Michèle Bowley (56) litt an einer unheilbaren Krebskrankheit. Eigentlich schien klar, dass sie in Kürze daran sterben wird. Doch dann kam alles anders.
Text: Roland Grüter
Man sagt, das Leben schreibe die schönsten Geschichten. Doch manchmal ist der Tod nicht minder kreativ. Das weiss Psychologin Michèle Bowley aus Erfahrung. Genau genommen hätte ihr Dasein schon längst enden müssen. Alle Vorzeichen verwiesen darauf: Denn kaum hatte sie sich von ihrem Brustkrebs erholt, wurden im Gehirn der Baslerin nicht operable Metastasen festgestellt. Der neue Job, die neue Wohnung – mit einem Schlag waren sie hinfällig.
Nach der Schockdiagnose im September 2021 recherchierte Michèle Bowley im Internet, wie viel Zeit ihr noch bleiben wird. Drei bis sechs Monate. Sie nahm das Herz in die Hand und beschloss: keine lebensverlängernden Therapien mehr. Stattdessen begann sie, ihre Liebsten und Freunde über ihren nahen Tod zu informieren, die Beerdigung zu organisieren. Sie liess einen Film drehen, den sie an der Abdankung zeigen wollte, und wählte den Platz aus, an dem ihre Asche verstreut werden sollte.
Doch Leben und Tod planten um. Statt im Jenseits zu dümpeln, sitzt sie an diesem Sommertag putzmunter am Tisch des Dalbehofs, einer Einrichtung des Bürgerspital Basels, das älteren Menschen allerlei Service bietet. Ihr Arzt überzeugte sie nach der Hiobsbotschaft, es mit Hyperthermie zu versuchen: eine Mischform zwischen Wärme- und milder Bestrahlungstherapie. Die Kombi zeigte Wirkung. Die Metastasen verschwanden, der Tod rückte ein gutes Stück in die Ferne. «Über diese Kehrtwende staune ich noch immer», sagt die 56-Jährige und lacht, so wie sie es immer tut, wenn sie über Leben und Tod spricht. Für beides findet sie liebevolle Worte, wie wir sie uns sonst für gute Freunde ein-fallen lassen. «Obwohl ich geschockt war, als man bei mir die tödlichen Metastasen feststellte: Ich habe mich keine Sekunde gegen mein Schicksal gewehrt, keine Energie mit Hadern verschwendet.»
«Mit Ballast lässt sich schlecht fliegen»
Stattdessen machte sie das, was sie schon zuvor tat, nur etwas konsequenter: Im Hier und Jetzt leben. Machte das, was ihr wichtig ist. Sie traf alte Freundinnen, mit denen sie den Kontakt verloren hatte, klärte, was es zu klären gab. «Denn Ballast lässt sich schlecht fliegen», sagt sie. Als sie einst ihre Mutter beim Sterben begleitete, fand sie in einer Meditation zu einem Bild, wie der Tod aussehen könnte: ein universelles Licht, in dem alle Menschen zusammenfinden. «Dieses Bild hat mir enorm geholfen. Teil von etwas Grossem zu werden: Weshalb sollte ich davor Angst haben?»
Einst eröffnete sie im Internet auch ein virtuelles Tagebuch. Darin fasste sie jeweils zusammen, wie es ihr ergeht. «Vorher war ich nonstop am Telefon und redete stundenlang über meine Krankheit, um andere zu beruhigen.» Anfangs wurden ihre Notizen ausschliesslich von Freunden und Bekannten gelesen. Doch der Kreis weitete sich, ein Post erreichte sogar über 750 000 Menschen. «In den Blogs geht es weniger um mich oder um mein Schicksal», sagt Michèle Bowley. «Im Zentrum stehen meine Erfahrungen mit dem Krebs, dem Sterben. Vielleicht können andere, die schwer krank sind, für sich Erkenntnisse daraus schöpfen.»
Start ins Leben 2.0
Für ihren offenen Umgang mit der Krankheit wurde sie unlängst von der Krebsliga Schweiz mit einer Ehrenmedaille geehrt. Vor allem eine Botschaft ist ihr wichtig: Das Leben geht selbst nach Schreckensmeldungen, wie sie sie erfahren musste, weiter. Noch heute steht in der Signatur ihrer E-Mails geschrieben: Du bist erst tot, wenn Du tot bist.
Noch aber steht Michèle Bowley mit neu gesammelten Kräften in der Julisonne. Hinter ihr liegen sechs Wochen Rehabilitation in einer Bündner Klinik. Die Spannkraft ist in ihren Körper zurückgekehrt, Muskeln und Kopf sind wieder fitter. Denn der Krebs und die damit verbundenen Therapien hatten sie in den Rollstuhl gezwängt. Und die paar Schritte, die sie schaffte, machte sie gebeugt an einem Rollator. Nun aber sind ihre Augen wieder hellwach, die Stimme kräftig. «Für mich bricht nun das Leben 2.0 an, ein zweites Leben.» Nach gängigen Erfahrungswerten dürfte es gut fünf Jahre dauern. «Darauf muss ich mich erst ausrichten», sagt Michèle Bowley: «Das ist nicht minder anspruchsvoll, als sich mit dem Tod auseinanderzusetzen.»
Gut zu wissen
Vor der Krebserkrankung arbeitete Michèle Bowley als selbstständige Psychologin und als Coach. Ihre Arbeit stützt sich weitgehend auf das Programm «Elf Schritte zur psychischen Gesundheit», das auch von der Gesundheitsförderung Schweiz empfohlen wird. Die Baslerin entwickelte zudem Online- Kurse für betreuende Angehörige, die sie noch immer anbietet. Die wichtigsten Erkenntnisse hat die Baslerin auf psyche-staerken.ch zusammengefasst.
Als Erstes muss sie sich eine günstigere Wohnung suchen und die Finanzen regeln. Einen Grossteil ihres Ersparten hatte sie bewusst ausgegeben oder verschenkt. Mittlerweile bezieht sie eine IV-Rente, doch das Geld reicht nicht aus für ein vernünftiges Leben: «Wahrscheinlich werde ich nie mehr voll arbeiten können. Folglich muss ich zusehen, wie ich die Zukunft richte.» Unlängst hat sich Michèle Bowley ein junges Malteser-Hündchen gekauft – als Symbol für das Leben 2.0. Ganz scheint sie ihrem Glück aber nicht zu trauen. Vorsorglich hat sie schon mal geregelt, wer nach ihrem Tod zu «Chico» schaut. Sicher ist sicher.
Michèle Bowley beschreibt ihre Erfahrungen mit der Krebskrankheit und dem Sterben im Film «Hallo und Tschüss». Den Film finden Sie hier.
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