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«Ritals» von Gianmaria Testa Songs und ihre Geschichten

Gianmaria Testa, neben Paolo Conte berühmtester Cantautore aus dem Piemont, widmete sein Album «Da Questa Parte Del Mare» von 2006 ganz dem Thema Migration. Ein Thema, das in den italienischen Canzone schon immer eine grosse Bedeutung hatte.

Von Urs Musfeld

Mit seiner Künstlerkarriere hat sich Gianmaria Testa Zeit gelassen. Geboren 1958 als Sohn einer Bauernfamilie studiert er nach der Matur Jus, weil er die Welt gerechter machen will. Als er sein Studium nicht mehr finanzieren kann, landet er für mehr als 20 Jahre (bis 2007) als Bahnhofvorsteher in Cueno – zwischen Turin und Ventimiglia – und komponiert in seiner Freizeit. «An Bahnhöfen», sagt er, «kann man die Traurigkeit des Abschieds noch sehen. Man sieht sie in den Gesichtern. Und dann würde man gerne für diese Leute singen».

Erst im Alter von 37 veröffentlicht der Sänger und Gitarrist 1995 sein Debutalbum «Montgolfières» bei einem französischen Plattenlabel. Es folgen Auftritte, u.a. im Pariser Olympia, bevor ihm 2000 mit «Il Valzer Di Un Giorno» auch in Italien der Durchbruch gelingt. Seine Lieder leben von feinsinnigen Alltagsbeobachtungen, reich an wirkungsvollen Metaphern und getragen von Testas sonorer Sprechstimme.

2006 erscheint sein sechstes Album «Da Questa Parte Del Mare» («Von dieser Seite des Meeres»), welches zu seinen erfolgreichsten zählt. Das Schwarz-Weiss-Foto auf dem Cover zeigt eine Gruppe von Flüchtlingen am Meeresufer. Die Lieder erzählen von Migration, Flucht und davon, dass man Menschen letztlich nicht aufhalten kann. Wie aus einem Guss ist es als Antwort auf die Gleichgültigkeit der Europäer gegenüber den Mittelmeerflüchtlingen konzipiert. 

Flucht als Versuch, sich zu retten

«Es ist wohl das Schicksal der Menschen, immer wieder dorthin zu flüchten, wo man meint, dass es besser sein könnte. Wir, die Italiener, aber auch ganz Europa, wir sind doch selbst oft Flüchtlinge gewesen. Wir sind emigriert. Um 1890 sind um die 30 Millionen Italiener emigriert. Es gibt also ein anderes Italien ausserhalb von Italien. Und jetzt sind wir an der Reihe, die aufzunehmen, die kommen. Aber das ist doch keine Invasion. Das ist lediglich der Versuch der Menschen, sich zu retten. Wenn ich in Afrika leben würde, meine Kinder nicht ernähren könnte und zusehen müsste, wie sie sterben, dann würde ich auch lieber gehen und versuchen, sie zu retten», erklärt Gianmaria Testa später in einem Interview.

Die Idee des Albums hat sich 1992 während eines Badeurlaubs in Apulien entwickelt. Die Geretteten und die Toten aus der alltäglichen Presseberichterstattung seien ihm plötzlich «in Fleisch und Blut» erschienen und hätten ihn das Leiden der «illegal» eingereisten Migrantinnen und Migranten – der «clandestini» – mit einem veränderten Blick erfassen lassen: 

Entworfen ist das jazzig angehauchte «Da Questa Parte Del Mare» wie eine lange Ballade mit verschiedenen Tempi und verschiedenen Rhythmen, nicht nur musikalischer Art.

Da ist zu Beginn der Strom, der Strom der Männer und Frauen «mit dem versunkenen Blick», ihre Schritte sind schwermütig, aber unaufhaltsam («Seminatori di grano»/ «Weizensäer»).

Es folgt der Abschied, das Meer, dem man sich stellen muss, die Wut und die Enttäuschung des Migranten, der dazu gezwungen ist, sich als ‚clandestino‘, als illegal Einreisender, den verbrecherischen Schleppern des Mittelmeers anzuvertrauen: «Wie ein Dieb in der Nacht/ In den Händen eines Seeräubers» («Rrock»). 

Und nach dem Abschied taucht in «Forse qualcuno domani» das fatale Bild der endgültigen Entwurzelung auf, des Identitätsverlustes, eines Abschieds vom Land, vom Zuhause, von den eigenen Dingen und sogar dem eigenen Namen. 

Die Reise ist lang, gefährlich. Es ist eine Reise zu einem unbekannten, nur vorgestellten Ziel, und auf dem Grund dieses dunklen Meeres gibt es nicht die wohlklingenden Sirenen aus den Märchen; die Stimmen, die aus dem Wasser kommen, sind die Klagen der Ertrunkenen, ein Trauerlied in der Art eines trügerischen Schlafliedes («Una barca scura»).

