1. Wieder Krieg Aus «Staatsmann im Sturm»
Noch vor Morgengrauen schreckt das Geknatter von Fliegerabwehrkanonen Clare Hollingworth aus dem Bett. Es ist Freitag, der 1. September 1939. Aus ihrem Hotelzimmer im polnischen Kattowitz sieht die junge englische Journalistin deutsche Bomber nach Osten vorüber fliegen. Sie telefoniert der britischen Botschaft in Warschau, um den Beginn der Feindseligkeiten zu melden. Ein Diplomat am andern Ende der Leitung glaubt der Reporterin des Daily Telegraph nicht. Darauf hängt sie den Telefonhörer aus dem Fenster. Der Mann hört das Knallen der Geschütze. Es ist Krieg.
An jenem Freitag tritt die Schweizer Landesregierung um 10 Uhr zusammen. Der Bundesrat hat natürlich erfahren, dass in der Nacht Hitlers Luftwaffe polnische Flugplätze und Städte bombardierte. Deutsche motorisierte Divisionen und Panzerverbände sind in Polen eingefallen. Die Bundesräte – und nicht nur sie – fragen sich, ob Frankreich und Grossbritannien ihre Bündnisverpflichtung gegenüber Polen einhalten und Deutschland den Krieg erklären werden. Kommt es zu einem neuen Weltenbrand, der noch schrecklicher sein könnte als der Grosse Krieg 1914 bis 1918? Wird die neutrale Schweiz wie damals verschont bleiben oder gegen ihren Willen in das Kriegsgeschehen verwickelt werden?
An der Bundesratssitzung vom 1. September nimmt zeitweise auch der tags zuvor von der Bundesversammlung zum General gewählte und nachher vom Berner Volk begeistert gefeierte Henri Guisan teil. Per Flugzeug hat man ihn aus Lausanne kommen lassen. