Wanderer auf dem Heimweg (Kapitel 8.9) Aus «Schneesturm im Sommer»
Regen, Abkühlung und feuchte Morgennebel erinnerten an die kurze Dauer des Bergsommers, aber der wolkenlose grosse Tag wiederholte sich, und Jakob trat vor Sonnenaufgang mit Stock und Rucksack zu seiner letzten Wanderung vor die Hütte. Urs wollte dieser klaren Himmelsbläue nicht trauen und riet ab, aber auf seinen Rat hätte man den Berg überhaupt nicht besteigen sollen. Jost sorgte in Seewilen für den Nachschub von Proviant, und vielleicht war er schon auf dem Rückweg, jedenfalls schickte der Hirt ihm Toni auf die untere Alp entgegen, damit er ihm tragen helfe.
In den Bergen wandert man am besten zu zweit und dritt; wer allein geht, ist allem auch allein ausgesetzt, den möglichen Gefahren wie den Wundern der Einsamkeit und Stille. Beschwingten Schrittes wanderte Jakob über die Weideplätze. Da und dort hob ein Rind das beschäftigte Haupt aus dem taufeuchten Gras und blickte ihm mit grossen Augen nach. Hochgestimmt begann er den Aufstieg, das Glöckeln der weidenden Herde blieb zurück, und auf dem Rasenband, wo er mit Jost umgekehrt war, stürzte ihm vom nächsten östlichen Bergrand das Licht der aufgehenden Sonne entgegen.
Er warf einen Blick in die Karte und fand bestätigt, dass der Weg, den Jost ihm beschrieben hatte, der ja aber kein Weg, ja nicht einmal ein auf der Karte eingetragener Fusspfad war, in einer Spiralwindung auf das Haupt des Berges führen musste. Zuversichtlich stieg er weiter und erreichte ohne Mühen och am Vormittag eine verlockende breite Halde, auf der aus Schutt und Trümmern überall grünes, blühendes Leben empordrängte. Hier wurde er scharf angepfiffen und blieb stehen, verblüfft und dann erheitert, als er zwar nicht das schon verschloffene Murmeltier, das gewarnt hatte, aber höher oben ein anderes entdeckte, das aufgerichtet von seiner steinernen Kanzel herab nach ihm ausspähte.
Er legte den Rucksack ab, lagerte sich bequem ins Gras und bewunderte die unwirtliche, von Mensch und Vieh gemiedene, aber zauberhaft belebte Wildnis. Vanilleduft stieg ihm in die Nase, er sah im Grünen schwarzbraun blühende Köpfchen, Männertreu, sah voll entfaltete Sterne des Edelweiss und entdeckte durch das Glas am Rand der Halde Gemsen. Er fühlte sich vollkommen erfüllt und eins mit allem, er war noch nie so allein und zugleich so glücklich gewesen; er hatte an einsamen Meeresküsten und in alten Kathedralen wohl Augenblicke der Besinnung erlebt, aber das waren nur Ruhepausen im Fieber grosser Städte und Kurorte gewesen. Hier gewann alles den Anschein des Endgültigen, Vollendeten –und schien in seiner unberührten Lebensfülle, seiner menschenfernen Stille und Klarheit dennoch eher einen Traum als den Wunsch eines nüchternen Mannes wahrzumachen. Einem einsamen, der Natur verhafteten Menschen wie Jost Achermann wurde so das Wunder aller Wunder über jeden blossen Traum hinaus wohl immer wieder wirklich, aber für einen Weltmann wie Jakob war es die reinste Gnade.
Blieb er nun also hier? Er brach auf, der paradiesische Augenblick genügte ihm nicht. Er hatte sich in den Kopf gesetzt und wurde von der Lust getrieben, den Berg zu besteigen, und so musste er weiter.
Als er noch im vollen Sonnenlicht hinten über die Halde hinausstieg, stutzte er vor einem Schatten, der ihm zu Füssen vorüberglitt, er blickte auf und sah einen mächtigen dunklen Vogel ohne Flügelschlag hinter hoch getürmten Felsen verschwinden. Hinter diesen Felsen öffnete sich ihm eine neue Seite des Berges, die nicht an der Sonne lag und in ihrem festen grauen Gestein nur noch dem bedürfnislosesten Grün einen kargen Lebensgrund bot. Auf dieser Schattenseite kam er rasch voran, meinte in nahen Felsbändern wiederholt schon den Scheitelkranz der Kuppe vor sich zu haben und kümmerte sich wenig um die aufziehende hohe Bewölkung und den anschleichenden Nebel in den Bergsätteln. Aufmerksamer beachtete er einladende Mulden und Rasenbänder, die ins Ausweglose führten und beim Abstieg vermieden werden mussten, aber jetzt als Abweichungen von der Aufstiegsroute noch leicht zu erkennen waren.
