Drei Männer im Schneesturm (Kapitel 3.2) Aus «Schneesturm im Sommer»
Von diesem Augenblick an wurde unser bisher so offenes Verhältnis zueinander peinlich gespannt. Wir wussten alle drei, dass der Unglückliche, der dableiben musste, verloren war, wenn kein Wunder geschah, weil es fast unmöglich schien, die Hütte zu finden, und weil der Zurückgebliebene selbst dann, wenn ich sie nach unvermeidlichen, zeitraubenden Irrgängen gefunden hätte, bis zu meiner Rückkehr es nicht aushalten würde. Welcher von beiden aber sollte nun dableiben?
Ich konnte nicht hoffen, dass sich der eine für den andern freiwillig aufopfern würde, dazu waren sie bei aller Kameradschaft denn doch zu wenig eng befreundet; ausserdem durfte von so nüchtern denkenden, mitten im Erwerbsleben stehenden Männern ein derart seltener Edelmut auch gar nicht erwartet werden. Die Entscheidung blieb mir überlassen, wie sich bald genug herausstellte, die furchtbarste Entscheidung, die ich jemals zu treffen hatte. Beide waren gefestigte, selbstständige Menschen zwischen dreissig und vierzig Jahren, von der äusserlich herben, im Grunde aber recht gemütvollen Art, wie man sie unter der einheimischen Bevölkerung überall trifft. Otto betrieb eine Möbelschreinerei, Karl war Drogist. Sie befanden sich in guten Verhältnissen und besassen im Dorfe ein beträchtliches Ansehen. Ich selber war der neue, etwas liederliche Fotograf, der lieber Tiere und Berge aufnahm als Brautpaare und Vereinsausflügler. Ohne viel mehr voneinander zu wissen als eben dies, hatten wir uns gelegentlich im Wirtshaus getroffen, unsere gemeinsame Freude an der Bergwelt entdeckt, über Touren geplaudert und dann zusammen diese Wanderung unternommen.
Im Verlaufe der letzten drei Tage nun waren wir einander etwas näher gekommen und hatten Schmollis gemacht, wie sich das in einsamen Berghütten unter Männern, die aufeinander angewiesen sind, ohne Weiteres ergibt. Sie gefielen mir beide, aber erst jetzt, da sie auf der Waagschale lagen und ich das Zünglein spielen sollte, das über Leben und Tod entscheidet, wurde mir bewusst, wie ungenau ich sie kannte und wie schwierig es war, aus mehr als persönlichen Gründen einen dem andern vorzuziehen.
Karl, von mittlerer Grösse, mit einem schmalen Gesicht und wachen, rasch blickenden Augen, war vielleicht etwas intelligenter als Otto, dabei sehr bescheiden, wenigstens mir gegenüber, obwohl er offenbar viel gelesen hatte und zum Beispiel von Gebirgsbildungen, Mineralien, Pflanzen mindestens so viel wusste wie ich. Er litt jetzt innerlich wohl noch mehr als Otto und verriet deutlicher, wie unbeständig er zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankte. Er fror auch am ärgsten und lag, auf einen Ellbogen gestützt, die Hände in den Hosensäcken, mit gesenktem Kopf oder leicht erhobenem, gequält forschendem Gesichte zitternd da.
Otto war etwas kleiner und fester, dabei vitaler, warmherziger. Er hatte vor unserem Aufbruch eine vorzügliche Flasche gestiftet, dann im Rucksack viel gute Dinge mitgetragen und uns mit einer Freigebigkeit davon angeboten, die man nirgends mehr zu schätzen weiss als im Gebirge. Zuletzt war er trotz seiner kräftigen Natur nicht ohne grosse Mühe mitgekommen und nach dem Absturz mit dem gefährlicheren, schmerzlicheren Bruche liegengeblieben. Seine kummervoll brütende Miene stand zu dem sonst so heiteren Ausdruck seines selbstbewussten runden Gesichtes in einem Gegensatz, der mir ans Herz griff.
