© Sonja Ruckstuhl

«Der Tanz war meine Therapie»

Auch Meisterinnen fangen klein an: Die weltberühmte Tänzerin Nina Corti war einst ein schüchternes Mädchen voller Komplexe, bevor der Flamenco sie aus ihrem Kokon befreite.

Interview: Claudia Senn; Fotos: Sonja Rucktuhl

Nina Corti, einer Ihrer Flamencolehrer war der legendäre Enrique El Cojo. Er war übergewichtig, gehbehindert und entsprach in keiner Weise dem gängigen Schönheitsideal. Hat er Sie gerade deshalb so beeindruckt?
Ja. Enrique hat mir beigebracht, dass äusserliche Schönheit völlig zweitrangig ist. Es ist ein Irrglaube, perfekt sein zu müssen. Eine Menge Leute, die ich kenne, entsprechen nicht dem Schönheitsideal, und trotzdem suche ich ihre Nähe. Weil ich mich bei ihnen wohlfühle. Weil sie Wärme ausstrahlen. Das ist es doch, was eigentlich zählt. Enrique hatte übrigens schreckliche Torturen hinter sich.

Erzählen Sie.
Er wollte schon als kleiner Bub Tänzer werden. Doch mit acht Jahren bekam er einen Tumor am Bein, der ihn dauer- haft verkrüppelte. Ein Bein war fortan länger als das andere. Trotzdem: Vom Tanzen hielt ihn das nicht ab. Der Flamenco rettete ihm das Leben und die Lebensfreude. Auf Youtube gibt es ein Schwarz-Weiss-Video, in dem er mit der berühmten Manuela Vargas tanzt. Da sieht man, wie schön er ist – innen drin. Viele berühmte Flamencoartisten wurden von ihm unterrichtet. Er war ein ganz Grosser.

Aus Ihnen wurde ebenfalls eine weltberühmte Flamencotänzerin. Steckt auch in Ihrer Karriere ein Quantum Schmerz? 
Und ob. Der Tanz war meine Therapie. Meine ganze Kindheit hindurch habe ich mich gefühlt, als käme ich von einem anderen Planeten.

Warum?
Die Schule machte mir grosse Mühe. Mein erster Lehrer war ein grausamer Mann, der seine Schüler mit dem Massstab züchtigte. Zudem fühlte ich mich in der Schweiz nie richtig heimisch, weil meine Familie in vielem sehr unkonventionell war. Mein Vater war Italiener, meine Mutter halb Polin, halb Russin. Beide hatten sehr exotische Berufe: Mein Vater arbeitete als erster Bratschist in der Tonhalle und am Opernhaus Zürich, meine Mutter war ausgebildete Modedesignerin.

Nina Corti im Interview mit der Zeitlupe.
© Sonja Ruckstuhl

Sie haben die Kunst also gleich mit der Muttermilch aufgesogen?
Das Künstlerische hatte bei meinen Eltern einen enormen Stellenwert. Doch sie haben mir auch einen Rucksack an Problemen mitgegeben, die mich belastet und blockiert haben. Das gab mir das Gefühl, anders zu sein, nicht dazuzugehören.

Können Sie genauer beschreiben, was Sie damit meinen?
Das ist mir zu persönlich, es war aber nichts Aussergewöhnliches. Als ich mich später mit Psychologie beschäftigte, um durch die Nebelsuppe meiner Gefühle klarer hindurch- blicken zu können, merkte ich, dass es wohl niemanden auf der Welt gibt, der ideale Eltern hat. Jeder macht in seiner Jugend auf die eine oder andere Art etwas Ähnliches durch wie ich, fühlt sich unverstanden oder missachtet. Entweder man verharrt in dieser Opferrolle und gibt für sein Unglück den Eltern die Schuld, oder man packt das Leben an und sieht, wie schön es auf dieser Erde ist. Mit dem Verzeihen fallen viele Lasten von einem ab, und es gehen neue Türen auf.

Konnten Sie Ihren Eltern denn verzeihen?
Ja. Heute denke ich, dass sie mir zwar ein paar schwere Brocken in den Rucksack gepackt haben. Aber sie gaben mir auch die Kraft, um die Steine wieder herauszuholen. Ich habe mir viele Gedanken über meine Eltern gemacht, weil ich wissen wollte, warum ich so bin, wie ich bin. Diese Selbsterforschung hat sich sehr gelohnt.

Waren Sie ein rebellischer Teenager?
Brav war ich nicht. Ich machte nicht alles, was man mir sagte. Doch ich erlebte mich selbst als graue Maus. Schüchtern, still, in mich gekehrt.