Den letzten Anstieg durch steileres Gefels bewältigte er nicht ohne Mühe, er verlor viel Zeit dabei, und als er die Kuppe betrat, war die Welt verwandelt. Die Berge im Westen erschienen ihm als Inseln in einem unabsehbaren grauen Nebelgesträhn, das hastig auch gegen die Staffelalpen vorrückte. Die Sonne stand nur noch als bleicher Schein im geschlossen ziehenden hohen Gewölk. Er sah ein, dass er umkehren musste, und begann nach kurzer Rast den Abstieg, aber der tiefere Umkreis verschwand schon in der grauen Flut, und eh er hundert Schritte in der rechten Richtung getan hatte, wischte ihm ein dichter Schleier auch die nächste Umgebung vor den Augen aus.
Er ging weiter, kam zu einer Geröllhalde, an die er sich nicht erinnerte, wich aus und geriet auf einen Steilhang, über den er nicht aufgestiegen war, er sah keinen Steinwurf weit und blieb zuletzt über einem schroff abstürzenden Felsgehänge ratlos stehen. «Da haben wir’s», dachte er. «Statt auf Urs zu hören oder auf Jost zu warten, steigt er grossartig allein auf, und jetzt kann der Herr nicht mehr hinunter.» Überlegend, abwartend setzte er sich hin, erkannte im hohen Gewölknoch immer den blassen Schein der Sonne und verzichtete vorläufig auf weitere Versuche, in die weglose graue Dämmerung abzusteigen; dagegen kehrte er auf die manchmal den Nebel überragende Kuppe zurück und ruhte sich in einem Schrattenwinkel aus.
Er öffnete den Rucksack, zog die wollene Weste und darüber die Windjacke an, stülpte sich die Kapuze über den Kopf und ass ein wenig. So leichtfertig wie ein ahnungsloser Spaziergänger war er denn doch nicht ausgezogen. Nachdem er es sich in seinem harten Winkel sitzend, kauernd, liegend ohne Erfolg bequemer zu machen versucht hatte, begann er auf der nassen kahlen Kuppe herumzugehen und erlitt im zunehmenden kalten Wind und stürmischen Nebeltreiben einen Anfall von Mutlosigkeit. «Die Kruste dieser Erde!», dachte er bitter. «Hier hätte Jost nichts mehr zu rühmen, hier ist das Wunder aller Wunder zu Ende, man saust nur mit diesem Krustenstern durch den Weltraum, und ringsum gibt es nichts als grenzenlose Fernen mit einsam brennenden Sonnen und unbelebten Planeten. Was wäre da sonst noch zu erkennen!»
Er kehrte in seinen Winkel zurück und spann den Faden grübelnd weiter. Nach einer gewissen Lehre stammte die Welt aus dem Nichts und ging ihrem Ende im Nichts entgegen. Verloren trieb die Erde dahin, ihre Geschichte war gleichgültig, das Dasein ihrer Menschen sinnlos. Jakob Leuenberger hatte nie so etwas behauptet, aber auch das Gegenteil nicht, er hatte, wie viele Männer seinesgleichen, alles offengelassen, alles für möglich gehalten, und er fand es sogar nicht einmal notwendig, dass etwas von ihm persönlich übrigbleiben sollte, aber das Nichts als Anfang und Ende der Welt, das Erdenleben als sinnlosen Zufall – schaudernd durchdachte er es, schaudernd wandte er sich von dieser Meinung ab und empfand sie in seinem Innersten als Unsinn.
Wenn er den Kopf hob, klatschte ihm kalter Regen an die Kapuze, und auf einmal sah er im windgepeitschten nassen Dunst vorüberjagende weisse Flocken. «Das fehlte noch. Es wird doch nicht schneien wollen?» Schnee, Vorgeschmack der Eiszeit, eine der unheimlichen Möglichkeiten, die den Planetenbewohnern drohten, auch davon hatte Jost gesprochen. Die Jahreszeit lief erst zwischen Sommer und Herbst, aber von den trostlosen Eismassen am Nordpol strömte kalte Luft in die sonst so angenehm gemässigte Zone, und auf den Bergen hier begann es zu schneien. Aus dem lockeren Geflockentstand ein winterliches Schneegestöber, man sah darin nicht weiter als vorher im Nebel, und bald war das Berghaupt angeschneit.