Kann man entscheiden, welcher von zwei ungefähr gleichartigen Menschen, die man nicht schon in allen möglichen Lagen genau kennengelernt hat, der bessere, wertvollere ist? Im Alltag macht man sich das leicht und tut es je nach dem Standpunkt, den man einnimmt, aber wenn Leben und Tod davon abhängen, kann es nur vom höchsten Standpunkt ausgeschehen. Wie rasch sagen wir doch im täglichen Leben, der und jener sei nichts wert! Irgendeiner gefällt uns, weil er eine gewinnende Fratze hat oder uns Honig ums Maul streicht, und für diesen gäben wir drei andere hin. Und wer nimmt sich die Mühe, nach Verdiensten und verborgenen guten Eigenschaften auch nur zu fragen, wenn er einen vor sich hat, der ihm missfällt? Nichts ist schwieriger und nichts wird leichtfertiger gehandhabt als das Urteil über einen Menschen, auch wenn er unser Nächster ist. Wir sind darin grauenhaft ungerecht, bald aus Dummheit oder Hochmut, bald aus lauter Bequemlichkeit. Wohl uns, dass wir unsere leichtfertigen Urteile nur vor unserem eigenen abgestumpften Gewissen und nicht vor einer unerbittlichen höchsten Instanz verantworten müssen!
Ich ging nun mit einer Zuversicht ans Werk, die wohl nicht ganz ehrlich erscheinen mochte. «Vorerst müssen wir hier weg», entschied ich. «Wenn der Schnee da oben noch weiter wächst, kann er auf der trockenen Unterlage am Ende doch abrutschen. Ich wundere mich überhaupt, dass wir nicht mit dem ganzen Schneehang da unten angekommen sind. Vielleicht finde ich auch eine etwas geschütztere Stelle, ich will nachsehen, habt einen Augenblick Geduld!» Ich stieg eilig nach links hinunter und schlug einen weiten Halbkreis, fand aber nichts Geeigneteres als einen kleinen ebenen Absatz, wo man zwar nicht geschützt, aber doch wenigstens bequem liegen konnte. Als ich weitersuchend nach rechts wieder zum Felshang hinaufgestiegen war und ihm entlang der Unfallstelle zuging, fiel es mir in dem rasenden dichten Gestöber schon auf diese kurze Entfernung so schwer, die Kameraden zu finden, dass ich rufen musste.
Beide antworteten und sahen dann, als ich an sie herantrat, qualvoll gespannt zu mir auf. Sie hoben sich nur noch mit dem Kopf und einem Schulterstück vom Schnee ab, so stark waren sie schon zugeschneit. Ich hob ohne lange Erklärungen den Nächsten, Otto, mit beiden Armen auf, und er legte mir, stöhnend vor Schmerz, einen Arm um den Nacken. Mit meiner gequetschten Hüfte und bei meiner Müdigkeit aber kam ich nun so schwerfällig vorwärts, dass ich nicht nur meine unbestimmte heimliche Absicht aufgeben musste, beiden zugleich von hier aus weiterzuhelfen, sondern schon zweifelte, ob ich auch nur einen von ihnen retten könne.
Was nun geschah, während ich beide nacheinander etwa hundert Meter weit hinabtrug, das mag ich nicht nur flüchtig berichten, ich muss die beiden mit ihren eigenen Worten reden lassen – zu meiner Rechtfertigung. Wie sie sich benahmen und was sie sagten, das weiss ich noch so genau, als ob es gestern geschehen wäre, ich habe jedes ihrer Worte auf die Waagschale gelegt.
Otto begann eindringlich zu klagen: «Herrgott, dass das nun so enden muss! Bis dahin ist alles so gut geraten, und jetzt muss uns das passieren … Ich weiss nicht, was meine Frau tun würde, wenn ich nicht mehr zurückkäme. Es ist eine liebe Frau, das kann ich dir schon sagen … schade, dass du sie nicht kennst … hast sie nie gesehen?»
«Vielleicht schon», sagte ich, «aber ich hätte sie ja nicht als deine Frau erkannt.»
«Solltest sie kennenlernen, du!», fuhr er fort. «Hättest überhaupt schon lang einmal zu uns kommen sollen. Ich habe allerlei, was dich interessieren würde, zum Beispiel eine Sammlung von schönen alten Stichen … ich sammle sie aus Liebhaberei, weisst du … Aber was nützt das jetzt, es ist ja alles aus, fertig!»
«Ach was! So rasch gibt man sich nicht auf!», erwiderte ich. Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er lebhaft: «Wenn du das fertigbrächtest, wenigstens einen von uns hinabzuschleppen, das wäre doch allerhand … das hättest du nachher nicht zu bereuen!»
«Zuerst den einen, dann den andern», entgegnete ich.
