«Ich werde 127 Jahre alt»
Ein Gespräch mit Dieter Meier, Konzept-Künstler, Musiker und Sänger des weltberühmten Techno-Duos Yello über Kunst, Musik, Schokolade und die Erwartungen ans Jenseits.
Interview: Marc Bodmer
Kaum haben wir die Corona-Pandemie einigermassen überwunden, bricht in Europa ein Krieg aus. Hätten Sie das jemals gedacht?
Nein, absolut nicht. Was Putin derzeit macht, das ist von einer menschenverachtenden Brutalität, die immer grausamer wird, weil er sich nur so in Russland als Sieger feiern lassen kann.
In den 1970ern, als Sie in der Punk- und Performance-Kunst-Szene aktiv waren, tobte der Vietnamkrieg. Gibt es für Sie Parallelen zum Krieg in der Ukraine?
Selbstverständlich. Die USA waren genauso brutal in Vietnam, nur hat man das damals besser verdrängt als heute die Grausamkeiten in der Ukraine.
Sie studierten in jener Zeit Jura. Wie kamen Sie zur Kunstszene?
Ich kann nicht so genau sagen, wieso ich in diese Szene hineingeraten bin. Die Uni war gewissermassen eine soziale Tarnung für meine Eltern, wenn sie heuchlerisch gefragt wurden: «Wie geht’s denn dem Dieter?». Dann konnten sie sagen: «Der studiert Jura.» Ich habe 14 Semester lang studiert, war aber praktisch nie an der Uni.
Sondern …
Ich spielte mehr oder weniger professionell Poker und lebte in einer Sucht wie unter einer abgeschlossenen Glasglocke. Der normale Alltag existierte nicht mehr.
Wie meinen Sie das?
Ich wusste sonst nichts mit mir anzufangen, langweilte mich mit allerlei Scheinbetätigungen. Ein Pokerspieler lebt abgeschnitten von der Aussenwelt, jenseits des Spieltischs gibt es nichts mehr. Alle paar Minuten nimmt man ein neues Blatt in die Hand, und das steht sozusagen für das Schicksal. Und das kannst du verändern, je nachdem, wie du die Karten spielst. Alle, die so intensiv spielen, werden früher oder später süchtig. Heute ist Poker für mich nur noch ein Hobby, das ich mit meinen Freunden in Argentinien ausübe.
Nach dem Ausstieg aus der Spielsucht haben Sie unbeschreiblich viele Dinge gemacht. Die «Neue Zürcher Zeitung» bezeichnete Sie einmal als «Schamane des Nichts». Ein Kompliment?
Normalerweise haben Künstler, Schriftsteller, Filmemacher oder Maler eine klare Botschaft und denken vor allem an die kommerzielle Verwertbarkeit ihrer Werke. Bei mir ist das umgekehrt, die Dinge kommen auf mich zu, und ich lasse mich treiben: Die «conquête de l’inutile», die Eroberung des nicht Verwertbaren, ist mein Arbeitsprinzip. Ein deutscher Dokumentarfilmer hat mich 30 Jahre lang begleitet, und als der Film fertig war, einen hochtrabenden Titel vorgeschlagen, den ich sofort ablehnte und ersetzte mit: «Dieter Meier, ein Zufall».
Sind Ihre frühen Darbietungen also zufällig entstanden?
Bei meiner ersten Performance habe ich Holzlatten wie einen grossen Rahmen vor dem Kunsthaus Zürich auf den Boden gelegt. An einem Montagmorgen liess ich dann 100’000 Metallstücke abkippen, die ich während einer ganzen Woche von 9 bis 12 Uhr und von 13 bis 17 Uhr in Säcke à tausend Stück abgefüllt habe.
Wie haben die Leute darauf reagiert?
Sie waren verunsichert. Es gab einen mittleren Aufruhr. Immer mehr Leute blieben stehen und wollten wissen, was ich da mache. Ich habe mit niemandem geredet, die Abzählerei war das absolute Nichts. An einem Morgen kam ein älteres Ehepaar vorbei. Ich sass auf einer Holzkiste, und der Mann ging ein paarmal um den Holzrahmen herum. Dann sah er plötzlich, dass hinten auf dieser Kiste, ohne dass ich davon wusste, «Import-Export» geschrieben stand. «Aha», sagte der Mann zu seiner Gemahlin, und sie waren zufrieden, weil sie vermeintlich einen Sinn hinter dieser Tätigkeit entdeckt hatten.
Sie haben einmal gesagt: «Die Lebenserfahrung ist wie ein Becken, jeder Tropfen verändert die Farbe und damit die Gesamtheit deines Daseins, sofern du offen bist für uner- wartet Neues.»
Ich glaube, das ist schon so. Man ist offen für neue Dinge und diese verändern etwas Grösseres oder Kleineres, das man erlebt hat. Das ändert sich auch, indem man es auf sich einwirken lässt.
Diese Offenheit hat Ihr Leben geprägt. Gibt es Momente der Ruhe in Ihrem Leben?
Es gibt Momente der – wie soll ich sagen – der Leere. Das ist für mich sehr wichtig, vor allem, wenn ich mich als hoffnungsloser Schreiber betätige. Hier liegt mein Roman (Dieter Meier weist auf verschiedene Stapel mit Papieren auf einem grossen Tisch). Den werde ich wohl nie fertigstellen. Ich war in den letzten Jahren mit meiner Schokoladefabrik stark beschäftigt, und meine Schreiberei braucht immer tagelangen Anlauf.
Wo finden Sie denn überhaupt Langeweile?
Wenn ich in Argentinien auf einer einsamen Farm bin, dann geniesse ich die Langeweile, und wie ein Wunder kommt dann auch eine Idee auf mich zu.
Ideen aller Art haben Sie auch mit Ihrem musikalischen Partner Boris Blank umgesetzt. Das Buch «Oh Yeah» (siehe Seite 6) über 40 Jahre Yello, der erfolgreichen Band von Ihnen und Blank, zeigt zwei Menschen, die grossen Spass miteinander haben.
Ja, aber wir haben eine unterschiedliche Form von Spass. Boris ist ein Besessener, ein Erfinder. Es geht ihm nicht um den Song als Song, sondern um die Klänge, in denen er sich permanent neu erfindet. Dieser Prozess dauert monate-, oft jahrelang, bis ich endlich wieder einmal ins Studio zugelassen werde, sozusagen als Hasardeur in den Klängen von Boris.
Wie geht die Arbeit dann weiter?
Ich tauche ein in die Klangwelten von Boris, oft alleine mit Endlosschleifen, und beginne mit einem unverständlichen Singsang. Plötzlich entsteht bei mir, wie zugeworfen, ein Satz und eine Melodie. Meine Botschaft ist der Gesang, in den man eintauchen und seine eigene Inspiration finden kann.
Jeder Song ist eine neue Herausforderung. Finden Sie immer die richtigen Worte?
Ausgerechnet «Oh yeah», unser grösster Hit, war ein solches Stück super minimalistischer Dada: Ich stellte mir vor, auf einer tropischen Insel am Strand zu sitzen und den ersten Drink des Abends zu mixen. Eine rote Sonne taucht ins ferne Meer, ich nippe an meinem Glas, eine leichte Brise bringt kühle Luft, und die Stimmung könnte nicht besser sein. So entstand der Text: «The sun – beautiful / The moon – even more beautiful». Das wars dann, bis tief in die Nacht hinein. «Oh Yeah!»
«Oh yeah» und viele andere Songs von Yello haben Humor. Eine Ansage an den Ernst des Lebens?
Sicher ist das so. Humor ist eine sehr wichtige Sache. Ohne Humor kein Leben. Vor allem soll man auch über sich selber lachen können.
Die Basis Ihrer Zusammenarbeit mit Boris Blank ist eine langjährige Freundschaft. Wie würden Sie diese beschreiben?
Wir ergänzen uns hervorragend: Boris ist ein geradezu süchtiger Klangmaler, und ich darf alle paar Jahre in seinen Klängen herumtanzen.
Seit bald 40 Jahren sind Sie auch mit Ihrer Frau Monique verheiratet. Was hält Menschen so lange zusammen?
Wir haben beide unsere eigenen Projekte. Ich lebe überall auf der Welt, vor allem in Argentinien. Das Zusammensein mit der Familie ist für uns deshalb immer ein Geschenk und ein Privileg.
Sie sind Vater von fünf Kindern. Auch Grossvater. Gefällt Ihnen diese Rolle?
Ich bin tatsächlich glücklich verspielt und hoffe immer wieder, zu werden wie ein Kind.
Lassen Sie uns einen Sprung zurück machen. Wie kamen Sie dazu, in Argentinien eine Bio-Farm zu betreiben?
Als ich zu Beginn der Siebzigerjahre das erste Mal in Argentinien war, faszinierte mich dieses weite, grossartige Land und die Möglichkeit, biologisch anzupflanzen, weil man mit dem Produkt, das man will, dort ideale Voraussetzungen findet.
Sie produzieren unter anderem Wein.
Die Weintrauben sind ein gutes Beispiel, alles streng biologisch. Da wird nichts gespritzt. Die Rebstöcke wachsen in einer Steppe, in der es praktisch nie regnet. Dafür haben wir das Schmelzwasser aus den Anden. So hat es immer, was es braucht. Es gibt kein Ungeziefer, keinen Pilzbefall oder Vogelfrass. Unter diesen idealen Bedingungen lässt sich ein Stück Natur herstellen.
Ihr jüngstes Projekt ist Schokolade. Sind Sie Schokoladefan?
