Ein neues Leben – als Frau
Mit 63 Jahren beschloss Samuel*, fortan als Frau durchs Leben zu gehen. Drei Jahre später liess die trans Frau ihre Geschlechtsänderung offiziell eintragen. Ein Meilenstein. Sie erzählt.
Aufgezeichnet von Fabian Rottmeier
«Bin ich so weit? Wage ich den Schritt, um offiziell als Frau durchs Leben zu gehen? Es war im Dezember 2021, als ich mir diese Fragen stellte – und bejahte. Beim Zivilstandsamt meines Wohnortes waren nach einer Änderung im Zivilgesetzbuch (siehe Box) die ersten freien Daten verfügbar, um sein eingetragenes Geschlecht zu ändern. Den Termin am 6. Januar 2022 nahm ich alleine wahr. Mir war bewusst, dass es eine nüchterne Angelegenheit wird: im Büro erscheinen, Blatt in Empfang nehmen, Erklärung unterschreiben, fertig.
Ich entschied mich für den Vornamen Nicole* – die Wahl meiner Eltern, falls ich 1955 als Mädchen zur Welt gekommen wäre. Den Namen nutzte ich bereits seit meinem schrittweisen privaten Coming-out vor sechs Jahren.
Der Gang zum Zivilstandsamt war für mich Abschluss und Meilenstein in einem. Seither bin ich zufriedener. Vorbei sind die Zeiten, als ich im Zug in unangenehme Situationen geriet, weil mein Halbtax-Foto sich nicht mit meiner Erscheinung deckte. Dass der Staat meine Geschlechtsänderung seit 2022 gutheisst und mich damit indirekt auch gegen Andersdenkende verteidigt, gibt mir Halt und Stärke. Erst im Alter von 59 Jahren sprach ich erstmals ausgiebig über meine Transidentität. Eine berufliche Krise, die zu einer krankheitsbedingten Auszeit führte, brachte mich 2015 zu einem Psychiater. In diesem geschützten Rahmen erzählte ich, wie ich hie und da Damenstrumpfhosen oder Frauenunterwäsche unter den Jeans tragen würde, weil es sich so besser, sinnlicher und schöner anfühle. Ich schämte mich jedoch immer dafür.
Mein bislang unterdrückter Wunsch, eine Frau zu sein, werde nicht vergehen, sagte der Psychiater. Ich konnte es kaum glauben. Lieber hätte ich von ihm gehört, dass wir mein «Problem» nach 30 Sitzungen gelöst hätten. Am meisten bangte ich um meine Ehe – die meisten Partnerschaften zerbrechen, wenn jemand sein Geschlecht wechselt.
Neues Gesetz erleichtert Transition
Seit 2022 können in der Schweiz Menschen mit Transidentität oder einer Variante der Geschlechtsentwicklung dank einer Gesetzesänderung ihren Geschlechtseintrag ändern lassen – von «männlich» zu «weiblich» oder andersrum. Auch eine Anpassung des Vornamens ist nun mit der schriftlichen Erklärung beim Zivilstandsamt unbürokratisch möglich. Davor war ein kostspieliger Gang vors Gericht nötig gewesen – und u.a. auch ein psychiatrisches Gutachten. Heute reicht die innerliche Überzeugung, nicht dem im Personenstandsregister eingetragenen Geschlecht zuzugehören. Die Kosten betragen 105 Franken.
Dass meine Ehefrau zu mir hielt und wir noch immer zusammen sind, ist wunderschön. Sie war sehr traurig und aufgewühlt, als ich ihr 2015 das erste Mal davon erzählte. Sie erinnerte sich aber, dass sie gewisse weibliche Seiten an mir immer geschätzt hatte – und war gewillt, mit mir einen gemeinsamen Weg zu finden. Das ist uns gelungen.