Jakob kletterte auf der windgeschützten Seite in das zerklüftete Gefels hinab, durch das er aufgestiegen war, prüfte verschiedene Stellen, wo man im Notfall bleiben konnte, und fand nicht gerade einen Unterschlupf, aber einen besseren Sitz- und Liegeplatz als den unbequemen Schrattenwinkel auf der Kuppe, einen noch halbwegs trockenen Absatz unter leicht überhangendem Fels. Hier schienen ihm Wind und Kälte erträglich, und nach einer Weile meinte er, das Schneegestöber lasse nach, die Sicht werde besser. «Ich versuche es noch einmal, vielleicht komme ich doch noch vor der Abenddämmerung hinunter.» Er stieg ab und liess eine schuhtiefe Spur zurück, verwundert, wie viel Schnee der Wind in so kurzer Zeit hingeworfen hatte, doch sah er noch immer keine dreissig Schritte weit und trat vor demselben schroffen Felsgehänge wie vorher auf seiner eigenen Spur den Rückzug an.
Versteigen wollte er sich unter keinen Umständen; wenn man sich verstieg, konnte man irgendwo weder vorwärts noch zurück, man konnte nur noch abstürzen oder in der unbequemsten Lage ausharren und von Zeit zu Zeit um Hilfe rufen, während dort, wo man längst zurückerwartet wurde, eine Rettungskolonne aufbrach und der Nachrichtendienst aller Welt den Namen des vermissten unvorsichtigen und blamierten Alleingängers meldete. Nein, lieber wollte erfrierend da oben übernachten.
Es blieb ihm nichts anderes übrig, die Dämmerung brach an. Er machte sich noch einmal mit seiner harten Lagerstätte und ihrer nächsten Umgebung vertraut, wischte da und dort den Schnee weg und entdeckte unter seiner Hand überrascht ein blühendes Sträuchlein. «Silberwurz. Sieh da!» Gerührt betrachtete er es, erinnerte sich, was Jost darüber gesagt hatte, und fand es auch seinerseits sympathisch, ja tröstlich als ein zwar geringes, aber unzweifelhaftes Zeichen der schöpferischen Macht, die unseren erstarrten alten Stern mit dem Mantel des Lebens umgab. Auf Schritt und Tritt fand Jost solche Zeichen und war schon ergriffen, bevor er auch nur zum Menschen und seiner Geschichte kam. Von den grossen Möglichkeiten menschlichen Zusammenlebens aber besass er wohl keinen rechten Begriff.
Zum Autor
Meinrad Inglin (1893–1971) Sohn eines Goldschmieds, Uhrmachers und Jägers, wurde mit siebzehn Jahren Vollwaise. Uhrmacher- und Kellnerausbildung, trotz fehlender Matura Studium der Literaturgeschichte und Psychologie in Bern, Genf und Neuenburg. Tätigkeit als Zeitungsredaktor, während des Ersten und Zweiten Weltkriegs Offizier im Grenzdienst. 1922 als Journalist in Berlin, danach als freier Schriftsteller in Schwyz. Für sein Werk (vor allem Romane und Erzählungen, einzelne Aufsätze, Notizen und eine Komödie) wurde Inglin vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Grossen Schillerpreis und dem Gottfried-Keller-Preis.
Wo schlecht erzogene Menschen hordenweise auftraten oder wo sie das Goldene Kalb umtanzten und ohne Rücksicht dem Götzendienst der Technik frönten, wurde die Erde entzaubert, da hatte er recht und stand mit diesen bitteren Erfahrungen nicht allein. Aber war der Mensch nicht dennoch wichtiger als Tier und Pflanze? Hatte er nicht bewunderswerte Werke geschaffen, und griff uns nicht seine grausame, grossartige, widerspruchsvolle Geschichte näher ans Herz als der masslose Werdegang der vormenschlichen Erde? Und die Schöpfung selber, wo fand sie einen stärkeren Widerhall, ja wo fand sie überhaupt einen Widerhall als in Geist und Seele des Menschen?
