das Glubschauge zum Flur hinaus.
«Gret, ich kann Sie hören.» 
Sie wich zurück und trat verärgert von einem Bein aufs andere.
«Ich weiss, Sie hören mich. Sie sollten sich bei Ihrer Tochter melden. Sie sagt, sie habe Ihnen eine Bedienungsanleitung fürs Internet dagelassen. Sie wartet auf Ihren Anruf, und sie hat mich gebeten, zu schauen, dass Ihnen nichts fehlt.» 
«Danke. Ich habe alles. Mir fehlt nichts.»
«Melden Sie sich bei Claire.»

Gret schwieg. Der Pfarrer drehte sich weg und trat aus dem Bild. Als sie die äussere Haustür zufallen hörte, fehlte ihr alles.

Der Garten ihrer Grossmutter.
Auf-Reisen-Sein.
Zu-Hause-Sein.
Schlaf.
Claire.
Bernadette.
Gemocht-Werden.
Süsses.
Ihre dritten Zähne – wo hatte sie sie hingelegt? 

Und Kari fehlte ihr. Sogar seine Pantoffeln: Wo waren sie nur? Eben hatten sie doch noch bei der Tür gestanden. Sie suchte die ganze Wohnung ab. Die dritten Zähne fand sie dort, wo sie hingehörten. Schlaf fand sie auch diese Nacht keinen, und Karis Pantoffeln blieben verschwunden. Sie nahm zwei Tabletten und eine dritte gegen die Gliederschmerzen und schaltete das Radio ein.

Weshalb hatte ihre Tochter nur diesen Amerikaner heiraten müssen? Sie verzieh ihm nie, dass er im Garten fröhlich verkündet hatte, nirgendwo anders leben zu können als in Amerika. Grossspurig hatte er dabei sein Glas Bier geschwenkt. Auf dem Grill verkohlten die Lammkoteletts, die er verschmähte.

Die Anleitung, wie sie das Internet anschalten musste, fand Gret neben dem Computer. Morgen würde sie sich darum kümmern wollen. Morgen würde sie Claire anrufen. Hatte sie ihre Tabletten eingenommen? Sie nahm eine. Vorsichtshalber.

Die Fusssohlen kribbelten. Die Unruhe kroch im Schutz der Dunkelheit unter ihre Haut und dehnte sich aus. Von den Füssen in die Beine, von den Beinen in den Bauch. Jede Nacht wuchs sie dort weiter, bis sie das Herz berührte und es zu flattern begann und Gret taub vor Erschöpfung in den nächsten Tag entliess.

Eben hatte sie Kaffee aufgesetzt, als es klingelte. Ihr Schädel drohte zu platzen, es passte ihr so gar nicht, und der Schlüssel war nicht an seinem Platz; sie fand ihn nicht. Aber Bernadette war aus alter Gewohnheit einfach eingetreten. Sie stutzte.
«Wie siehst du denn aus?» 
«Wie soll ich schon aussehen?»
«Wo hast du denn gesteckt?»
«Na hier. Wo soll ich denn deiner Meinung nach hin?»
«Ich ruf an, du antwortest nicht; ich war da, ich hab geklopft und geklingelt, du machst nicht auf. Das letzte Mal hatte ich den Schlüssel nicht dabei.»

«Ich kann nicht schlafen.
«Und das macht dir die Ohren kaputt?» 
«Und ich hab Kopfschmerzen. Deine Tabletten sind aus.»
«Jetzt schon? Du musst damit vorsichtig sein.»
«Ach, papperlapapp! Hab du mal meinen Kopf, dann will ich dich sehen!»

Bernadette hob den Deckel von der Tupperware-Box, die sie im Arm gehalten hatte.
«Ich habe dir Lamm mitgebracht.»
«Ich muss aufs Klo.»
«Das hält sich bis nachher.»

Auf dem Klo nahm Gret zwei Tabletten. Ihr war so elend. Aber da klopfte auch schon Bernadette an die Tür und fragte:
«Alles in Ordnung?»
«Nicht einmal auf dem Klo war sie ungestört.
«Du bist schon zwanzig Minuten da drin. Mindestens.»

