© Dirk Frischknecht

Der Begegnungsclown

Demenz ist eine schlimme Krankheit. Marcel Briand versucht, betroffenen Menschen ein Lächeln zu schenken. Oder vielmehr: Momente der Leichtigkeit.

Text: Roland Grüter; Foto: Dirk Frischknecht

Im ersten Stock des Evangelischen Pflege- und Altersheims in Thusis herrscht Nostalgie. Durch den Flur schallt «S’Landidörfli» von Marthely Mumenthaler, Robert Barmettler und Köbi Kessler. Der volkstümliche Schlager ist eine Liebeserklärung an die Zürcher Landesausstellung von 1939 – und ist folglich so alt wie manche Zuhörerinnen und Zuhörer, die sich im Aufenthaltsraum versammelt haben. «Ich kenn es Dörfli am Zürisee. Jodulidu. Es schöners Dörfli gets niene meh», singt das Trio voller Andacht und Wehmut. Und die Menschen wiegen ihre Körper im Takt der Musik sachte hin und her, manche summen die Melodie leise mit.

Aus dem Nebel der Demenz führen

Für einen Moment lichtet sich der Nebel, den die Demenzkrankheit über die Frauen und Männer gelegt hat. Die Augen werden wacher, Gesichter hellen sich auf oder schauen neugierig in die Runde. Und, so laut das Grammophon den Evergreen spielt: Es bewirkt berührende Momente der Freude, die so fragil sind wie Sonnenstrahlen. Sie sind ganz im Sinne von Marcel Briand, der neben dem Grammophon steht. Der 55-Jährige arbeitet seit 20 Jahren als Begegnungsclown, tritt vor Demenzbetroffenen auf. «Erreiche oder berühre ich Menschen mit meiner Arbeit, bin ich zufrieden», sagt er: «Das ist mir weit wichtiger als Applaus und Lachsalven.»

Marcel Briand hält regelmässig Referate zu «humorvollen Interaktionen» und moderiert Kongresse oder tritt als Kabarettist auf – auch hier stehen Begegnungen mit Menschen im Mittelpunkt. Einmal pro Woche aber setzt er die rote Nase auf, schlüpft in den übergrossen Kittel und in die riesigen Latschen und verbringt mit Demenzbetroffenen einen Tag. Er bringt in die Einrichtungen, die ihn engagieren, kein clowneskes Programm mit, so wie wir es aus dem Zirkus kennen. Stattdessen nimmt er am normalen Tagesablauf teil. Er gibt Essen aus, begleitet Bewohnerinnen und Bewohner in die Aktivierungstherapien, gesellt sich zu ihnen, wenn sie in ihren Sesseln die Zeit absitzen. Wo immer er den Menschen begegnet, geht er mit unverblümter Direktheit auf sie zu, ohne sich dabei aufzudrängen.

Oft setzt er im Dialog statt Worte seine tausend Utensilien ein, die er auf einem Wägelchen vor sich herschiebt. Er lässt die Menschen seinen Wuschelhund Paul kraulen oder Ballons kreisen. Manchmal streichelt er mit einer Feder Hände und Nacken, um diese zu plumieren, wie er sagt. Zwar begreift niemand, was er damit meint, aber die Streicheleinheiten gefallen trotzdem. Und immer wieder legt er eine seiner 6000 Schellackplatten auf das Grammophon und lässt damit Lieder der Vergangenheit erklingen – «O mein Papa», «Lueged vo Berge und Tal» –, welche die Menschen an bessere Zeiten er-innern und sie für kurze Zeit aus dem Dunst locken, in dem sie ihr Leben führen. «Die Demenzkrankheit lässt sich nicht schönreden», sagt er: «Ich kann ihr aber für kurze Augenblicke etwas Leichtigkeit geben.»

Auf Augenhöhe mit Betroffenen

Er kennt die Schwere der Demenz nur allzu gut. Vor seiner Karriere als Begegnungsclown war er Pflegefachmann für Psychiatrie und arbeitete selbst lange Jahre in entsprechenden Einrichtungen: letztmals in Corona-Zeiten, als seine Engagements durch den Lockdown nicht möglich waren. Langsam kehrt Normalität zurück in sein Leben, er wird wieder öfters gebucht. Die clownesken Markenzeichen, die rote Nase und übergrossen Schuhe, öffnen ihm die Herzen. Denn damit verbinden die meisten positive Eigenschaften. Wohlwollen, den Mut, alles und alle zu hinterfragen, naive Neugier, würdevolles Scheitern. «Vor allem Letzteres verbindet den Clown mit demenzbetroffenen Menschen: «Der Clown scheitert ständig, ist immer ein Löli. Dieses Gefühl kennen demenzbetroffene Menschen nur allzu gut – und sehen in ihm jemanden, der mit ihnen auf Augenhöhe ist. Das verbindet.»

Im ersten Stock des Evangelischen Pflege- und Altersheims in Thusis ist mittlerweile Ruhe eingekehrt. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Marcel Briand kann sein Wägeli mit dem Grammophon, Paul und den anderen Siebensachen zurück in sein Auto rollen. Der Einsatz ist vorbei. Er ist davon überzeugt: «Humor ist das effizienteste Mittel, um sich mit Unzulänglichkeiten zu versöhnen – mit den eigenen, aber auch mit jenen der Welt.» Gerade jetzt, mit Blick auf die aktuellen Wirrnisse, sei das wichtig: «Denn ohne Humor werden Menschen schnell bitter.» Ein Lächeln kann nicht nur bei demenzbetroffenen Menschen kleine Wunder bewirken.


  • Mehr Informationen zu Marcel Briand finden Sie online unter nachttopf.ch.
  • Falls Sie ebenfalls in alten Zeiten schwelgen wollen: Hier können Sie sich «S’Landidörfli» von Marthely Mumenthaler, Robert Barmettler und Köbi Kessler anhören.

Beitrag vom 13.06.2022

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