Er prüfte seinen Proviant, ass noch etwas und dachte an sein gepflegtes Parkhotel, wo die Gäste jetzt an sorgfältig gedeckten Tischen beim Abendessen sassen. Aufmerksam, mit besorgter Miene, ging Marcel durch den Saal, nicht ganz der gewandte, sichere Mann, den er zu spielen hatte, aber bewährt, untadelig, von bester Haltung und seiner schönen Frau Minna noch immer getreulich ergeben. Ihren Ruedi hatten sie ungeschickt erzogen, aber hoffentlich söhnten sie sich jetzt mit ihm aus und sahen ein, dass er den rechten Weg in die Welt und zu sich selber schon finden würde. Und Hermine! Was für eine verständige, tüchtige Frau! Wenn sie Schwierigkeiten haben sollte, würde Eduard Kienast ihr beistehen. Alles in Ordnung. Er, Jakob, war seinen Angehörigen und Freunden herzlich zugetan, hegte aber auch keinen Groll gegen die Menschen überhaupt. Wie sollte man sie ohne Sympathie und Anteilnahme verstehen können, und wie rätselhaft war ihr Dasein!
Er hing diesem Gedanken nach, doch mischte sich allerlei anderes ein, und er meinte schläfrig zu werden. Die Nacht war angebrochen, hoch zu seinen Häupten unruhig und dunkel, rings um ihn von der fahlen Schneehelle in eine schwankende Dämmerung verwandelt. Er versuchte zu schlafen, begann aber zu frösteln und erwärmte sich mit einem Schluck Cognac aus der flachen kleinen Flasche, die zu seiner Notration gehörte. Auf der Seite liegend, den Ellbogen aufgestützt, Kopf und Schulter an den Fels gelehnt, schlief er einmal halbwegsein, erwachte wieder und starrte gedankenlos vor sich hin.
Da war ihm, er sei nicht mehr allein, hier ganz in der Nähe sei noch jemand oder etwas, das vorher nicht da gewesen war; er schaute auf, horchte, hörte nichts, sah auch nichts und mochte sich also getäuscht haben. Das unbehagliche Gefühl verliess ihn aber nicht und hielt ihn wach, er begann mit argwöhnischen Blicken den Umkreis abzusuchen und musterte schärfer, was ihm auffiel, einen nebelhaft über den Schnee hin schleichenden Schatten, ein schimmerndes Gesicht in einem schwarzen Spalt, eine angeschneite Felszacke, die mit ihrem weisshaarigen Schopf und durchlöcherten weissen Hemd über dunklen Gliedern einem menschenähnlichen Wesen glich. «Hallo!», rief er, wunderte sich über seine eigene Stimme und erhielt keine Antwort. Befremdet schüttelte er den Kopf. «Was für eine sonderbare Anwandlung! Ist doch ausgeschlossen, dass ich hier nicht allein bin.»
Diese Beteuerung half ihm wenig, er wurde das Unbehagen nicht los und fragte mit einer hintergründigen leisen Angst, die er selber belächelte und dennoch nicht unterdrückte: «Sollte ein geschwächter, in die Einöde verschlagener alter Bergsteiger am Ende von Gespenstern heimgesucht werden können? Oder erträgt ein Mensch, auch ein gesunder Mensch, eine solche Einsamkeit nicht, ohne den Verstand zu verlieren? Es ist ja eine unheimliche Einsamkeit, man kann sie nicht beliebig unterbrechen, sie ist nicht mehr von Menschen umgeben und scheint allem Möglichen, auch mehr als Menschenmöglichen, geöffnet.»
Urs fiel ihm ein, der Hirt da unten, der mit den Mächten redete, und jetzt begann er ihn zu begreifen. Vielleicht musste man, grob gesagt, wirklich den Verstand verlieren, um etwas wahrzunehmen, das der Verstand nicht zu erkennen vermochte. Aber war das nun mehr als die Ausgeburt der eigenen Fantasie? Und was konnte denn einem aufgeklärten heutigen Menschen begegnen, auch wenn er sich in seiner tiefen Verlassenheit darauf gefasst machte, Geister zu sehen, Zeichen zu empfangen?
Er war nicht mehr imstande, so flüchtig aufblitzende Fragen zu beantworten oder einen Gedanken zu verfolgen, er lag zu hart, zu unbequem, er versuchte nur zu schlafen, um die Qual dieser Nacht abzukürzen, und er schlief auch manchmal ein, doch beim nächsten Erwachen spürte er sogleich wieder, dass er noch immer nicht allein war. «Ja, bitte?», fragte er voller Ungeduld, bekam keine Antwort und hätte schaudernd aufspringen mögen, um sich Gewissheit zu verschaffen; stattdessen sagte er: «Gelobt sei Jesus Christus!» Verlegen dachte er hinzu: «… würde Urs sagen», verschwieg es aber.
