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Aufräumen (2) 10. August 2022

Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Ahnengeschichten und Familienschätzen.  

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

«Ahnengeschichten» steht auf der Plastikbox in Übergrösse, die ich mir als nächstes vornehme. Darin hat sich in den letzten Jahrzehnten ein chaotisches Sammelsurium angehäuft: Anleitungen zur Ahnenforschung, Adressen, Artikel zum Thema, Stammbäume und Erinnerungen an die eigenen Vorfahren. Beim Tod meines Vaters vor zwei Jahren habe ich zum letzten Mal einen Stoss Papiere in die Kiste gesteckt. Mit dem Gedanken, vielleicht würde ich irgendeinmal irgendetwas davon noch brauchen können. Für den einen oder anderen Artikel, für eine längere Geschichte oder eine mindestens siebenhundertseitige Familiensaga. 

Ich finde Notizen über das Leben meiner Urgrossmutter: Sie und mein Urgrossvater waren Heimeltern in einer sogenannten Knabenerziehungsanstalt. Meine Urgrossmutter hatte gerade ihr zehntes Kind bekommen, als 1899 im Heim eine Typhusepidemie ausbrach. Innerhalb weniger Tage starben ihr Mann, ihre vierjährige Tochter Olga und das Neugeborene. Alle wurden im gleichen Grab beigesetzt. Meine Urgrossmutter überlebte als Witwe mit acht Kindern. Als sie 96-jährig starb, war ich dreizehn. Sie redete nie über ihr Schicksal. Doch wenn meine Grosstanten davon erzählten, tauchte ich ein in ein Stück Familiengeschichte. 

In der Kiste findet sich auch das Vergissmeinnicht meiner Grossmutter, in einem olivgrünen Samteinband mit Goldschnitt. Die Berechnung ihrer Witwenrente 1964: 76 Franken achtzig Rappen im Monat. Die Kopie des Testaments meiner Grosstante Hanni: Sie bedachte alle ihre 29 Nichten und Neffen mit zweitausend Franken. Den Packen Liebesbriefe meines Onkels ans Tanti wage ich nicht zu lesen. Ich überfliege nur den Gruss: «Schlaf wohl, mein Allerliebstes». Ich öffne die Bibel, die meine Grosseltern zur Hochzeit 1921 bekommen habe. Mir springt das Datum ins Auge: Sechs Monate später ist mein Vater zur Welt gekommen. Ich muss laut lachen. Vehement hatte meine Mutter immer behauptet, in unserer Familie hätte nie jemand heiraten müssen! Und wehe, ich wäre die erste!

Schliesslich schaue ich die Dokumente meines Vaters genauer an. Ich finde sein Taufbüchlein und seinen Konfirmationsspruch: «Wir stehen in Gemeinschaft mit dem Wahrhaftigen…» Ich ordne die Briefe, die ihm seine Cousine aus Magdeburg zu Beginn der Vierzigerjahre geschrieben hat. Auf einem Couvert ist eine 25-Pfennig-Marke mit Hitlers Konterfei abgestempelt. Später kamen nur noch nichtssagende Karten. Der «Eiserne Vorhang» trennte auch die Familie meines Vaters. Ich öffne das Büchlein «Vertrauliche Angaben im Hinblick auf den Todesfall». Akribisch hatte er es ausgefüllt. Er wünschte eine Kremation und eine öffentliche Feier, und für die Todesanzeige «kein Spruch, Text kurz». 

Schliesslich halte ich einen zerknitterten, vergilbten Zettel in der Hand. Ich falte ihn auseinander. Er trägt die Handschrift meines Vaters, es muss ein Gedicht sein, das er irgendwann schon im höheren Alter abgeschrieben hat: «Lerne ohne Groll zu sehen, andere an Deiner Stell. Ihre Zeit wird auch vergehen, wieder andre folgen schnell. Lern’ die grösste Kunst auf Erden, macht es Dir auch schwere Pein: Lerne mit dem Älterwerden, langsam wieder nichts zu sein.» Mir schiessen die Tränen in die Augen. Hat sich mein unabhängiger, schroffer Vater tatsächlich zum Ziel gesetzt, im Alter immer weniger und schliesslich ein Nichts zu werden?

Der zerfledderte Zettel muss ihm etwas bedeutet haben. Hätte ich es doch nur gewusst! Ich hätte ihm gesagt, wie viel er uns bedeutet. Und dass er für uns nicht nichts ist. Jetzt ist es zu spät. 


  • Bewahren Sie auch Briefe oder Dokumente von Ihren Eltern und Ahnen auf und schmökern ab und zu darin ? Erzählen Sie uns doch davon. Oder teilen Sie die Kolumne mit anderen. Herzlichen Dank im Voraus.

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Beitrag vom 10.08.2022
  • Schwab Annemarie sagt:

    Liebe Usch
    Sehr sehr berührend. Danke vielmal für’s Teilen. Kennst Du das Buch von Toyo Shibata (Du bist nie zu alt, glücklich zu sein). Habe darüber mal einen Blogpost (auf Anitricks) veröffentlicht. Das Gedicht Deines Vaters hat für mich etwas, das mit der asiatischen Kultur und Philosophie übereinstimmt. Ich finde es grossartig; deshalb kamen auch mir die Tränen. Schade, habe ich ihn nicht wirklich kennen gelernt.
    Herzliche Grüsse
    Annemarie

  • Zeitlupe Moderation sagt:

    Liebe Usch

    Heiraten müssen….. ach wie erfrischend, dass es in anderen Familien auch nicht immer so perfekt ist, wie Familie nach aussen hin gerne zeigt. Ich habe sieben Jahre IN SÜNDE gelebt, was von der Familie gar nicht gerne gesehen wurde. Und auch keine traditionelle kirchliche Trauung im weissen Unschuldskleid… ups, geht gar nicht!

    Dass meine Eltern haben im März kirchlich geheiratet haben und ich im Juni zur Welt kam, darüber redet Familie nicht. Aber man rechne ….

    Danke für deine unverblümten Beiträge, die ich immer wieder gerne lese.

    Herzliche Grüsse
    Patrizia

  • Margrit Bühler sagt:

    Ich liebe sowas, aber ich habe alles meinem Bruder gegeben, als wir letztes Jahr das Haus räumten und ins Steinhauser Zentrum zogen. Bei ihm ist alles gut aufgehoben und wird sicher mal von seinen Söhnen weiter aufbewahrt. Ich war – und bin es immer noch ein wenig – eine Sammlerin. Ich hatte Mühe, mich von Sachen zu trennen, welche von unseren Vorfahren stammen.

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