Von Pöstlern und Bauern anno dazumal
Ruth Dubs‘ Grosseltern und Eltern waren Posthalter in Stallikon, einem kleinen Dorf im Reppischtal hinter dem Zürcher Üetliberg. Dort verbrachte die heute 75-Jährige fast ihr ganzes Leben. Sie besitzt eine umfangreiche Sammlung mit Fotografien und Postkarten von ihrem Wohnort und ihren Vorfahren.
Heuen ist manchmal ein Wettlauf gegen das Wetter. Bei uns im Reppischtal wussten wir nie, wann uns der nächste Regenguss oder ein Gewitter überraschen würde. Unsere einzige Wetterprognose war der Grossvater, der auf den nächsten Hügelzug stieg, um nach Regenwolken Ausschau zu halten.
Das Foto zeigt meine Grosseltern Amalie und Emil Baur-Stutz – in der Mitte – sowie meine Urgrossmutter Seline Stutz beim Heuen vor über hundert Jahren. Die Kinder könnten Verwandte zu Besuch aus dem Bernbiet sein, den Herrn neben dem Gespann mit den beiden Kühen kenne ich nicht. Heuen bedeutete damals viel Handarbeit, bis erste Maschinen wie ein «Heuwender» etwas Entlastung brachten.
Das Bild stammt aus einem meiner Alben, in denen ich alte Aufnahmen und Postkarten meiner Vorfahren und meiner Wohngemeinde Stallikon ZH sammle. Hier habe ich fast mein ganzes Leben verbracht. Blättere ich in den Bänden, so staune ich, wie sehr sich unser kleines Bauerndorf seit anno dazumal verändert hat.
Posthalter in vierter Generation
Meine Grosseltern betrieben einen kleinen Landwirtschaftsbetrieb mit fünf Kühen und waren in vierter Generation Posthalter im Dorf. Mein Grossvater gehörte zu den ersten, die Auto fahren konnten, und fuhr ab 1930 das erste Postauto auf der Linie von Stallikon nach Zürich-Triemli. Vier Kurse pro Tag bediente er mit dem schwarzen Buick mit acht Sitzplätzen für Passagiere, eine einfache Fahrt kostete 60 Rappen.
Briefe und Pakete stellten meine Grosseltern auf langen Märschen sommers und winters in alle Weiler und Höfe in der Umgebung zu, auch die steilen Hänge der Hügel hinauf bis zum Albiskamm. Zwei Mal am Tag galt es diese Tour zu absolvieren. Mich beeindruckt, wie viel die Menschen damals krampften. Ferien waren natürlich ein Fremdwort. Aber niemand beklagte sich, schliesslich hatte man keine Wahl: Man arbeitete, um zu überleben.
Wegen der vielen Arbeit stellten die Grosseltern einen jungen Briefträger ein. Dieser verliebte sich prompt in ihre Tochter und wurde mein Vater. Später übernahmen meine Eltern den Postbetrieb. Mein Grossvater brachte meinem Vater das Autofahren bei. Als Postautoprüfung genügte eine Fahrt mit dem Experten nach Bern.
Tag und Nacht im Einsatz
Ich kam als Einzelkind 1947 genau am zehnten Hochzeitstag meiner Eltern zur Welt, in der Wohnung über den beiden Garagen mit den Postautos. Nach der Sekundarschule lernte ich Arztgehilfin und war glücklich in meinem Beruf. Doch bereits mit 26 holte mich meine Mutter nach einem Unfall heim nach Stallikon. 18 Jahre lang pflegte ich sie, später auch meinen Vater und meine Tanten. Unterstützung durch die Spitex gab es damals noch nicht, so war ich Tag und Nacht im Einsatz.
Dass ich meinen Beruf aufgeben musste und kein eigenes Geld mehr verdiente, war bitter. Aber so gehörte sich das früher: Wenn die Eltern etwas verlangten, hatte man zu gehorchen und die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. Als Tochter sowieso. 1990 starben beide Eltern im Abstand von drei Monaten.
Heute wohne ich allein im Haus, das mein Grossvater damals baute. Die Räume, die früher die Postbüros belegten, vermiete ich einer Bäckerei, die seit einigen Jahren auch die Post-Agentur betreibt. Ich bin und bleibe also mit der Post verbunden. Mit der Autonummer des ersten Postautos meines Grossvaters von anno 1930 fahre ich immer noch herum und bin stolz darauf: ZH 4094.
Aufgezeichnet von Annegret Honegger