Bernadette neigte zu Übertreibungen.
«Das Lamm wird kalt.»
«Ich habe keinen Hunger.»
«Jetzt komm doch mal raus, da. Und woher wusstest du eigentlich, dass ich komme?»
«Wusste ich nicht.»
«Du hast für zwei getischt.»

Gret antwortete nicht und öffnete die Badezimmertür. Es duftete nach dem Lamm, das in zwei Tellern dampfte. Als Bernadette sich an Karis Platz setzen wollte, zuckte Gret zusammen und holte ein weiteres Gedeck.
«Setz dich doch hierhin.»


Bernadette schwieg einen Moment betreten. Dann holte sie Luft.
«Findest du das nicht übertrieben?»
«Was?»
«Na, das!» Sie deutete auf das zweite Gedeck. Gret schwieg.
«Hilft es dir denn?»
«Wobei?»
«Es zu verarbeiten.»
«Es?»
«Karis Tod.»
«Verarbeiten? Ich für meinen Teil verarbeite Früchte, Bernadette. Man verarbeitet Rohstoffe. Verschon mich bitte mit solchen Allgemeinplätzen! Mir tut nur alles weh. Mein ganzes Leben tut mir weh. Und du tust mir weh mit dem Geschwätz.» 

«Ist ja gut.»
«Nein, ist es nicht! Wie lange kennen wir uns?»
«Seit der Kindheit.»
«Wir waren sechs, und du hast mir am ersten Kindergartentag in die Schuhe gespuckt. Dann hast du hinter meinem Rücken meinen ersten Freund geküsst, und ich habe dir das Paar Ohrringe geklaut, das er dir geschenkt hat, und in den Fluss geworfen …»
«Du warst das?»
«Ja, ich war das, Bee! Hör auf, so mit mir zu reden. Ich habe dir übrigens verziehen.»
«Wie bitte? Das ist doch allerhand. Du hast mir verziehen?» «Also, das ist doch …»

Während Bernadette nach Luft schnappte, machte Gret eine lange Pause und streckte den Rücken durch. Sie schaute ihre Freundin durch die dicken Brillengläser an, die ihre Augen unnatürlich vergrösserten. Bernadettes fassungsloser Ausdruck war unbezahlbar.

«Glotz nicht so, Bernadette. Du hast es verdient. Ausserdem: Diese Tönung steht dir nicht.»
«Du redest mit mir, als wären wir noch in der ersten Klasse. Das habe ich nicht nötig, wirklich nicht.»
«Und ich habe es nicht nötig, dass du mit mir redest wie mit einem deiner Idioten aus den Esoterikgruppen, in denen du dich herumtreibst und wo sie sich über Buchtitel wie «Achtsam durchs Leben» austauschen und dabei ausblenden, wie sie zu ihrem Vermögen gekommen sind als Kinder steinreicher Eltern und wie sie sich heute aufführen als Besitzer und Vermieter – als hätte die Französische Revolution nie stattgefunden. Was für eine verlogene Scheisse!»
«Diese Ausdrucksweise – Gret, ich bitte dich! Bist du nicht zu alt, um noch die Revoluzzerin zu spielen?»
«Spielen? Es war mir immer ernst mit der Kapitalismuskritik.»
«Immer diese Leier!»

Bernadette schlug die Hände über dem Kopf zusammen und fasste dann bestimmt nach Grets Handgelenk.
«Jetzt hör auf damit. Was ist los? Erzähl schon!»
«Ich kann nicht schlafen, Bernadette, und mein Kopf fühlt sich an wie ein Bienenstock. Nachts kriechen Tiere durch meinen Körper, der Angstschweiss dringt mir aus allen Poren, mir ist schwindlig, der Kopf dreht sich, als wäre er nicht festgemacht und die Gedanken darin auch nicht. Kaum einen kann ich halten, und deshalb wälze ich immer dieselben. Kari ist weg, er ist für immer fort. Ich kann doch nur warten. Ich kann nichts weiter tun, als zu warten, bis es weniger wehtut, bis ich damit leben kann, bis ich mit dem leben kann, was übrigbleibt, bis …»
«Also wirklich, Gret, so ein Unsinn. Du musst aufhören mit den Tabletten!»
«Bei den Kopfschmerzen? Du machst Scherze! Und die Gelenke erst! Es gibt Tage, an denen die Schmerzen mich umbringen!»
«Was sagt die Ärztin?»
«Was soll sie schon sagen? Ich muss wieder schlafen lernen, sagt sie. Ohne Medikamente ist das ein Ding der Unmöglichkeit.»
«Ja, aber das geht schon viel zu lange so.»
«Das sagt die Ärztin auch. Der Apotheker war so freundlich, mir noch Tabletten mitzugeben. Ausnahmsweise. Ich muss das Rezept nachliefern.»