Meine ersten Schritte als Frau wagte ich in Deutschland – an einem Treffen von trans Frauen. Mein Psychiater hatte mich dazu ermutigt. Es war aufregend und schön, woraufhin ich vor fünf Jahren mit einer Hormontherapie begann. Eine Geschlechtsoperation kam für mich nicht infrage. Mein Lehrberuf hat mir ein Outing stets verunmöglicht. Ich wäre damit wohl in existenzielle Not geraten. Deshalb liess ich mich 2019 frühpensionieren. Seither zeige ich mich auch der Öffentlichkeit als Frau. Mein privates Umfeld hat grösstenteils positiv reagiert, doch es sind auch Freundschaften zerbrochen. Eine Bekannte weigert sich noch immer, mich mit Nicole anzusprechen. Ein langjähriger Freund meinte, ich solle mich doch einfach als femininer Mann akzeptieren. Spannend ist, dass ich im Supermarkt komplett anders begrüsst und angeschaut werde wie zuvor als Mann mit schütterem Haar.
Die Transition ist ein kompletter Neubeginn. Es ist viel mehr als bloss die richtige Perücke zu wählen und ein Hormonpflaster anzubringen. Es geht immer um die eigene Identität: Wer bin ich? Dank der Hormonbehandlung fühle ich mich psychisch unverhofft viel besser. Meine Brüste wuchsen altersbedingt nur sehr bescheiden. So liess ich sie schliesslich operativ vergrössern. Seit sechs Jahren lasse ich mir meine Barthaare entfernen, weil der Bart durch die Hormontherapie nicht weggeht. Ein weiteres Problem im Alter: Graue Haare müssen per Strom an der Wurzel zerstört und ausgerupft werden. Ein schmerzhafter Prozess. Im Grunde genommen bin ich, wenn ich mich nackt im Badezimmerspiegel sehe, körperlich irgendetwas zwischen Mann und Frau, seelisch jedoch grösstenteils weiblich.
Neben monatlichen Besuchen bei einer Psychotherapeutin nehme ich seit einem Jahr Logopädie-Unterricht. Ich möchte mir eine höhere Stimme antrainieren, mir die weibliche Sprachmelodie aneignen und meine Heiserkeit loswerden. Daneben spreche ich regelmässig mit einer Sexualtherapeutin, denn die hormonelle Umstellung liess meine Sexualität komplett einschlafen: keine Lust, keine Erregung. Alles war zu Beginn durcheinander. Das hat mich gekränkt. Zeitweise waren nicht einmal mehr sexuell lustvolle Gedanken möglich.
Oft habe ich mit meiner Therapeutin darüber geredet, ob mir das Alter den Schritt zu meinem neuen Leben erleichtert hat – oder nicht. Ich bin unschlüssig. Was ich weiss: Ich bin glücklich, dass ich nun als Frau leben darf, gleichzeitig aber traurig, dass ich nie eine junge Frau sein konnte. Ich hätte vieles anders erlebt, wäre attraktiver und ‹sichtbarer› gewesen. Andererseits bin ich mir bewusst, dass ich in den Siebzigerjahren als psychisch gestörter Freak betrachtet worden wäre, hätte ich die Transition damals gewagt. Meinen Beruf hätte ich auch nicht ausüben können. Es wäre also eine denkbar schlechte Zeit für ein Outing gewesen. So versuche ich, mein früheres Leben als Mann so zu würdigen, wie es war. Das gelingt mir nicht immer gleich gut. Eine Transition kann ich denn auch niemandem empfehlen. Sie ist zu anstrengend, beängstigend und belastend. Aber: Sie ist für Personen wie mich überlebenswichtig – und nun von Staates wegen akzeptiert. Ich freue mich auf mein zweites ‹Leben› als Frau.»
*Name geändert
- Eine weitere spannende Lebensgeschichte: Wie sich der heute 82-jährige Franzose Daniel Pestel im Algerienkrieg mit einem Wildschwein anfreundete.
- Die Tösstalerin Imai Dah-Steger wiederum zog vor fast fünfzig Jahren als Krankenschwester nach Afrika.
Ein berührender Einblick in ein Menschenleben. Wie nah und doch verschieden die Wege zum Glücklichsein sind. Berichte wie dieser spiegeln oft – in meinem Fall ist dies der Fall – aus dem eigenen Leben. Es tut einfach nur gut zu sehen, dass man nicht allein ist mit all den Fragen um das eigene Frausein. Und – es macht Mut Veränderungen anzunehmen und dranzubleiben.