Panik 2. Mai 2022
Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Kindheitserfahrungen, die sich nicht mehr gutmachen lassen.
Es ist wieder so weit. Der Termin steht fest, und ich bekomme meine Angst einmal mehr nicht in den Griff. Wie eine Welle überrollt sie mich. Noch in den Fingerspitzen setzt sie sich fest und schnürt mir die Kehle zu. Mein Magen rebelliert, als würde ich mit einem Lift in die Tiefe sausen. Das Herz klopft und ich spüre Schweissperlen im Gesicht. So muss sich Panik anfühlen. Nicht vor dem Krieg, nicht vor Corona. Aber vor dem Zahnarzt.
Was habe ich nicht alles versucht, um sie zu überwinden! Autogenes Training, Atemübungen bis in die Zahnhälse hinein oder Gedankenreisen in paradiesische Wunderwelten. Nichts hat je genützt. Stattdessen sehe ich meine Mutter, wie sie meinen schreienden jüngeren Bruder in den dunklen Praxiseingang schleppt. Und ich sehe mich, starr vor Angst und gegen die Tränen kämpfend, auf dem altertümlichen Zahnarztstuhl sitzen.
Noch als Sekundarschülerin – wie peinlich, das zu schreiben – ging ich vor jedem Zahnarztbesuch in die Kirche und befeuchtete meine Zahnreihen mit Weihwasser. Doch auch der katholische Zahnsegen war vergebens. Wenigstens rühmte sich der neue Schulzahnarzt, schnell zu sein. Meist stand man schon nach wenigen Minuten mit einer weiteren Amalgamfüllung wieder draussen. Der nächste Zahnarzt zu Beginn meines Berufslebens machte nicht lange Federlesens: Zähne wurden schnell einmal gezogen.
Meine Afrikajahre verdoppelten meine Zahnarztphobie. Bei der Behandlung in einem Wüstenspital hantierte der Mediziner mit einem Tretbohrer. Wasser gab es keines. Ich erinnere mich an meine Erschöpfung – weniger von den Schmerzen als von meiner Angst. Zurück in der Schweiz schaffte ich es nicht mehr, ein auch nur annähernd normales Verhältnis zum Dentisten-Handwerk aufzubauen – obwohl sich Zahnarztkunst und -gilde in der Zwischenzeit verändert hatten. Meine nächsten beiden Zahnärzte redeten mir jeweils gut zu. Doch ich spürte ihre leise Ungeduld. Kein Wunder bei dem Theater, das ich aufführte.
Dann wurde mein Zahnarzt pensioniert, und ich hatte mich mit seinem Nachfolger zu arrangieren. Dieser könnte locker mein Sohn sein. Was mich nicht daran hindert, auch unter seinen jungen Augen meinen Angstschweiss von der Stirn zu wischen. Er ist der Einzige in meinem Zahnarztreigen, der mich nicht mit aussichtslosen Ratschlägen wie «ruhig atmen» oder «ganz entspannen» zu beruhigen versucht. «Sie gehören zur zahnarztgeschädigten Generation», sagte er mir bei meinem ersten Besuch. Ich solle das doch einfach akzeptieren, ohne ständig dagegen ankämpfen zu wollen. Für diese Worte hätte ich ihn umarmen können.
Angst und Panik sind nicht kleiner geworden. Sie sind mir nur weniger peinlich. Mein neuer Zahnarzt hat Verständnis: Ich bin in einer dunklen Zahnarztzeit gross geworden und kann die Erfahrungen von damals nicht vergessen.
Dieser Text ritzt an meinem Stolz. Ich möchte ja kein Hasenfuss sein. Ich schreibe ihn im Namen meiner zahnarztgeschädigten Generation.
- Haben Sie auch panische Angst vor dem Zahnarztbesuch? Dann erzählen Sie uns doch davon. Wir würden uns freuen.
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Dazu zwei Erlebnisse:
Als ich als Militärpatient im Militärsanatorium kurte, tauchte mal ein Truppenzahnarzt auf. Da dachte ich mir: Wenn ich schon die Gelegenheit bekomme, gratis meine 3 noch vorhandenen Weisheitszähne ziehen zu lassen, dann ergreife ich sie – und meldete mich an. Der Zahnarzt untersuchte also mein Gebiss, ich erklärte ihm meinen Wunsch, er trat einen Schritt zurück, stemmte beide Hände in die Hüften und fragte scheinbar recht amüsiert: «Warum wollen Sie diese 3 Weisheitszähne ziehen? Haben Sie Schmerzen?» Ich verneinte – und gab den wahren Grund bekannt, nämlich dass mir der Schulzahnarzt 1 Weisheitszahn bereits gezogen habe, ein Termin für die anderen 3 damals schon feststand – und ich aus Angst gar nicht mehr hingegangen war. Denn unser Schulzaharzt war als «Ross» bekannt. Und wenn mal ein Kind gar laut stöhnte oder weinte, setzte es schon mal eine Ohrfeige ab. Der Truppenzahnarzt schüttelte den Kopf und sagte: «Diese 3 Weisheitszähne gehören noch zu den besten Zähnen, die Sie im Mund haben. Ihr Schulzahnarzt wollte vermutlich einfach verhindern, dass er so weit hinten im Mund arbeiten hätte müssen!» Dann flickte er mir den einen Weisheitszahn plus noch weitere andere und fragte so nebenbei, ob ich mit Blei arbeite. Denn die Löcher, die mir der Schulzahnarzt für Füllungen gebohrt hatte, waren alle oval. Ich antwortete: «Nein. Aber allen meinen Schulkameraden hat unser Schulzahnarzt ovale Löcher gebohrt; das war wohl sein Markenzeichen!»
Die 3 Weisheitszähne hatte ich übrigens noch bis nach meiner Pensionierung!