Milchmann mit Leib und Seele
Hans Siegenthaler, der Vater von Zeitlupe-Leser Erwin Siegenthaler aus Niederuzwil SG, lieferte als letzter Milchmann mit Pferd und Wagen in Olten frische Milch direkt an die Haustür. 1965 ging er gemeinsam mit seinem treuen «Choli» in Pension.
Früher, als noch kaum jemand ein Auto besass und die Familien sowie der Milchkonsum pro Kopf gross waren, spielte der Milchmann eine wichtige Rolle in der Lebensmittelversorgung. Die Leute schätzten es, wenn er die frische Milch bis an die Haustüre lieferte. In Olten gab es diesen Dienst bis Ende der 1950er Jahre sogar am Sonntag.
Mein Vater Hans Siegenthaler arbeitete ab den 1920er Jahren bis zu seiner Pensionierung 1965 für die Verbandsmolkerei Olten – sechs Tage die Woche mit nur einem freien Sonntag pro Monat. Sein Arbeitstag begann bereits um halb vier Uhr morgens, wenn er mit dem Velo von Trimbach zu den Molkereistallungen nach Olten fuhr. Dort fütterte und tränkte er sein Pferd und spannte es vor den Wagen mit den grossen Milchkannen, die je vierzig Liter fassten.
Seine Tour führte ihn ins Fustlig-Quartier Richtung Sälischlössli hinauf. Vor jeder Haustür füllte er mit dem Schöpfgefäss die Milch in die Kesseli ab, welche die Kundschaft am Vorabend vor die Haustür gestellt hatten. Wichtig war, die Milch vor dem Schöpfen gut umzurühren, damit alle etwa gleich viel Rahm erhielten.
Ein Weihnachtsbatzen für den Milchmann
Der abgezählte Betrag für die gewünschte Anzahl Liter lag im umgekehrten Kesseldeckel. Schneite es in der Nacht, musste mein Vater das Geld mühsam unter der Schneeschicht hervorklauben. Zu Diebstählen kam es nur selten, aber ich erinnere mich, dass ein Elektriker einmal einem Dieb eine Falle mit einem Draht und einer Klingel stellte.
Während des Krieges hiess es zusätzlich die Lebensmittelmärkli einsammeln und daheim auf Bögen kleben, da Milch zu den rationierten Grundnahrungsmitteln gehörte. Zum Jahresende legten die Leute dem Milchmann einen Weihnachtsbatzen in den Deckel. Vom reichen Baumeister gab es jeweils ganze zwanzig Franken.
Zurück in der Molkerei, versorgte mein Vater sein Pferd und zählte und ordnete das viele Kleingeld. Um 15 Uhr kam er nach Hause und wir assen Zmittag. Bei Schnee und Eis dauerte die Tour oft länger. Dann verlor Vaters Pferd die Geduld und er musste höllisch aufpassen, dass es auf dem Heimweg hinunter zur Unterführung nicht in den Galopp verfiel.
Eine sichere Anstellung mit Pension
Mein Vater war Milchmann mit Leib und Seele. Wenn er mit Ross und Wagen durch die Strasse trabte, tat er dies mit Stolz. Eine Ausbildung hatte er nicht machen können und war deshalb froh um die sichere Anstellung bei der Verbandsmolkerei. Diese brachte ihm sogar eine Pension ein, wie sie früher nur Staatsangestellte wie Pöstler oder Bähnler hatten. Und für uns gab es ab und zu eine Delikatesse wie Schlagrahm – während des Krieges eine Seltenheit!
Mit seinem letzten Pferd, das auf dem Foto aus den 1930er Jahren zu sehen ist, arbeitete mein Vater fast dreissig Jahre zusammen. Der «Choli» und er waren ein gutes Team und verstanden einander ohne Worte. Mein Vater, als Verdingbub bei Bauern aufgewachsen, war den Umgang mit Pferden gewohnt. Auch im Militär diente er beim Train.
Der Choli kam als junges Pferd aus dem Jura nach Olten – und war bereits am nächsten Tag aus dem Stall verschwunden. Drei Tage später rief sein früherer Besitzer an, man könne das Tier wieder abholen… Nach dieser jugendlichen Eskapade tat der Choli stets brav seinen Dienst.
Für meinen Vater war er nicht nur ein treuer Begleiter, sondern auch ein wichtiger Mitarbeiter. Als Mitte des Jahrhunderts die ersten Wohnblöcke im Quartier entstanden, deren Eingänge auf der von der Strasse abgewandten Seite lagen, musste der Milchmann die vollen Milchkannen jeweils ums ganze Haus schleppen. Unterdessen zog der Choli den Milchwagen völlig selbstständig weiter und wartete auf der anderen Seite des Blocks auf seinen Meister.
