Aufräumen (4) 26. September 2022
Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom Erinnerungswert alter Tageszeitungen.
Warum nur habe ich von allen meinen Ferien, Pressereisen und Auslandaufenthalten eine Tageszeitung heimgebracht? Eine möglichst lokale musste es sein, mit ausschliesslich Nachrichten aus der Umgebung und dem Wetter vor Ort. Die «Oberhessische Presse» zum Beispiel, die «Ostfriesen Zeitung», «La Nova di Venezia» oder «The Shetland Times». Sie lagern seit Jahren und Jahrzehnten in einem der zahlreichen Tablare, die ich am Aufräumen bin. Einige der Blätter kann ich gar nicht lesen, weil ich die Sprache nicht verstehe: eine Zeitung von der schwedischen Insel Gotland, eine andere aus Litauen, eine weitere aus Mallorca. Meine gedruckten Andenken aus Kaliningrad, Moskau oder St. Petersburg sind mir völlig fremd: Sie sind in kyrillischer Schrift geschrieben.
Ich blättere die Zeitungen noch einmal durch. Wie ein farbiges Ferienkaleidoskop purzeln Erinnerungen durcheinander: die «Cellesche Zeitung» erinnert mich an stundenlange Wanderungen durch den violett-rosa Erika-Teppich in der Lüneburger Heide. Bei den «Salzburger Nachrichten» sehe ich die Trompeter vor mir, wie sie in der Stille-Nacht-Kapelle das berühmteste aller Weihnachtslieder spielen. Beim «L’Osservatore Romano» kommt mir als erstes in den Sinn, wie mir kurz nach der Ankunft in Rom auf dem Petersplatz das Portemonnaie aus der Handtasche geklaut wurde – quasi unter den Augen des Papstes!
So viele Orte in all den Jahren, so viele Begegnungen! Einige Reiseziele waren durch die Arbeit vorgegeben, doch auch sie wurden jeweils zu einer Entdeckung. Feriendestinationen habe ich oft nur nach dem Klang ihres Namens ausgewählt: «Kap Arkona» tönte nach Fernweh, Matrosen und hoher See. Dort, auf dem Leuchtturm im Norden von Rügen, zerzauste mir der Wind die Haare. Ich war rundum glücklich. Oder die «Ile d’Oléron» an der Westküste von Frankreich: Der Name allein versprach Leichtigkeit, Nichtstun und Entspannung pur. Wir buchten ein Ferienhäuschen weit weg von jedem Rummel.
Meine Lieblingszeitung ist die «Lofotposten». Die Lofoten waren mein lebenslanges Traumziel. Wenn wir an einem Regensonntag – Mama, Papa, wir drei Kinder – das Naturhistorische Museum in Bern besuchten, verweilte ich jeweils vor dem Diorama mit der Steilküste, an welcher grosse Seevögel brüteten. «Lofoten» entzifferte ich schon als kleines Mädchen auf dem Schild neben der Vitrine. Dorthin würde ich einmal gehen, versprach ich mir damals. Zu meinem sechzigsten Geburtstag ging ich auf die Reise, mitten im Winter, allein. Ich wohnte in einem kleinen roten Häuschen am Wasser. Über mir bewegten sich die grünen Nordlichter wie Vorhänge im Wind. Es war eine besondere Reise. Irgendwie auch eine Reise zu mir selber.
Mit dem Gefühl, ein Glückspilz zu sein, bündle ich die Zeitungen für den Altpapier-Container. Ich brauche sie nicht mehr. Die Erinnerungen bleiben mir auch so.
- Kaufen Sie in den Ferien auch gerne lokale Zeitungen ? Erzählen Sie uns doch davon. Oder teilen Sie die Kolumne mit anderen. Herzlichen Dank im Voraus.
- Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»
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Seeehr berührend geschrieben. 🙏 Ja, es ist so eine Sache mit den Erinnerungen: ein Klang, ein Geruch, ein Souvenir oder eben Lokalzeitungen. Jedesmal wenn ich Dir beim Aufräumen zulese, überfällt mich ein schlechtes Gewissen und das Gefühl, ich müsste dringendst mal über, unter und hinter die Bücher. Wer weiss, vielleicht hilfst Du mir ja mal dabei; schliesslich bist Du ja jetzt in Übung. Liebe Grüsse 💖 Annemarie