Beamter mit Berufsstolz
Nach einem schwierigen Start und einem Umzug wegen Armengenössigkeit fand Josef Steinmann in seiner Heimatgemeinde Wohlen AG sein Glück. Und seine Lebensstelle: Er wurde Chef desjenigen Amtes, das seine Familie in der Not unterstützt hatte.
«Schaut, dass ihr eine Stelle bei der Gemeinde, beim Kanton oder beim Bund findet», riet mein Vater meinen zwei jüngeren Brüdern und mir. Dort würden wir zwar nicht reich, hätten aber eine sichere Arbeit und sogar eine Pension, was damals noch nicht selbstverständlich war. Vater wusste aus eigener Erfahrung, wie wichtig ein geregeltes Einkommen ist. Mit der Velowerkstatt, die er mit seinem Bruder in Herisau führte, konnte er unsere Familie in der Krise der 1930er Jahre nicht ernähren. So schob uns die Wohngemeinde 1935 nach Wohlen AG ab – als «Armengenössige» musste unser Heimatort für uns aufkommen.
Wir waren längst nicht die einzigen, denen dies widerfuhr. Armut und Arbeitslosigkeit waren in jenen Jahren weit verbreitet. Doch für uns wurde der Umzug letztlich zu einem Glück. Mein Vater fand Arbeit in einer Fabrik und meine Brüder und ich brachten es später im Leben mit Fleiss, Sparsamkeit, einer guten Ausbildung und einem anständigen Beamtenlohn zu bescheidenem Wohlstand.
Hungrig zu Bett
Das Foto schoss ein unbekannter Fotograf ungefähr 1939 auf der Strasse. Mein Bruder Eugen und ich blicken den fremden Mann etwas misstrauisch an. Dass wir arm waren, sieht man sofort. Während des Krieges gingen wir oft hungrig zu Bett. Da es uns an Brot fehlte, tauschten wir Butter- und Confiseriemarken gegen solche für Brot, obwohl dies eigentlich verboten war.
Bei der Berufswahl hielt ich mich an den Rat meines Vaters und machte eine Lehre auf der Gemeindekanzlei und dem Notariat in Sarmenstorf. Mein Lehrmeister war streng, aber gut, sodass ich viel lernte. Auch meine Frau Gertrud kenne ich seit damals: Ihre Eltern führten die Sarmenstorfer Post, wo ich häufig zu tun hatte. Im ersten Lehrjahr verdiente ich 25 Franken pro Monat, im zweiten 30 und im dritten 75 Franken. Zahltag war vier Mal im Jahr. Nach der Lehre lag mein Lohn bereits bei 400 Franken und damit gleich hoch wie der Verdienst meines Vaters in der Fabrik.
Danach bildete ich mich auf verschiedenen Ämtern weiter, sodass ich eine umfassende Ausbildung in allen Bereichen der Verwaltung vorweisen konnte. Später wechselte ich nach Wohlen und trat schliesslich die Nachfolge jenes Armenpflegers an, der sich Jahre zuvor um unsere Familie gekümmert hatte – wie das Leben doch so spielt! Diese Arbeit wurde meine Lebensstelle: Ich blieb 43 Jahre mit Herzblut dabei und war zum Schluss Leiter der Sozialen Dienste.
Begegnungen auf Augenhöhe
Über meine Klientinnen und Klienten könnte ich viele Geschichten erzählen, schöne und traurige. Manchmal riefen mich die Leute auch abends privat an. Viele wollten mehr Rente, als ihnen zustand – als ob man die AHV einfach erhöhen könnte… Mit manchen musste ich auch über Familienplanung sprechen. Dass mein Amt Frauen die Antibabypille finanzierte, gefiel nicht allen. Auch hiess es, «der Steime» bezahle Flüchtlingen ihre Lederjacken, was natürlich nicht stimmte…
Für ganz schwierige Fälle bewahrte ich im Büro eine Flasche Schnaps auf, die vom Senioren-Waldumgang übriggeblieben war. Einige kamen wohl deswegen gern auf einen Schwatz zu mir. Mir war immer wichtig, meine Klientinnen und Klienten mit Respekt zu behandeln und ihnen alle Vorgänge genau zu erklären. Ich bin sicher, dass mir meine eigene Geschichte half, mich besser in ihre Lage zu versetzen.
Manchmal hatte ich es mit Politikern zu tun, die von der Sache keine Ahnung hatten, aber kraft ihres Amtes entscheiden konnten. Während wir Beamte Zeugnisse und Qualifikationen vorweisen müssen, brauchen Politikerinnen und Politiker bloss gewählt zu werden. Einige denken daher nicht weiter als bis zur nächsten Wahl. Als Beamte hingegen hatten wir auf einen vorbildlichen Lebenswandel zu achten, da uns der Gemeinderat alle vier Jahre im Amt bestätigen musste. Dafür waren wir Respektspersonen und die Bevölkerung vertraute uns.
Traumberuf Kondukteur
Als Bub war Kondukteur mein Traumberuf. Im Bähnli von Wohlen nach Bremgarten machte mir der Kondukteur mit seiner gebieterischen Stimme ebenso Eindruck wie die Tatsache, dass er die Wagentür zuwerfen durfte. Bei uns daheim war dies strengstens verboten … Zusammen mit meinen Brüdern reiste ich schon früh allein mit dem Zug ins Appenzellische zu den Verwandten. Meine Mutter hängte uns einen Zettel mit unserem Ziel um den Hals und der Kondukteur setzte uns beim Umsteigen in Zürich in den richtigen Zug – so machte man das damals. Später fuhr ich oft die ganze Strecke mit dem Velo.
1957 heirateten Gertrud und ich und genau neun Monate später kam unser Sohn zur Welt. Die Hochzeitsreise mussten wir verschieben, weil mein Vater am Tag nach unserer Heirat mit nur fünfzig Jahren an einem Herzinfarkt verstarb. Bis heute wohnen wir im Haus, das meine Eltern 1939 bauten. Wir bezogen es damals ausgerechnet am Tag der Mobilmachung: Den Karren mit unserem Hab und Gut zogen wir selbst, da alle Wagen und Pferde anderweitig im Einsatz standen. Wie meine Heimatgemeinde unsere Familie früher in der Not unterstützte, macht mich bis heute stolz. Auch deshalb ist es für uns keine Frage, dass wir in Wohlen bleiben wollen: Hier sind wir daheim.
Aufgezeichnet von Annegret Honegger
Mehr Geschichten von früher aus der Rubrik «anno dazumal»