Pferd statt Elektrowagen
Wegen seines schlauen Pferdes sparte mein Vater viel Zeit – und wehrte sich vehement dagegen, Choli gegen einen motorisierten Wagen einzutauschen. Was seine Kollegen in der Innenstadt als Erleichterung empfanden, weil die aufwändige Pferdepflege wegfiel, hätte für ihn Mehrarbeit bedeutet. Der Arbeitgeber sah dies ein und so blieb mein Vater für seine letzten Arbeitsjahre Oltens einziger Milchmann mit Pferd und eine Attraktion, die die Leute gern fotografierten.
Bei den Buben in unserem Quartier war es beliebt, den Milchmann hoch auf seinem Wagen zu begleiten. Manche opferten dafür ihre ganze Mittagspause. Mein Vater schätzte seine jungen Helfer mit den schnellen Beinen, besonders als er mit seinem neuen Kühlanhänger auch Fruchtjoghurts ausliefern musste. Das führte zu viel Hin- und Herrennen, bis die Kundschaft genau diejenigen Sorten im Milchkasten stehen hatte, die sie wünschte.
Mich schickte die Mutter oft an Sommersonntagen mit auf Tour. Ihr Hintergedanke: Durch meine Hilfe konnte mein Vater früher Feierabend machen und wir am Nachmittag eine Ausfahrt mit unserem Motorrad samt Seitenwagen unternehmen. Ich erinnere mich auch gut daran, wie ich meinen Vater begleitete, wenn er den Choli zum Hufschmied brachte. Interessiert schaute ich zu, wie der Schmied die heissen Hufeisen formte und festnagelte. Den Geruch von verbranntem Horn habe ich bis heute in der Nase.
Past-Milch aus dem Laden
Ende der 1950er-Jahre begann sich viel zu verändern. Die Familien wurden kleiner, die Menschen tranken weniger Milch. Und diese konnte man nun pasteurisiert und verpackt ganz praktisch im Laden kaufen. Die jahrelange strenge Arbeit bei jedem Wetter hatte auch meinem Vater zugesetzt. So liess er sich zusammen mit seinem treuen Pferd nach fast vierzig Dienstjahren 1965 pensionieren. Er genoss es, nun mehr Zeit für seinen Garten und seine Enkel zu haben. Und der Choli durfte zurück in seine Heimat reisen und verbrachte noch ein paar Jahre auf den saftigen Weiden im Jura.
Ich selbst heiratete im Jahr der Pensionierung meines Vaters. Nach dem Studium am Abend-Tech in Zürich zogen meine Frau Erika und ich für ein paar Jahre nach Genf. Zurück in die Deutschschweiz kamen wir für meinen Traumjob, den ich bis zur Pensionierung innehatte.
Für die Firma Bühler in Uzwil baute ich Kompostieranlagen und bereiste als Planer und Projektleiter und später als Verkäufer jahrzehntelang fast die ganze Welt. So lernte ich Marokko und Algerien, später die Golfstaaten, Abu Dhabi, Doha, Dubai, alle sieben Emirate, Kuwait, Katar, Syrien, Iran und die Türkei kennen. Mir gefielen die Reisen, das warme Klima und die interessanten Projekte, die ich begleiten konnte.
Während mein Vater kaum je über Olten hinausgekommen war, flog ich in 37 Jahren total neunzig Mal um die Welt. Meine Frau hielt daheim bei unseren zwei Töchtern oft ohne mich die Stellung, was nicht immer einfach war. Zum Glück konnten wir nach meiner Pensionierung gemeinsam noch viele schöne Reisen unternehmen in Weltgegenden, die auch ich noch nicht kannte.
Aufgezeichnet von Annegret Honegger
Errinnert mich an meine Jugend. Meine Eltern hatten eine Beiz und eine Bäckerei. Holzofenbrot… es war ein super «Aufwachsen» wir mussten viel «arbeiten» hatten aber auch sehr viel Freiheit. Und waren Tagelang im und um den Bach am spielen. Wir waren in unserer eigenen Welt. In der Fantasiewelt… schade können viele Kinder heute diese «Wunderwelt» nicht mehr erleben. Man muss SAUBER sein. Und lässt man die Gööfis mal «frei»… will heissen …sie dürfen schmutzig werden kommen bereits KESB Leute….die dann wiederum div. «Istitutionen» einschalten. Weil….die Kinder verwahrlost daher kommen. Dabei sind sie einfach nur schmutzig von den Abenteuern. 👍Und jeder hat zu Hause ja eine Dusche!!!! Nicht alles war besser. ABER vieles war einfach «normaler» LEBENSECHTER!!! Ich wünsche den heutigen Eltern mehr Mut…lasst die Kinder Kinder sein. Lasst es zu, dass sie schmutzig nach Hause kommen. Und lasst die Leute REDEN. U.S.