Die Anstellung von pflegenden Angehörigen bei der Spitex stösst auf Interesse. Ein Projekt der Careum Hochschule Gesundheit geht Fragen rund um das neue Erwerbsmodell nach. Projektinitiantin Iren Bischofberger gibt Antworten.
Interview: Usch Vollenwyder; Foto: Bernard van Dierendonck
Sie haben in Ihrer vor kurzem abgeschlossenen Forschungsarbeit «work care integra» die Anstellung von pflegenden Angehörigen bei der Spitex durchleuchtet. Was haben Sie untersucht? In Umfragen und Einzelinterviews erkundeten wir, wie sich Spitexmitarbeitende, pflegende Angehörige und betreuungsbedürftige Familienmitglieder zu einem solchen Arbeitsverhältnis stellen. Wir fragten nach den Chancen und Herausforderungen dieses Modells und suchten nach den Rahmenbedingungen, unter denen eine Anstellung gelingen kann. Zudem beleuchten wir die fachlichen, ökonomischen und rechtlichen Aspekte, die für die häusliche Gesundheitsversorgung wichtig sind. Die ausgewerteten Daten haben wir in einem Manual zusammengefasst, das sich in erster Linie an Spitex-Organisationen und pflegende Angehörige richtet.
Was war für Sie das überraschendste Ergebnis Ihrer Untersuchung? Wie sehr in den letzten Jahren das Interesse an solchen Arbeitsverhältnissen zugenommen hat. Zwar noch wenige, aber immer mehr öffentliche und private Spitex-Betriebe stellen pflegende Angehörige an. Im Kanton Graubünden ist dieses Erwerbsmodell schon sehr viel länger gesetzlich verankert. Positiv überrascht hat mich auch die Tatsache, dass wir während unserer dreijährige Forschungsarbeit kaum auf Widerstand gestossen sind. Selbst einige Krankenversicherungen, die ja neben den Gemeinden oder den Kantonen und den Privathaushalten für die Pflegekosten aufkommen müssen, zeigten sich offen.
Wie sieht ein solches Arbeitsverhältnis konkret aus? Die pflegenden Angehörigen werden von der Spitex in einem Teilzeitpensum angestellt und unterstehen deren Arbeits- und Anstellungsbedingungen. Als reguläre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben sie Rechte und Pflichten wie andere Mitarbeitende auch. Die Spitex-Betriebe ihrerseits sind als eigenständige Arbeitgeberinnen verantwortlich für die Qualität der Arbeit und haben gegenüber ihren Angestellten eine Sorgfaltspflicht.
Wo sind die Stolpersteine eines solchen Arrangements? Pflegende Angehörige können bisher bei der Spitex nur angestellt werden, wenn sie im Minimum den Kurs als Pflegehelferin absolviert haben. Gemäss einem Bundesgerichtsurteil aus dem Jahr 2019 ist dieser Kurs für eine Anstellung jedoch nicht zwingend. Aktuell wird deshalb mit den Krankenversicherern und Spitex Schweiz eine neue Regelung erarbeitet.
Und vonseiten der Angehörigen? Mit einer Anstellung muss der Bedarf von einer Pflegefachperson der Spitex beurteilt werden. Das wollen nicht alle Angehörigen. Sie bleiben lieber autonom. Andere sind bereits in ein gut funktionierendes Unterstützungsnetz eingebunden. Wieder andere bevorzugen ein Arrangement mit anderen Dienstleistungsorganisationen, weil sie die Dokumentationspflicht als Spitex-Mitarbeitende scheuen: Wegen der unseligen Trennung zwischen Pflege- und Betreuungsleistungen und aus versicherungstechnischen Gründen muss genau festgehalten werden, welche Aufgaben wann als Angestellte und welche als unbezahlte Angehörige erledigt werden. Und schliesslich ist es für viele pflegende Angehörige unverständlich, warum in ihren Aufgabenbereich als Spitex-Angestellte nur Grundpflege fällt und nicht auch Behandlungspflege wie zum Beispiel Insulin spritzen, Blutdruck messen oder Medikamente herrichten – Tätigkeiten, die sie bisher unbezahlt und selbstverständlich erbracht haben, die sie aber ohne Pflegeberuf in der Spitex nicht übernehmen dürfen.
Welches sind die grössten Vorteile einer solchen Anstellung? Angehörige werden für Leistungen, die sie ohnehin erbringen, bezahlt. Sie sind Teil eines Teams, haben Anspruch auf Fortbildung und können entsprechende Erfahrungen sammeln. Sie bleiben im Arbeitsmarkt integriert oder treten neu ein und haben auch nach der Anstellung als pflegende Angehörige bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt sowie bessere Sozialleistungen im Rentenalter. Die Spitex ihrerseits gewinnt für ihr Team oft langjährige Angehörigenerfahrung. Die betreuungsbedürftigen Personen ihrerseits wissen, dass ihre Angehörigen durch die Anstellung besser geschützt sind.
Wie muss jemand vorgehen, der oder die sich als pflegende Angehörige von der Spitex anstellen lassen möchte? Zuerst muss das Gespräch mit der Spitex gesucht werden, die das Anstellungsmodell umsetzt. Danach macht eine Pflegefachperson die Bedarfserhebung. Basierend darauf werden die Pflegeleistungen definiert. Beim Erbringen dieser Pflegeleistungen ist eine Arbeitsteilung zwischen den angestellten Angehörigen und anderen Spitex-Mitarbeitenden möglich. In einem Erstkontakt kann sich aber auch zeigen, dass eine andere Lösung als die vorgesehene Anstellung in der jeweiligen Situation besser und sinnvoller ist.
Was ändert sich in der Beziehung zwischen den angestellten Angehörigen und ihren zu pflegenden Nahe‐ stehenden? Es kann eine neue Dynamik geben. Pflegende Angehörige befinden sich in einer Doppelrolle, sie sind bezahlte Leistungserbringende und Familienmitglieder gleichzeitig. Auch ihre zu pflegenden Nahestehenden müssen sich auf den Wechsel zwischen Anstellungsverhältnis und unbezahlter familiärer Pflege im Alltag einstellen. Es ist wichtig, dass diese Umstellung von der zuständigen Fachperson bei der Spitex begleitet und dass mit den Betroffenen regelmässig Rückschau gehalten wird.
Ist es ein Modell für die Zukunft? Ich glaube schon, dass sich dieses Erwerbsmodell weiterentwickeln wird. Es kann für alle Beteiligten stimmen – wenn nämlich pflegende Angehörige nach dem Tod oder Übertritt ihres Nahestehenden in ein Pflegeheim weiterhin im Spitex-Betrieb angestellt bleiben und es so nicht zu einer Stellenauflösung kommt. Oder wenn sich Angehörige für eine Berufsausbildung im Gesundheitswesen entscheiden. Diese pflegenden Angehörigen mit ihrer grossen Erfahrung sind eine Bereicherung für das Gesundheitswesen und die ganze Gesellschaft.
Iren Bischofberger, Prof. Dr. phil war als Pflege- und Gesundheitswissenschaftlerin massgeblich am Auf- und Ausbau der Careum Hochschule Gesundheit in Zürich beteiligt. Mit ihrem interdisziplinären Team baute sie das Forschungs- und Entwicklungsprogramm «work & care – Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenpflege» auf. Dazu gehört auch die vorliegende Studie über pflegende Angehörige als Spitex-Angestellte.
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