Das ist schwer vorstellbar, wenn man einmal erlebt hat, wie extrovertiert Sie auf der Bühne sind.
Erst der Tanz half mir, aus meinem Kokon herauszukommen. Als Kind hatte ich Minderwertigkeitskomplexe. Ich lief mit den Füssen einwärts und zog auch die Schultern ein, um mich möglichst unsichtbar zu machen, mich vor den Blicken der anderen zu schützen. Mit zehn Jahren schickte man mich deshalb ins Haltungsturnen. Das war schrecklich, dort mit anderen, die wirklich arm dran waren, an der Sprossenwand zu zappeln wie Fische am Angelhaken. Als Nächstes versuchten es meine Eltern mit Ballett. Da tat sich eine neue, wunderbare Welt auf, in der ich mich auf einen Schlag sicher fühlte. Als mich dann mit 17 eine Schulkollegin zum Flamenco mitgenommen hat, wusste ich sofort: Das ist es!

War das ein Befreiungsschlag?
Ich liebte den Flamenco, von der ersten Stunde an. Er war wie eine Tür, durch die ich hindurchtrat. Diesen Rhythmus in den Boden zu stampfen, weckte eine Kraft in mir, von der ich bis dahin gar nichts geahnt hatte.

«Meine ganze Kindheit hindurch habe ich mich gefühlt, als käme ich von einem anderen Planeten.»

Mit 24 zogen Sie nach Spanien, um den Flamenco bei den grössten Meistern ihres Fachs zu lernen. Hat man Sie überhaupt ernst genommen, als Frau in einer vom Machismo geprägten Kultur, als Ausländerin?
Ich war ja nicht die Einzige. Da studierten Leute aus ganz Europa, Japan, den USA. Ich hatte grossartige Lehrer, der wichtigste war wohl Ciro Diezhandino, der mich sehr förderte. Ich sog alles auf wie ein Schwamm, tanzte jeden Tag acht Stunden – bis mir mein Körper signalisierte, es doch besser etwas ruhiger angehen zu lassen. Bald schon hatte ich erste Auftritte.

Sie sind niemals auf Widerstände gestossen, auf Mauern, die Sie einreissen mussten?
Nein. Das lag vielleicht daran, dass ich zwar in ganz Europa aufgetreten bin, aber so gut wie nie in Spanien. Ich war vogelfrei und konnte machen, was ich wollte. Mauern habe ich schon eingerissen, aber auf andere Art. Denn vieles von dem, was ich versuchte, hatte zuvor noch niemand anderes probiert. Ich engagierte Flamencostars wie Enrique Morente, José Mercé oder Pepe Habichuela und liess sie mit Jazzmusikern zusammen- spielen. Ich tanzte in Jeans statt Rüschenkleidern, mit Kammermusikern oder philharmonischen Orchestern. Das waren kostbare Momente.

Auf dem Höhepunkt Ihrer Karriere, in den 1980er- und 1990er-Jahren, traten Sie mit Superstars wie dem Tenor José Carreras oder den Gipsy Kings auf. Sie tanzten in Amphitheatern und den berühmtesten Konzertsälen der Welt, etwa der Londoner Royal Albert Hall. Vermissen Sie den Glamour von damals, den Status der Künstlerin von Weltruf?
Ich war nie eine Künstlerin, die nach Applaus lechzt. Wenn alles stimmt, kann es auf der Bühne wunderschön sein. Doch dieses Leben ist auch sehr stressig. Es ist nicht alles Gold, was glänzt.

Zu Anfang des neuen Jahrtausends wurde es plötzlich ruhiger um Sie, Sie zogen sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. Was ist damals passiert?
Das habe ich noch gar nie öffentlich erzählt: Ich bin damals krank geworden. Ab 2004 merkte ich, dass etwas nicht mehr stimmt. Ich hatte das Gefühl, an einer schleichenden Infektion zu leiden. In meinem Körper gab es immer wieder Entzündungsherde, ich konnte über viele Jahre kaum schlafen. Eine Odyssee von Arzt zu Arzt brachte keinerlei Besserung. Zum Schluss kroch ich auf allen vieren, an Tanzen war gar nicht mehr zu denken. Es war eine furchtbare Zeit.

Wie haben Sie aus diesem Zustand wieder herausgefunden?
Eine Heilpraktikerin erkannte schliesslich, dass ich sensibel auf Elektrosmog reagiere. Ich weiss, dass diese Diagnose in der Schulmedizin umstritten ist, doch mir konnte diese Heilpraktikerin damals als Einzige helfen. In der Nähe meiner Wohnung in Madrid stand eine grosse Handyantenne. Nachdem ich umgezogen war, ging es mir deutlich besser.

Nina Corti im Interview mit der Zeitlupe.
© Sonja Ruckstuhl

Der Körper einer Tänzerin ist ihr Kapital. Nun mussten Sie feststellen: Es geht bergab mit mir. Wie schlimm war das für Sie?
Sehr schlimm. Es war ein schleichender Prozess, von Jahr zu Jahr wurde es schlechter. Als es dann endlich wieder aufwärts ging, musste ich bei null anfangen, um meine Muskulatur aufzubauen. Dafür ging ich nach Madrid. Anfangs war ich nach einer Stunde Tanz völlig fertig. Dann ging es aber überraschend schnell, bis ich zu meiner alten Form zurückfand.

Im Rückblick betrachtet sind Krisen oft wichtige Wendepunkte, die einen persönlich weiterbringen. War das in Ihrem Fall auch so?
Definitiv. Vieles hat sich relativiert. Ich achte jetzt besser auf meinen Körper.

