Krieg und Frieden 28. März 2022
Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Kriegsrhetorik und einem singenden Stadtpräsidenten.
«Liebe Freundinnen und Freude, es ist wieder an der Zeit, Lieder gegen den Krieg zu singen», sagt Alec von Graffenried an der Kundgebung für die Ukraine auf dem Berner Bundesplatz. «Wir werden jetzt zusammen ein Lied singen, ein Lied aus der Zeit des Vietnamkriegs.» Und das gehe so: «War, no, what is it good for? Absolutely nothing!» Der Berner Stadtpräsident mit dem graumelierten Haar und dem kummervollen Blick stimmt an und animiert das Publikum zum Mitsingen. Die Menge murmelt zaghaft – wahrscheinlich kennen die wenigsten den alten Protestsong: «Wozu ist der Krieg gut? Für gar nichts!» Ich mag diesen Stadtpräsidenten, der gegen den Krieg ansingt.
Während auf dem Bundesplatz gesungen wird, dominiert ringsum Kriegsrhetorik. Die westliche Welt ist sich einig: Russland muss wirtschaftlich isoliert und aus der Weltgemeinschaft ausgeschlossen werden. Von einer Zeitenwende in der Sicherheitspolitik ist die Rede, Milliardenbeträge für Aufrüstung werden gesprochen. Amerikas mächtigster Mann ruft zum Sturz des Kreml-Führers auf und schwört Europa auf einen langen Krieg ein. Auch in der Schweiz wird in den verbalen Kriegsmodus geschaltet. Fragen nach Schutzbunkern und Jodtabletten werden laut. Die Armee müsse dringend aufgestockt und modernisiert werden. Die Stop-F-35-Initiative werde Schiffbruch erleiden.
«Wenn die Waffen sprechen, fällt die Antwort schwer», titelt die evangelisch-reformierte Zeitschrift «reformiert» in ihrer neusten Ausgabe. Antworten hört man zurzeit vor allem von Militärexperten und Sicherheitsstrategen. Ihr Vokabular ist kriegerisch und unversöhnlich. Der Pazifismus hat schlechte Karten, Pazifistinnen gelten als naiv. Ich kann mich nicht einmal meinem Mann verständlich machen.
In meiner Jugendgruppe anno dazumal sangen wir Friedenslieder und feierten Friedensgottesdienste. Auf die Kühlerhaube meines ersten Döschwos hatte ich ein unübersehbares Peace-Zeichen gemalt. Später nahm ich an Friedensmärschen und an Friedensdemos teil – wenn nötig auch heute. Meine Überzeugung lasse ich mir nicht nehmen: Ich wehre mich gegen Aufrüstungsprogramme und Waffenlieferungen – auch an die Ukraine.
Ich werde das Gefühl nicht los, dass der eingeschlagene Weg direkt in eine Sackgasse – oder schlimmer noch in die ganz grosse Katastrophe führt. Wo sind die besonnenen Stimmen? Die Konflikt- und Friedensforscherinnen? Die Deeskalationsstrategen? Wiederum im Magazin lese ich eines der wenigen Interviews, die mir aus dem Herzen sprechen: mit dem deutschen Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge. Der Dialog mit Russland müsse unbedingt hergestellt werden, sagt der Philosoph. Der Krieg mache uns blind. Er lasse uns die Gedanken und Interessen des Gegners nicht mehr sehen. Er sage es mit heissem Herzen: «Wir müssen den unwahrscheinlichen Punkt erwischen, an dem wir die zerrüttete Lage noch einmal in die Hände von Menschen zurücklegen können.»
In die Hände von Menschen – nicht von Militärköpfen, Kriegsgurgeln und Machtmännern.
PS: Am Sonntag distanziert sich Emmanuel Macron von den rüden Worten des US-Präsidenten. Es gelte, «eine Eskalation der Worte wie der Handlungen» im Ukrainekrieg zu verhindern, sagt der französische Staatschef.
- Was halten Sie von den Aufrüstungsprogrammen und der derzeitigen Kriegsrhetorik? Teilen Sie die Gedanken unserer Autorin? Schreiben Sie uns doch im Kommentarfeld Ihre Meinung. Wir würden uns darüber freuen.
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