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Vergilbte Zeitungsseiten 9. Mai 2022

Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von neuen Fenstern und einer Zeitreise in die Vergangenheit.

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

In der unteren Wohnung in unserem Generationenhaus müssen die Fenster neu gemacht werden. Seit einiger Zeit bereits bröckelt der Kitt, und die Scheiben werden auch nach gründlichem Putzen nicht mehr sauber. Zudem sind sie ein energietechnischer Sündenfall aus dem letzten Jahrhundert, als man es noch nicht besser wusste. Bei der Demontage der alten Sprossenfenster kommen in der Wand ein paar vergilbte Zeitungsseiten zum Vorschein. Unter ihnen ist der Anzeiger für den Amtsbezirk Seftigen vom 8. Dezember 1951 – drei Tage vor meiner Geburt. Ich streiche die Seiten glatt und beginne zu lesen: 

Die Burgergemeinde Wattenwil möchte im «Schattenhalb eine Jucharte Land verpachten», die «Schwellengenossenschaft II. Gürbebezirk» lädt zur ordentlichen Hauptversammlung ein, und die Spar- und Leihkasse Gürbetal bittet «die Kundschaft höflich, mit dem Zinsbezug und den übrigen Bankgeschäften nicht bis auf den letzten Tag des Monats zuzuwarten». Der Regierungsrat des Kantons Bern beschliesst nach 1928 zum ersten Mal wieder eine Erhöhung der Kaminfegertarife, und beim Betreibungsgehilfen in Gerzensee wird ein «in amtl. Gewahrsam befindliches Damenfahrrad» versteigert. 

Die Direktion für Landwirtschaft empfiehlt den Bauern dringend, wegen der Maul- und Klauenseuche im nahen Ausland ihre «Fremdarbeiter wenn irgendwie möglich nicht aus der Schweiz ausreisen zu lassen.» Wo das nicht möglich sei, müssten nach ihrer Rückkehr die «Effekten und die Leute selber einer Desinfektion unterzogen werden, bevor sie irgendwie mit einheimischem Klauenvieh in Berührung kommen. Als Verfahren eignen sich Waschen mit Warmwasser und Seife, einer warmen Sodalösung, oder noch besser, wo diese Möglichkeit besteht, ein Vollbad.» 

Nach dem amtlichen Teil folgen die Inserate: «Vergrössern sie ihre Festtagsfreude durch eine gute Frisur», bietet der Coiffeur seine Dienste an. Frl. Hanny Zimmermann offeriert auf Weihnachten «Festpackungen in Rauchwaren» und der Bäcker in Gurzelen empfiehlt «Spezialitäten in 1a Qualität» und sichert «gewissenhafte Bedienung» zu. Frau Wwe. A. Glauser verkauft in ihrem Elektro-Laden praktische Festtagsgeschenke und «Spängler Zimmerma & Suhn» versuchts mit Reimen: «»D’Husfrouesorge hei ihn interessiert, drum het är sich uf Hushaltartikel spezialisiert.» Bin ich tatsächlich in einer so ganz und gar anderen Zeit zur Welt gekommen? Ich fühle mich doch noch gar nicht so alt…

Ich erzähle der Kleinen, die mit mir die Zeitungsseiten umblättert, dass ich beim Ausbau zum Generationenhaus unserem Brauch entsprechend ebenfalls eine Schachtel in einer Zwischenwand versteckt habe – mit einem aktuellen Anzeiger, einem Brief und einem kleinen Engel, der die Menschen in diesem Haus behüten möge. Sie möchte unbedingt wissen, wo die Schachtel verborgen ist. Doch das weiss ich selber nicht mehr. Mir gefällt einfach die Vorstellung, dass dereinst in ferner Zukunft jemand diese Schachtel öffnen und eine Zeitreise zurück ins 21. Jahrhundert machen wird.

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Beitrag vom 09.05.2022

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