«Ja ja, schon recht … du weisst genau, wie es steht.» Nacheiner kurzen, bedrückenden Pause blickte er mich verzweifelt an und sagte: «Weisst du, es will mir ja nicht in den Kopf, aber einer muss dran glauben.»
Ich widersprach abermals, doch er ging nicht darauf ein und begann, zwischen seinen abgebrochenen Sätzen immer wieder keuchend oder stöhnend vor Schmerz, weiterzuklagen: «Das hab ich mir nicht träumen lassen, dass ich jemals in eine solche verfluchte Lage geraten könnte. Da hat man gearbeitet und immer ein wenig Glück gehabt, man hat ein schönes Geschäft, eine Familie, eine Frau, wie es keine zweite gibt, Kinder, den Peter und mein Anneli, ein Schatz, ist vor drei Wochen zehnjährig geworden … der Peter ist vierzehn und besucht die Handelsschule … Dann lebt noch mein alter Vater bei uns … Und nächstes Jahr wollten wir ein Wohnhaus bauen, wir haben uns alle darauf gefreut …» Er bewegte mitkrampfhaft verkniffenen feuchten Augen langsam den Kopf hin und her, dann schien er, düster vor sich hinstarrend, einem Gedanken nachzuhängen. Plötzlich sah er mir wieder ins Gesicht. «Christoph, ich mache dir einen Vorschlag», begann er in einem neuen, entschlossenen, wenn auch immer noch gequälten Ton. «Du bist kein Geschäftsmann, ich weiss es, hast ein schmales Einkommen und wirst nichts Rechtes erspart haben. Aber ohne Geld kommst du auf die Dauer nicht aus. Ich helfe dir, du … und du hilfst mir, bringst mich hinab … ich lege dir auf der Bank ein Guthaben an, fünftausend…»
«Mach keine Sprüche!», unterbrach ich ihn. «Ich versuche, euch beiden zu helfen.»
Zum Autor
Meinrad Inglin (1893–1971) Sohn eines Goldschmieds, Uhrmachers und Jägers, wurde mit siebzehn Jahren Vollwaise. Uhrmacher- und Kellnerausbildung, trotz fehlender Matura Studium der Literaturgeschichte und Psychologie in Bern, Genf und Neuenburg. Tätigkeit als Zeitungsredaktor, während des Ersten und Zweiten Weltkriegs Offizier im Grenzdienst. 1922 als Journalist in Berlin, danach als freier Schriftsteller in Schwyz. Für sein Werk (vor allem Romane und Erzählungen, einzelne Aufsätze, Notizen und eine Komödie) wurde Inglin vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Grossen Schillerpreis und dem Gottfried-Keller-Preis.
Wir stiessen auf meine Spur, wo ich vorhin durchgegangen war, aber ich wusste schon wieder nicht, ob die Stelle, die ich mir gemerkt hatte, rechts oder links lag; ich legte Otto in den Schnee und suchte sie links, fand sie aber nicht, kehrte um und trug Otto nach rechts hinüber.«
Da hast du es!», sagte er niedergeschlagen. «Bist doch eben noch da gewesen und findest dich schon wieder nicht mehr zurecht … es ist hoffnungslos, man sieht in dem verdammten Sturm ja nichts. Und du willst eine Alphütte finden und weisst noch nicht einmal, wo sie ist. Überhaupt … bis du mit einem von uns da hinunterkommst, ist es dunkel.»
Ich betrat den Absatz und bat Otto um Geduld.
«Christoph», sagte er, während ich ihn hinlegte, «sei vernünftig und überlege dir, was ich vorgeschlagen habe! Wirst später froh sein darum.»
Ich antwortete ausweichend und wollte ihn nun liegen lassen, um Karl zu holen, aber er hielt mit beiden Händen meinen Arm fest, blickte mich angstvoll forschend an und sagte: «Du, zehntausend …»
«Otto», erwiderte ich, «ihr seid mir beide gleich lieb. Wie sollte ich mich da entscheiden können, wenn es wirklich darum ginge, einen von euch preiszugeben! Ich werde alles versuchen, was mir möglich ist, um euch beiden zu helfen, glaub es mir!»
«Du kannst nur einem helfen», murmelte er.
Ich verliess ihn und stieg zu Karl hinauf, der mit dem Rücken gegen den Wind gekrümmt dasass und sich schlotternd in die Hände hauchte.