Im Halbschlaf fantasierte er, halbwach hatte er Wunschträume, und einmal begann sich vor seinen Augen alles traumhaft zu verwandeln. Die Schneedämmerung dehnte sich aus, die Nacht wich, und in der milchigen Helle, die sie zurückliess, erschienen die nächsten Umrisse des verschneiten Berges. Der Nebel war fort, das Schneetreiben hatte aufgehört, man erkannte die tiefere Umgebung mit den verschneiten Stöcken, Firsten, Matten, und aus der ferneren Tiefe dämmerte mit Waldhängen und Talsohlen eine graugrüne Welt herauf, die unverschneite, gewohnte, sichere Welt der Menschen.
Der gemarterte Bergsteiger träumte mit offenen Augen, die Welt, die er sah, war wirklich da, sie erwachte im Morgengrauen und weckte auch ihn. Er stand auf, bewegte frierend die steifen Glieder und verliess sein steinernes Bett. Es schneite nicht mehr und wurde heller, er sah, wohin er abzusteigen hatte, und sah auch seine eigenen, halb verschneiten Spuren, die sich ins Ausweglose verliefen. Es schien ihm fast unbegreiflich, wie falsch er gegangen war, doch kümmerte er sich nun nicht mehr darum und richtete sein Augenmerk nur noch auf den Abstieg. Er wollte hinunter, hinab nur wenigstens bis zur Alp, in die Hütte, er wollte im Herd ein Feuer anzünden, heissen Kaffee kochen, ins weiche Heulager liegen und schlafen, schlafen.
Es fiel ihm nicht leicht, im Schnee sah alles anders aus, er machte Fehltritte, rutschte an einem Steilhang samt dem Schnee zehn Mannslängen ab und verlor dabei den Stock. Er hielt aber die rechte Richtung ein und kam auf die breite Halde, wo er beim Aufstieg gerastet hatte. Hier war das Gehen besonders schwierig, er stolperte durch das schneebedeckte Geröll, glitt aus und fiel hin. Eine Weile war er versucht, liegen zu bleiben, aber das wollte er nun doch nicht. «In die Hütte will ich noch, unter allen Umständen, man soll mich nicht suchen müssen.»
Er stand auf, watete stolpernd, wankend, rutschend weiter bergab und erreichte die Alp Oberstaffel. Keine Blume, kein grüner Halm mehr war da zusehen, die Herde war fort und mit ihr wohl auch der Hirt, aber die Hüttentür stand offen, das sah man von weitem. Mit dem schwindenden Rest seiner Kräfte schleppte sich der Mann am Ende seiner Wanderschaft zur Hütte und sank erschöpft ins Heu. «Gut, gut, alles in Ordnung», dachte er noch, legte mühsam Atem holend die Rechte auf sein versagendes Herz und schied im Frieden von dieser Welt.
Seine Angehörigen empfingen die Nachricht durch Jost Achermann, der die Hütte auf der verschneiten Alp noch am selben Tage betrat.
- Die «Editorische Notiz» zum Buch finden Sie hier.
- Jeweils sonntags wird der Roman «Schneesturm im Hochsommer» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
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«Schneesturm im Sommer»
Meinrad Inglin ist einer der bekanntesten Unbekannten, seinen Namen kennen fast alle, seine Werke die wenigsten. Dabei ist er ein grosser Könner in einem grossen Spektrum unterschiedlicher literarischer Genres, stilistisch abwechslungsreich und sprachlich wohlkomponiert. «Schneesturm im Hochsommer» versucht, sein vielfältiges Schaffen abzubilden und damit einen literarisch hochinteressanten und oft überraschend aktuellen Schweizer Klassiker wieder breiter bekanntzumachen.
«Inglin ist seit Jahren genau der, von dem viele sagen, man hätte ihn ‹nicht auf dem Schirm› und der deshalb allen so präsent ist. Die Frage ist doch vielmehr: Was macht den Kerl so interessant, dass er nicht verschwindet? Er hat nie auf Effekt geschrieben. Er hat versucht, Verhältnisse zu beschreiben, wie sie sind. Eine Haltung, die nach dem ganzen postmodernen Klimbim auf eine neue Art interessant ist.»
Peter von Matt
Meinrad Inglin, «Schneesturm im Hochsommer».
Herausgegeben von Ulrich Niederer, Nachwort von Usama Al Shahmani, 256 Seiten, Leinenband, CHF 28.– (UVP), Limmat Verlag, Zürich
Umschlagfotografie: Dino Reichmuth, Unsplash
Typografie und Umschlaggestaltung: Trix Krebs
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
ISBN 978‑3‑03926‑021-8
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