Bernadette war anzusehen, dass ihr etwas unangenehm war, aber Gret konnte beim besten Willen nicht deuten, was es sein mochte. Jetzt zeigte sie mit ihrem sorgfältig manikürten Finger auf den Teller.
«Iss jetzt.»

Gret stocherte im Teller herum.
«Sieht lecker aus.» 
«Ist es auch.»
«Es ist kalt.»
«Stimmt. Du hast auch lange genug gewartet.»
«Schmetterlinge schlafen auch nicht.»
«Wie bitte?»
«Sagen sie im Radio.»
«Die schlucken aber nicht fortwährend Tabletten deswegen.»

«Hör mal, Claire hat angerufen.»
«Was?»
«Claire. Deine Tochter. Du nehmest nicht ab, sagt sie.»
«Es hat nicht geklingelt.» 
«Du hast es nicht gehört! Mich hast du ja auch nicht gehört – ihr redet doch übers Internet miteinander, nicht?»
«Ja, ich wollte mich darum kümmern, sobald ich Zeit habe. Da ist auch irgendwo eine Erklärung dazu. Claire hat sie dagelassen.»
«Wann hast du das letzte Mal mit ihr geredet?»
«Muss eine Woche her sein. Weiss ich nicht mehr so genau.»
«Claire sagt, es sei mehr als zwei Wochen her, dass sie dich mal am Telefon erwischt hat. Und da warst du zu müde, um zu reden. 
«Wirklich? Sie hat angerufen?»
«Gret, sie hat bei mir Alarm geschlagen. Sie sagt, du habest gelallt.»
«Unsinn!»
«Ruf sie an. Mach das mit dem Internet. Wir haben beide Kinder zur Welt gebracht und grossgezogen. Schwerer als das kann es wohl nicht sein. Hör mal, ich muss jetzt langsam los. Ich muss zum Turnen.»

Bernadette stand auf und glättete ihr Kleid. Sie beugte sich zu Gret herunter, fasste sie bei den Schultern und kam ihr ganz nah.
«Claire sagt, dass du dich melden sollst. Unbedingt.»
«Und du hast Lebensmittelmotten. Im Reis.»

Dann zögerte sie, Gret verharrte reglos in ihrem aufdringlichen Parfüm.
«Was? Sag schon.»
«Ich muss dich das fragen: Was machen Karis Pantoffeln im Kühlschrank, Liebes?»

Gret starrte auf den Reis, der mit Mottenflügeln durchsetzt in seiner transparenten Packung auf dem Küchenblock stand. Es verging eine Woche, bis sie sich dazu aufraffen konnte, ihn wegzuwerfen. Sie leerte den Küchenschrank und putzte ihn mit Essig aus. – Hatte eben das Telefon geklingelt? Sie hob ab.

«Claire? Bist du das? Ich ruf dich gleich zurück. Ich mach sofort das Internet an, in Ordnung?»

Sie hörte dem Summton des Telefons eine Weile zu, legte auf und presste dann sorgfältig den Schalter am Computer. Sie konnte sein Surren und Schnarren hören, und als das Signal ertönte und die verschiedenen Kacheln auf dem Bildschirm erschienen, sank ihr der Mut wie ein alter Kahn. Vor ihren Augen soff er gurgelnd ab in einem Meer aus Unwägbarkeiten, während sie die Anleitung für den Anruf mit Claire suchte und nicht fand.