Gab es noch andere grosse Krisen in Ihrem Leben?
Ende der 1990er-Jahre verliess ich meinen ersten Mann. Das war sehr schwierig, denn wir waren auch beruflich eng miteinander verbunden. Mein Mann war damals auch mein Manager. Er hielt mir den Rücken frei. Ohne ihn hätte ich vieles nicht geschafft. Ausserdem zogen wir in dieser Zeit voller Reisen und Auftritte auch noch zwei Söhne gross.

Und nun mussten Sie plötzlich ohne Ihren wichtigsten Unterstützer klarkommen.
Ich war gezwungen, mein Leben völlig neu zu organisieren, das war nicht einfach, aber es hat mir viel Power gegeben, zu merken, dass ich von A bis Z alles alleine durchziehen kann: Ich kann selbst einen Vertrag abschliessen, ich kann selbst den Beleuchter instruieren und mit ihm das Bühnen- licht einrichten, ich kann meinen Bühnen-Tanzboden im Anhänger zum Theater fahren und sagen, wie er aufgebaut werden muss. Alles ganz allein. Das gab mir ein Gefühl von Souveränität. Trotzdem ist es natürlich viel schöner, wenn man auf Unterstützung zählen kann.

Warum haben Sie Ihren Mann verlassen?
Ich war 20, als wir uns ineinander verliebten. Damals wusste ich noch kaum etwas über mich. Wusste nicht, was ich will und was ich brauche. In Gefühlsdingen fehlten mir schlicht die Worte, ich konnte mich schlecht ausdrücken. Vieles war gut zwischen uns, mein Mann hat sich wahnsinnig für mich eingesetzt. Doch es sind auch Dinge passiert, die nicht hätten passieren dürfen. Heute bestimme ich endlich selbst über mich. Und ich habe jemanden an meiner Seite, mit dem ich Freud und Leid teilen kann und der mir auch mal den Spiegel vorhält.

Sie haben einen neuen Partner? Wie haben Sie sich kennengelernt?
Ich traue mich fast nicht, es auszusprechen: Auf einem Dating-Portal im Internet. Erst dachte ich, das klappt sowieso nie, doch dann bekam ich diesen Brief von ihm. Das ist mittlerweile drei Jahre her. Heute sind wir glücklich verheiratet.

Sie haben ein sehr intensives, schillerndes Leben voller Höhen und Tiefen gelebt. Gibt es Dinge, die Sie bereuen? 
Nein. Schuldgefühle bringen nichts, das habe ich inzwischen begriffen. Damit belastet man nur sich selbst und die anderen. Man muss sich mit schwierigen Situationen ehrlich auseinandersetzen – und dann vorwärtsschauen. Dinge auch mal ruhen lassen.

Keine offenen Rechnungen?
Natürlich hätte ich gerne alle meine Konflikte gelöst, doch dafür braucht es immer zwei. Wenn der eine noch gekränkt und dadurch verbittert und verhärtet ist, muss man geduldig sein. Versöhnung lässt sich nicht erzwingen. Mit mei- nem Ex-Mann hätte ich gerne ein besseres Verhältnis. Wir waren so viele Jahre zusammen, da haben wir uns eben irgendwann in verschiedene Richtungen entwickelt und mussten den anderen ziehen lassen. Ich glaube, dass die Liebe ein sehr guter Lehrmeister ist: Der Partner, den wir uns aussuchen, hilft uns, gewisse Probleme in uns selbst zu erkennen und schliesslich zu überwinden. Vielleicht gehört es sogar zum Sinn des Lebens, an solchen Herausforderungen zu wachsen

Aufführungsdaten 50. Bühnenjubiläum: 8., 9., 15. und 16. Oktober, Bachturnhalle Schaffhausen.

Flamenco-Tänzerin von Weltruf

Nina Cort tanz mit rotem Tuch in vor dem Spiegel in ihrem Atelier.

© Sonja Ruckstuhl

Nina Corti (68) ist in Zürich geboren. Nach der Höheren Töchterschule machte sie eine Lehre zur Goldschmiedin, bevor sie in Madrid und Sevilla den Flamenco studierte. Sie tanzte mit den besten Musikern der Welt und trat an den grössten Häusern auf. Aus ihrer ersten Ehe hat sie zwei Söhne, sie ist zweifache Grossmutter. Heute lebt Nina Corti mit ihrem zweiten Mann, einem Fotografen und Ornithologen, ausserhalb von Schaffhausen und in Madrid. In Schaffhausen führt sie den «Raum für Kunst und Bildung» (Vorstadt 66), wo sie Flamenco-Kurse für jede Altersgruppe anbietet und Workshops, Vorträge und Lesungen organisiert. Zu ihrem 50. Bühnenjubiläum plant sie eine Rückschau auf ihr Leben mit namhaften Flamenco-Musikern, -Sängern und -Tänzern sowie dokumentarischen Videos und Fotos. Ihr Mann Stephan Trösch moderiert.

Beitrag vom 07.03.2022