Das Glöcklein Von René Oberholzer

Meine Grossmutter lebt im Altersheim. Sie hat ein Glöcklein an der linken Hand. Wenn sie durch die Gänge schlendert, hört man sie schon von weitem kommen. «Ich will, dass man mich hört», hat sie einmal einer Angestellten gesagt.

Meine Grossmutter war vor langer Zeit Pianistin und spielte in allen grossen Konzertsälen. Die Menschen standen auf und applaudierten begeistert, nachdem sie Mozart oder Beethoven gespielt hatte. «Ich liebe euch alle», schluchzte sie jeweils ins Mikrofon, und der Applaus wurde noch grösser.

Jetzt applaudiert niemand mehr. Klavier spielen kann sie auch nicht mehr. Doch meine Grossmutter erzählt viel von den Stars, die ihr damals begegneten. Immer wenn meine Grossmutter von ihnen erzählt, frage ich mich, in welchen Altersheimen jene Stars jetzt ihren Lebensabend verbringen. «Grossmutter», frage ich sie dann, «wen würdest du jetzt gerne noch einmal treffen unter all den Stars, von denen du mir erzählt hast?» Und sie sagt mir dann immer:

«Keinen. Nur den einen, der kein Star gewesen war, einen Mann, den ich auf einer Tournee kennengelernt hatte. Sandro hiess er, Sandro Cavalli, er war ein grosser, kräftiger Mann. Ihn würde ich gerne wiedersehen. Ich hatte mich in ihn verliebt. Er war für die Tontechnik in Florenz zuständig gewesen.»

Meine Grossmutter erzählt mir immer wieder dieselben Geschichten vom Tontechniker Sandro Cavalli. Und immer wenn das Wort Sandro über ihre Lippen kommt, zittert ihre Hand, und ich höre ihr Glöcklein. Ganz leise.


René Oberholzer lebt und arbeitet seit 1987 als Oberstufenlehrer, Autor und Performer in der Schweiz, Wil SG. Seit 1986 schreibt er Lyrik, seit 1991 auch Prosa. Mitbegründer der literarischen Experimentiergruppe «Die Wortpumpe» und der «Autorengruppe Ohrenhöhe». Für sein literarisches Schaffen erhielt er den Anerkennungspreis der Stadt Wil. Zuletzt erschien von ihm das Werk «Kein Grund zur Beunruhigung» (236 Gedichte), Driesch Verlag, 2015.


«Voll im Wind»

Geschichten von A wie Altersheim bis Z wie Zwetschgenschnaps

Grossvater riecht nach Schnaps und Grossmutter lacht nicht mehr. Was ist passiert? «Älterwerden ist kein Spaziergang», erzählen Betroffene – und die Jüngeren nehmen es irritiert zur Kenntnis. Ruth und Fritz haben es doch schön in der Alterswohnung, und Trudi wird im Pflegeheim rund um die Uhr verwöhnt. Was ist daran so schlimm?

Es sind dies die Übergänge und Brüche; vermehrt gilt es, Abschied zu nehmen: vom Haus, vom Partner, vom Velofahren. Das Gehen verändert sich weg von der Selbstverständlichkeit hin zur Übung und Pflicht; das Autofahren ist ohnehin ein Tabu, so will‘s die Tochter. Ist es da so abwegig, den Kopf hängen zu lassen? Sich Pillen verschreiben zu lassen oder ein Glas über den Genuss hinaus zu trinken? Ja, es ist abwegig, weil es auf Abwege führt und nicht auf einen grünen Zweig.

22 Schweizer Autorinnen und Autoren erzählen Geschichten über ältere Menschen, denen der Wind derzeit mit voller Wucht entgegenbläst. Ein Anhang mit einfachen Infos und Tipps sowie weiterführenden Adressen bietet den nötigen Windschutz.

  • «Voll im Wind – Geschichten von A wie Altersheim bis Z wie Zwetschgenschnaps», Hrsg. Blaues Kreuz Schweiz, © 2020 by Blaukreuz-Verlag Bern, ISDN 978-3-85580-549-5
  • Cover-Illustration: Tom Künzli, TOMZ Cartoon & Illustration, Bern. Lektorat: Cristina Jensen, Blaukreuz-Verlag. Satz und Gestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld. Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
  • Das Projekt wird vom Nationalen Alkoholpräventionsfonds finanziell unterstützt. Für Begleitpersonen stehen unter www.blaueskreuz.info/gesundheit-im-alter weitere Fachinformationen zu den Themen des Buches bereit.

Beitrag vom 10.04.2022

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