Vom Klassiker bis zum Bestseller: Seit dreizehn Jahren liest und bespricht die Leserunde von Pro Senectute Nidwalden Bücher. Die gemeinsame Lektüre erweitert den Horizont, verbindet und beglückt. In der Frühjahrssitzung sorgt ein Roman aus der Ukraine für grosse Gefühle – und lässt hoffen.
Text: Annegret Honegger; Bilder: Bernard van Dierendonck
Blau und Gelb. Zwei Kerzen in den Farben der Ukraine brennen in der Mitte des Kreises. Im Zentrum der heutigen Leserunde in Stans steht «Graue Bienen», der 2019 erschienene Roman von Andrej Kurkow. Darin schildert der ukrainische Autor den Alltag im vergessenen Krieg im Donbass.
Vergessener Krieg? Mitten in die Zeit der Lektüre fiel die russische Invasion. Plötzlich tauchten die Orte aus dem Roman in den Nachrichten auf. Denn die Hauptfigur Sergej Sergejitsch, ein frühpensionierter Hobby-Imker, lebt in der «grauen Zone», dem Landstrich zwischen den Fronten.
Wem kann man trauen? Wer ist Freund, wer Feind? fragten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer beim Lesen. Der Roman und der Krieg haben die Runde aufgewühlt. «Ich empfand oft Angst – und wollte doch wissen, wie es weitergeht», sagt jemand. Ihren Sitznachbarn hat beeindruckt, «wie Menschen in einer trostlosen, brutalen Umwelt ausharren». Eine Leserin überlegte, ob der Kampf für die Freiheit das Elend des Krieges rechtfertige. Und eine andere sagt: «Ich bin zwar nur eine alte Frau, aber ich würde mich wehren – mit allem, was ich habe.»
Diskutiert wird offen und respektvoll. «In den letzten dreizehn Jahren sind wir fast wie eine Familie geworden», sagt Elisabeth Claude-Degen, welche die Aktivitäten der Leserunde seit der Gründung koordiniert. Man spürt die Vertrautheit, die durch die gemeinsame Lektüre und die Gespräche gewachsen ist. Ein gegenseitiges Vertrauen, das auch dann trägt, wenn es auf viele Fragen keine einfachen Antworten gibt.
Manche sind seit dem Anfang dabei, neue Mitglieder bringen immer wieder frischen Wind und spannende Buchtipps. Der Austausch sei engagiert, kritisch und bereichernd, sagt Elisabeth Claude-Degen. Schliesslich sitze in der Runde «eine geballte Ladung Lebenserfahrung».
An Lese-Ideen fürs nächste Treffen fehlt es nie. Den 500 Seiten starken Roman von Pascal Mercier? Das schmalere Bändchen einer chilenischen Autorin? Oder doch «Derborence», das viele seit dem Französischunterricht lieben? Letzteres liesse sich mit einem Ausflug ins Wallis verbinden. Die Gruppe war schon öfter gemeinsam unterwegs – etwa auf Hesses Spuren im Tessin oder mit Gotthelfs Werken im Emmental.
In Andrej Kurkows «Graue Bienen» haben viele einzelne Passagen mit Leuchtstift oder Postit-Zettelchen markiert. «Diese Sprache, diese Bilder – fantastisch!», schwärmt jemand. Das Buch sei «ein Plädoyer fürs Leben, trotz allem». Und zeige, wie Kunst in Krisenzeiten Kraft, Trost und Hoffnung spende.
Auch bezüglich Ukraine. Denn Sergej Sergejitsch verlässt den Donbass zwar für einen Sommer, damit seine Bienen ihre Arbeit in Frieden verrichten können. Doch am Ende kehrt er in sein Dorf zurück, wo nur noch er und sein alter Schulkollege Paschka leben. Als Kinder waren sie Feinde. Jetzt werden sie trotz unterschiedlicher politischer Ansichten fast Freunde. So könnte Frieden beginnen.
Die Leserunde trifft sich von September bis Mai etwa alle sechs Wochen und diskutiert über Bücher, die gemeinsam ausgewählt werden. Neue Leserinnen und Leser sind willkommen. Mehr dazu und über alle Kurse, Veranstaltungen und Dienstleistungen von Pro Senectute Nidwalden unter Telefon 041 610 76 09, Mail info@nw.prosenectute.ch, nw.prosenectute.ch
Angebote in Ihrer Nähe finden Sie bei Pro Senectute in Ihrer Region. Sämtliche Adressen stehen vorne hier im Heft oder auf prosenectute.ch
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