Ich war vorher kein grosser Schokoladeesser. Mir behagten all diese zugefügten Aromen und der hohe Zuckergehalt gar nicht. Ich kam zufällig zur Schokolade, dank eines Professors der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Er hatte ein völlig neues Verfahren zur sogenannten Kalt-Extraktion der Kakaobohne entwickelt. Dabei kann der ganze Gehalt aus der Bohne gewonnen werden, die wunderbare Aromen produziert. Bei der klassischen Methode des Röstens und Conchierens werden hohe Temperaturen eingesetzt, welche die eigentlichen Geschmacksstoffe fast ganz in den Kamin schicken und nicht in die Schokolade.
Und dann?
Dann habe ich in Wallisellen einen kleinen Testbetrieb eingerichtet. Nachdem wir gesehen hatten, dass es funktioniert, habe ich ein grösseres altes Fabrikgebäude entsprechend ausgebaut und Maschinen entwickelt, die es möglich machen, dass die Kakaobohnen zeigen können, wie wunderbar ihre natürlichen Aromen tatsächlich sind.
Sind Sie ein Genussmensch?
Genussmensch ist ein weites Feld. Natürlich gehe ich auch einmal in ein Restaurant essen, bin aber vor allem den Kartoffeln sprichwörtlich verfallen. Wenn man sie in die Pfanne gibt und mit ein bisschen Butter anbrät, eine Rösti oder einen Gratin zubereitet, ist das für mich schon beinahe eine Ekstase.
Einen Tick «gehobener» scheint Ihr Wunsch fürs Jenseits: ein perfekt gerührter Dry Martini Cocktail.
Für meine Autobiografie habe ich dazu ein Gedichtlein geschrieben: «Nur für Sekunden heiss ich Dieter / und freue mich als Untermieter / hier auf unserem Kleinplaneten / fröhlich eine Spur zu treten / auf die ich weiter gar nichts gebe / weil ich sonst nur an ihr klebe». In Prosa heisst es dann weiter, dass es im Himmel sehr wahrscheinlich keine Barmänner gibt, die den perfekten Dry Martini mixen. Aber ein steinkühles Bier wird mich im Jenseits hoffentlich erwarten.
Planen Sie immer noch, mit 80 Jahren in Las Vegas aufzutreten? Das ist ja schon vergleichsweise bald.
Das ist selbstverständlich eine vermessene und verrückte Ansage. Ich weiss nicht, ob das je passieren wird. Es kommt mir vor wie an der «documenta 72». Da habe ich eine gusseiserne Platte auf den Bahnhofplatz in Kassel einbetonieren lassen, auf der eingraviert war, dass ich 22 Jahre später exakt von 15 bis 16 Uhr dort stehen werde.
War diese Verpflichtung nicht ein Stress?
Es war eine Vermessenheit, die mich oft nervös machte. Man weiss ja nicht, ob man vorher überfahren wird oder angetrunken in eine Baugrube stürzt. Ich war sehr froh, als das dann vorbei war. Und bei Las Vegas ist es irgendwie ähnlich. Ich werde dort vielleicht nur mit einer Gitarre in einer kleinen Bar auftreten. Das weiss ich noch nicht.
Von wegen Stress: Sie sind eben 77 Jahre alt geworden. Bereitet Ihnen der Gedanke an die Vergänglichkeit Sorge?
Ich muss Bob Dylan zitieren: «Time is like a Jet Plane. It moves too fast». (Die Zeit ist wie ein Düsenflugzeug. Sie verfliegt zu schnell.) Deshalb muss ich 127 Jahre alt werden.
Das ist eine Ansage.
Das hat mir ein Wahrsager in London prophezeit. Er verlangte für seine Handlesekunst fünf Pfund. Ich habe ihn sofort mit zehn Pfund bestochen. Er starrte überrascht auf meine Hand: «So etwas habe ich noch nie gesehen. Du wirst der älteste Mann, weil du dich nach Japan zurückziehen und dort viel Fisch essen wirst.»
15 Leben in einem
Dieter Meier wurde am 4. März 1945 in Zürich geboren. An der Universität studierte er in den Siebzigerjahren endlos Jura ohne Abschluss. Er war Performance-Künstler und gründete zusammen mit dem Klangtüftler Boris Blank die international erfolgreiche Techno-Band Yello. Es zog Meier auch immer wieder zum Film – als Produzent, Darsteller und Regisseur. Parallel zu seiner künstlerischen Karriere ist Dieter Meier ein erfolgreicher Unternehmer, Landwirt und Investor. Er betreibt seit Ende der Neunzigerjahre Farmen in Argentinien und vertreibt Wein, Beef, Nüsse und Schokolade; bald auch von Hongkong aus in den Mittleren Osten und nach China und Japan. Er ist seit 1985 mit seiner Frau Monique verheiratet, Vater von drei Töchtern und zwei Söhnen und Grossvater von fünf Enkelkindern.
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