Sie war müde, unendlich müde. Dass die Tür aufgebrochen wurde, verschlief Gret. Sie verschlief den ersten Feuerwehrmann, der ihr seinen Zwiebelatem ins Gesicht hauchte, während er ruhig auf sie einredete und ihr den Puls fühlte. Sie verschlief das grelle Rot seiner Kleidung, die Aufregung, den Lärm, den Wolkenbruch, den Wind, der durch die Wohnung fuhr, die klatschnasse Bernadette, die schlotternd vor der Tür stand und aufgeregt gestikulierte.

Sie verschlief den zweiten Feuerwehrmann, der sein Mobiltelefon für einen Moment in seiner Faust barg und flüsterte: «Was kann ich der Tochter sagen? Ich hab sie in der Leitung.»

Sie verschlief, wie der erste lächelte und ihm zunickte und dieser sich wegdrehte, um Bernadette zuzunicken, und dann mit Claire sprach. Erst als ein Windstoss die Tür zuwarf, wachte Gret auf, öffnete ihre Augen, die noch ins Leere blickten, und rief:

«Bee, bist du’s? Wie oft hab ich dir gesagt, du sollst nicht so mit den Türen knallen, Teufel noch eins!»


Monica Cantieni, 1965 in der Schweiz geboren, lebt in Wettingen. Sie schreibt Kurzgeschichten und Romane. Ihr letzter Roman wurde 2011 für den Schweizer Buchpreis nominiert sowie 2015 in englischer Sprache bei Seagull Books, Kolkata-London-Chicago für den First Book Award Edinburgh.

Ihr letzter Roman, «Grünschnabel», erschienen bei Schöffling & Co. Frankfurt am Main, wurde in sechs Sprachen übersetzt. Für ihre Kurzgeschichten erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.

Überdies ist Cantieni Grimme-Online-Preisträgerin für die Filmplattform «Frischfilm», die sie für SRF realisiert hat. Die Schriftstellerin und Gründerin von «ALPHABET LAB» entwickelt neue Formen des Lernens und verführt damit ganzeKlassen zum Schreiben von Romanen und Hörspielen.


«Voll im Wind»

Geschichten von A wie Altersheim bis Z wie Zwetschgenschnaps

Grossvater riecht nach Schnaps und Grossmutter lacht nicht mehr. Was ist passiert? «Älterwerden ist kein Spaziergang», erzählen Betroffene – und die Jüngeren nehmen es irritiert zur Kenntnis. Ruth und Fritz haben es doch schön in der Alterswohnung, und Trudi wird im Pflegeheim rund um die Uhr verwöhnt. Was ist daran so schlimm?

Es sind dies die Übergänge und Brüche; vermehrt gilt es, Abschied zu nehmen: vom Haus, vom Partner, vom Velofahren. Das Gehen verändert sich weg von der Selbstverständlichkeit hin zur Übung und Pflicht; das Autofahren ist ohnehin ein Tabu, so will‘s die Tochter. Ist es da so abwegig, den Kopf hängen zu lassen? Sich Pillen verschreiben zu lassen oder ein Glas über den Genuss hinaus zu trinken? Ja, es ist abwegig, weil es auf Abwege führt und nicht auf einen grünen Zweig.

22 Schweizer Autorinnen und Autoren erzählen Geschichten über ältere Menschen, denen der Wind derzeit mit voller Wucht entgegenbläst. Ein Anhang mit einfachen Infos und Tipps sowie weiterführenden Adressen bietet den nötigen Windschutz.

  • «Voll im Wind – Geschichten von A wie Altersheim bis Z wie Zwetschgenschnaps», Hrsg. Blaues Kreuz Schweiz,© 2020 by Blaukreuz-Verlag Bern, ISDN 978-3-85580-549-5
  • Cover-Illustration: Tom Künzli, TOMZ Cartoon & Illustration, Bern. Lektorat: Cristina Jensen, Blaukreuz-Verlag. Satz und Gestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld. Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
  • Das Projekt wird vom Nationalen Alkoholpräventionsfonds finanziell unterstützt.Für Begleitpersonen stehen unter www.blaueskreuz.info/gesundheit-im-alter weitere Fachinformationen zu den Themen des Buches bereit.

Beitrag vom 06.02.2022

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