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Der erste Schnee 13. Dezember 2022

Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (71) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von grossmütterlicher Geborgenheit und bedingungsloser Liebe.

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Ich sitze am PC und schaue über den Rand des Bildschirms den tanzenden Flocken zu. Die ganze Nacht hat es geschneit, draussen ist alles weiss. Bis heute verzaubert mich der erste Schnee. Als «Dezemberkind» liebe ich den Winter, meinen Geburtstag, die Advents- und Weihnachtszeit, die weisse Pracht. Während mich die Sommerhitze lähmt, fühle ich mich in der kalten Jahreszeit rundum lebendig. Je älter ich werde, umso mehr ist der erste Schnee mit nostalgischen Gefühlen verbunden. In meiner Erinnerung werden die Schneeflocken grösser, die Schneehaufen weisser, die Kälte klirrender. Glücklich war ich, wenn ich die eiskalten Finger über den Ofen halten und spüren konnte, wie die Wärme langsam zurückkehrte.

Der warme Trittofen wurde von der Küche aus eingeheizt und stand in der Stube meiner oberaargauischen Grosseltern. Fast alle meine Ferien – auch die Weihnachtsferien – verbrachte ich bei ihnen auf dem kleinen Bauernhof. Das Tannenbäumchen war so kümmerlich, dass es auf den Stubentisch gestellt werden musste. Sein Schmuck jedoch war in meinen Kinderaugen der schönste und kostbarste, den es auf der ganzen Welt gab. Einmal ahmte meine Patin, welche die Weihnachtstage meist ebenfalls im bescheidenen Haus ihrer Eltern verbrachte, den Samichlaus nach. Gebückt und schwer atmend kam sie zur Stubentür herein und trug auf dem Rücken ein Paar Ski. Dunkelbraune Holzski! Für mich! Am nächsten Tag schaufelte mein Grossvater vor dem Stall den Schnee zusammen und baute für mich einen Skihügel. Hinauf, hinunter, hinauf, hinunter…

Ich war selig in meinem grosselterlichen Paradies. Wenn ich in die Ferien kam, zog mein Grossvater jeweils aus ins «Chuchistübli» und überliess mir seine Seite des Ehebetts. In der Ecke stand der «Potschamber», der «Pot de chambre», damit man in der Nacht nicht hinaus aufs Plumpsklo gehen musste. Meine Grossmutter kam immer schon mit mir ins Bett. Dann wickelte ich für sie die elastischen Binden auf, während sie sich das «offene Bein» mit einer Salbe behandelte. Anschliessend sang ich ihr ein Lied vor, meistens «Abendstille überall». Ohne den Gute-Nacht-Wunsch meiner Grossmutter «Schlaf i Gotts Name» konnte ich nicht einschlafen. Danach deckte sie ihr Nachttischlämpchen mit einem grossen Nastuch ab. Ich sollte vom hellen Licht nicht gestört werden, während sie noch ein paar Seiten in einem ihrer Heimat- oder Bergromane las. 

Geborgenheit und bedingungslose Liebe kommen mir in den Sinn, wenn ich an meine Grossmutter denke. Ich frage mich, welche Erinnerungen die Kleine dereinst an ihr Grosi – zurzeit vorpubertär nur abgekürzt Goog genannt – haben wird. Beim Gedanken, dass sie einmal über siebzig wird und an mich, ihre längst verstorbene Grossmutter denkt, muss ich lachen. Und doch wünsche mir nichts so sehr, als dass das innige Band zwischen uns über alle Zeiten hinweg bestehen bleibt.


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Beitrag vom 13.12.2022

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