«Ich würde es nicht lange aushalten, glaub ich», begann er, als ich ihn wegtrug. «Hätten wir doch nur deinen Rat befolgt und wären auf dem Grat zurückgegangen.»
«Hätte ich nur darauf bestanden!», entgegnete ich.
«Ja … aber jetzt ist es so und lässt sich nicht mehr ändern. Eine so schöne Tour und ein so trauriges Ende … kann es einfach nicht verstehen.» Auch er schüttelte nun den Kopf oder bewegte ihn vielmehr langsam hin und her, wie Otto, und fuhr fort zu klagen, schmerzlich, doch ebenso still und unpathetisch, wie ein Mann dieses Schlages seine Fassungslosigkeit vor dem Unglück oder dem Tod eben kundgibt. Dann aber fragte er: «Meinst du wirklich, dass du einen von uns retten kannst?»
«Hoffentlich beide!», antwortete ich.
Er schüttelte ungläubig den Kopf. «Einer wird dableiben müssen», erwiderte er. «Ich würde gern sagen, dass ich bleiben will, ich habe ja auch wahrscheinlich den leichteren Bruch, aber …» Er schwieg nun so lange, dass ich selber fragen musste, um mehr von ihm zu erfahren.
«Du hast ja auch eine Familie, nicht?»
Er nickte und wischte sich mit dem verschneiten Ärmelrasch über die Augen. «Das ist es ja», sagte er. «Frau und Kind; ein Mädchen … und meine alte Mutter … Wenn ich denke, dass ich sie alle nicht mehr sehen sollte … sie hangen so an mir … ich darf gar nicht daran denken … Aber für Otto wäre es auch schwer, seine Familie würde viel an ihm verlieren …»
Ich erklärte ihm, dass ich versuchen werde, eine Schneehöhle zu bauen, und erwähnte Beispiele von Touristen, die in einer solchen Höhle sogar im Winter Schneestürme überstanden hatten. «Ich habe auch daran gedacht, mit euch hier oben zu bleiben, aber ich glaube nicht, dass ich ohne Schaufel mit diesem lockeren Schnee eine Höhle für drei zustande brächte.»
«Das hätte auch keinen Sinn», entgegnete er. «Du musst sowieso hinab, um Hilfe zu holen. Aber eine Schneehöhle, das wäre vielleicht eine Möglichkeit.»
Otto blickte uns stumm und düster gespannt an, als wir vor ihm auftauchten. Ich ging nun sogleich ans Werk und begann mit meinen Händen auf der Windseite des ebenen, etwa drei Meter breiten, ziemlich langen Staffelbodens Schnee aufzuhäufen, aber mein Unternehmen liess sich noch schwieriger an, als ich befürchtet hatte. Bergsteiger, die halb erfroren und erschöpft aus einem Schneesturm ins Tal hinabkommen, werden häufig gefragt: «Warum habt ihr keine Schneehöhle gebaut?» Wer dies aber unter ähnlichen Umständen versucht hat wie ich, der weiss, und wohl nur der weiss es genau, dass man daran verzweifeln kann. Der Schnee ballte sich nicht, er war so locker und feinkörnig wie trockener Sand; wenn ich einen zusammengescharrten Haufen formen und festigen wollte, fiel erganz einfach auseinander, aber wenn ich ihn nicht festklopfte, wurde er weggefegt und abgetragen. Ausserdem hatte ich kein Werkzeug und arbeitete mit meinen gefühllosen Händen wie mit lächerlichen kleinen Kinderschäufelchen; ich brachte so geringe Mengen zusammen, dass ich kaum hoffen durfte, einen Schutzwall aufzuwerfen, von einer Höhle gar nicht zu reden. Eine Höhle baut man nur mit Schnee, der sich ballt, oder wenn man sich mit dem Pickel in eine genügend tiefe alte Schneeschicht eingraben kann, sonst aber nicht.
Meine Kameraden sahen mir eine Weile zu, dann rief Otto hoffnungslos, mit einem gereizten Unterton: «Was nützt das? Hör doch auf!»
Ich war wirklich nahe daran, mein Unternehmen aufzugeben, besonders weil so viel wertvolle Zeit dabei verloren ging,a ber schliesslich brachte ich doch mit der Hilfe von dünnen Rasenziegeln und Steinen, die ich aus dem harten Boden pickelte und mit dem Schnee vermischte, einen ungefähr hufeisenförmigen niederen Schutzwall zustande. «So, und jetzt muss sich in Gottes Namen einer von euch hier ins Loch hineinlegen und warten», sagte ich beiläufig und leichthin.