Das Stück «3/4» ist der Traum, wie alles hätte werden können, wenn es keine Trennung gegeben hätte, ein kleines, intensives Liebeslied, das von der Vergangenheit erzählt und Zärtlichkeit und Sehnsucht vermischt.

Das Leben gewinnt immer

Aber es ist auch Platz für eine lustige Geschichte ganz normaler Menschlichkeit. Eine Geschichte, die in ihrer Tragik – eine unerwartete Geburt auf dem Markt an der Porta Palazzo in Turin – doch den Widerspruch eines Lachens und den Gedanken verbirgt, dass irgendeine Integration sicherlich möglich ist. Wenn nicht heute, dann morgen. Denn das Leben gewinnt immer, und das Leben ist stärker als alles andere («Al mercato di Porta Palazzo»).

«Ritals» handelt von einer Zeit, in der die Italiener selber Emigranten sind. Eine Widmung im Geiste an den verstorbenen französischen Schriftsteller Jean-Claude Izzo, bekannt durch seine Kriminalromane «Marseille-Trilogie». Izzo war ein Freund von Testa und Sohn eines Emigranten aus Salerno, ein «Rital» («Spaghettifresser», «Tschingg») wie die Franzosen – und nicht nur sie – in den 1950er-Jahren die nach Frankreich gekommenen italienischen Arbeitssuchenden abschätzig genannt haben:

Ritals

Eppure lo sapevamo anche noi
L’odore delle stive
L’amaro del partire
Lo sapevamo anche noi

Und das kannten auch wir
Den Geruch der Laderäume
Die Bitterkeit des Abschieds
Das kannten wir auch

E una lingua da disimparare
E un’altra da imparare in fretta
Prima della bicicletta
Lo sapevamo anche noi

Und eine Sprache zu vergessen
Und eine andere schnell zu lernen
Vor dem ersten Fahrrad
Das kannten wir auch

E la nebbia di fiato alla vetrine
E il tiepido del pane
E l’onta del rifiuto
Lo sapevamo anche noi
Questo guardare muto

Der Hauch des Atems an den Schaufenstern
Und die Wärme des Brotes
Und die Schande der Zurückweisung
Das kannten wir auch
Dieses stille Schauen

E sapevamo la pazienza
Di chi non si può fermare
E la santa carità
Del santo regalare

Und wir kannten die Geduld
Jener, die nicht innehalten können
Und die heilige Barmherzigkeit
Des heiligen Schenkens

Lo sapevamo anche noi
Il colore dell’offesa
E un abitare magro e magro
Che non diventa casa

Das kannten wir auch
Die Farbe der Beleidigung
Und ein armseliges Wohnen
Das niemals ein Zuhause wird

In poetischen Bildern reflektiert Gianmaria Testa auf «Da Questa Parte Del Mare» über die Völkerbewegungen unserer Zeit. Es ist mehr als nur ein nostalgisches Eintauchen in das italienische kulturelle Gedächtnis und die Liedtradition des Landes. Über das ganze Album hinweg stellt er kontinuierlich einen Zusammenhang her zwischen der Emigration von gestern und der Immigration von heute. Er redet über die Bedeutung von Worten wie «Land» oder «Heimat» und über das Gefühl der Entwurzelung und Verwirrung, das eine Ortsveränderung immer mit sich bringt. 

Sich öffnen für andere

In den Worten von Testa: «Verwurzelt zu sein bedeutet, sich nicht von anderen abzugrenzen. Wenn man weiss, woher man kommt, kann man sich für andere öffnen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was uns politische Parteien wie die Lega Nord erzählen. Und jeder, der in das Gebiet kommt, wo ich meine Wurzeln habe, der bereichert es mit seinen Erfahrungen, die über meine hinaus gehen. Ohne mich zu entwurzeln.» 

Gianmaria Testa nimmt in den 20 Jahren seiner Karriere sieben Studio- und zwei Live-Alben auf. 2016 stirbt der über seine Heimat hinaus beliebte Cantautore an einem Hirntumor.


Urs Musfeld alias Musi

Portrait von Urs Musfeld

© Claudia Herzog

Urs Musfeld alias MUSI, Jahrgang 1952, war während 39 Jahren Musikredaktor bei Schweizer Radio SRF (DRS 2, DRS 3, DRS Virus und SRF 3) und dabei hauptsächlich für die Sendung «Sounds!» verantwortlich. Seine Neugier für Musik ausserhalb des Mainstreams ist auch nach Beendigung der Radio-Laufbahn nicht nur Beruf, sondern Berufung.

Auf seiner Website «MUSI-C» gibt’s wöchentlich Musik entdecken ohne Scheuklappen zu entdecken: https://www.musi-c.ch/

Beitrag vom 28.05.2022

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