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Rütlischwur und Tells Geschoss 3. Oktober 2022

Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Mythen, Legenden und einem nachhaltigen Museumsbesuch. 

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Mein Lieblingsfach in der Schule und auch noch im Lehrerinnenseminar war Geschichte. Jede noch so langweilige Erzählung verwandelte sich in meinem Kopf in einen Film: Ich sass in einer Mönchszelle und arbeitete lebenslang an der Abschrift eines Kapitels aus der Bibel. Ich sah entsetzt zu, wie auf dem Scheiterhaufen vermeintliche Hexen verbrannt wurden. Ich durchschritt andächtig die prunkvollen Säle von Versailles, litt mit den Schweizer Söldnern an der Beresina und hörte das Wehklagen der Verwundeten und das angstvolle Wiehern der Pferde bei der Schlacht von Solferino.  

Am liebsten war mir Schweizer Geschichte. In der siebten Klasse ging die Schulreise aufs Rütli. Im Deutschunterricht lasen wir Schillers Wilhelm Tell und besuchten als Höhepunkt die Tellspiele in Interlaken. Zu meinen Lieblingsliedern gehörten «Wir singen heut ein heilig Lied, es gilt dem Helden Winkelried» oder «Ich bin ein Schweizer Knabe und hab die Heimat lieb…» Mit Walter Fürst, Arnold von Melchtal und Werner Stauffacher hob ich auf dem Rütli die rechte Hand und schwor bei Gott: «Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern». Hätte ich damals gelebt, ich hätte die Stauffacherin sein wollen.

Erst viel später und mehr im Vorbeigehen lernte ich, dass Rütlischwur und Tells Geschoss ins Reich der Mythen und Legenden gehören. Richtig bewusst wurde es mir, als ich vor kurzem im Forum Schweizer Geschichte Schwyz die Ausstellung über die Entstehung der alten Eidgenossenschaft besuchte. Der Rundgang über drei Stockwerke räumte mit meiner Vorstellung von den freiheitsliebenden Helden definitiv auf. Die Geschichte lautet anders: Das habsburgische Interesse am Voralpenraum war zu dieser Zeit klein. Fehden zwischen Familien und Talschaften störten Landwirtschaft und Handel. Deshalb wurden erste Gemeinwesen gegründet. Bündnisse zwischen den Waldstätten sollten die wirtschaftlichen Interessen der Region fördern und den Transport über den Gotthard sichern. 

Wirtschaftliche Interessen und Sicherung der Handelswege waren demnach die Geburtshelfer der Eidgenossenschaft. Unabhängigkeit und Freiheitsliebe kamen mit dem Sempacherkrieg Ende des vierzehnten Jahrhunderts dazu. Die Geschichtsschreibung setzt mit dem Weissen Buch von Sarnen noch einmal erst hundert Jahre später ein. Ich weiss nicht, was Kinder heute in der Schule über die Entstehung der Eidgenossenschaft lernen. Ich jedenfalls hätte Geschichte genauso geliebt, wenn man mir Rütlischwur, Apfelschuss und Winkelried nicht als bare Münze verkauft hätte. 

Im Museumsshop kaufe ich für die Kleine ein Bilderbuch über Wilhelm Tell und die Armbrust, die sie sich schon lange gewünscht hat. Mit grossen und kleinen Äpfeln wird seither der Apfelschuss geübt. Mit dem Buch hat sie von einem kleinen Jungen gehört, der volles Vertrauen zu seinem Vater hat. Von einem Vater, der über seine Grenzen hinausgewachsen ist. Und davon, dass man sich vor einem Hut nicht verneigen muss. Denn auch Mythen und Legenden sind voller Wahrheiten.

Wer, wie ich, mit einem altvorderen Geschichtsbild aufgewachsen ist: Ein Besuch im Forum Schweizer Geschichte Schwyz lohnt sich! www.forumschwyz.ch


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Beitrag vom 03.10.2022

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