Beide schwiegen, und ich blickte sie nicht an.
«Wer hierbleibt», fuhr ich fort, «ist kaum viel schlimmer dran als der, den ich mitzuschleppen versuche, wenn mir das überhaupt gelingt, was noch sehr fraglich ist. Wir lassen am besten das Los entscheiden. Ich nehme hier einen kleinen und einen grösseren Stein, wer den kleinen zieht, der bleibt. Im Fall beide den gleichen ziehen, müssen wir es wiederholen.» Ich legte die Hände mit den Steinen auf den Rücken, trat vor meine Kameraden hin und stand da wie mit dem Finger am Abzug eines angeschlagenen Gewehres, erschüttert von der Gewissheit, dass ich nicht beide retten konnte.
Die Entscheidung durch das Los aber täuschte ich nur vor; ich hatte sie schon früher bedacht, jedoch verworfen, weil ich auf meine eigene moralische Urteilskraft denn doch mehr Gewicht legte als auf den blinden Zufall. Es gibt Leute, die in einer so furchtbaren Lage auch den Zufall gläubig als höherem Fügung hinnähmen; ich weiss nicht, ob sie recht haben, und da ich es schon damals nicht wusste, vertraute ich meinem Urteil und nicht dem Zufall. Die blinde Zufallswahl hätte ich schon aus Achtung vor dem Schicksal der Kameraden als unwürdige Lösung und meinerseits als feige Kapitulation, als Absage an mein verantwortungsbewusstes, freies, urteilsfähiges Menschentum empfunden. Ich war entschlossen, Karl gewinnen zu lassen. Wer mir genau zugehört hat, wird beistimmen, und ich brauche dem armen Otto keine überflüssigen Anklagen nachzuschicken; er war immer noch besser als mancher, den ich kannte.
Beide zögerten, und ich musste sie auffordern, sich für diese oder jene Hand zu entscheiden. «So, Otto, vorwärts!», rief ich. «Rechts oder links?»
Er schwieg düster.
Aufmunternd blickte ich Karl an. Ich kannte seine religiöse Einstellung nicht, aber mir schien, dass er in diesem Augenblick ein Stossgebet zum Himmel sandte; entschlossen sagte er: «Links!»
Otto sah forschend zu mir auf und sagte unsicher: «Dann also rechts.»
Ich brauchte die Steine hinter meinem Rücken nicht zu wechseln und zeigte sie so vor, wie ich sie gehalten hatte, den kleinen in der rechten, den grösseren in der linken Hand. Karl hatte gewonnen. Dass sich meine Entscheidung mit diesem Zufall deckte, darauf tat ich mir nichts zugute.
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- Jeweils sonntags wird der Roman «Schneesturm im Hochsommer» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
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«Schneesturm im Sommer»
Meinrad Inglin ist einer der bekanntesten Unbekannten, seinen Namen kennen fast alle, seine Werke die wenigsten. Dabei ist er ein grosser Könner in einem grossen Spektrum unterschiedlicher literarischer Genres, stilistisch abwechslungsreich und sprachlich wohlkomponiert. «Schneesturm im Hochsommer» versucht, sein vielfältiges Schaffen abzubilden und damit einen literarisch hochinteressanten und oft überraschend aktuellen Schweizer Klassiker wieder breiter bekanntzumachen.
«Inglin ist seit Jahren genau der, von dem viele sagen, man hätte ihn ‹nicht auf dem Schirm› und der deshalb allen so präsent ist. Die Frage ist doch vielmehr: Was macht den Kerl so interessant, dass er nicht verschwindet? Er hat nie auf Effekt geschrieben. Er hat versucht, Verhältnisse zu beschreiben, wie sie sind. Eine Haltung, die nach dem ganzen postmodernen Klimbim auf eine neue Art interessant ist.»
Peter von Matt
Meinrad Inglin, «Schneesturm im Hochsommer».
Herausgegeben von Ulrich Niederer, Nachwort von Usama Al Shahmani, 256 Seiten, Leinenband, CHF 28.– (UVP), Limmat Verlag, Zürich
Umschlagfotografie: Dino Reichmuth, Unsplash
Typografie und Umschlaggestaltung: Trix Krebs
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
ISBN 978‑3‑03926‑021-8
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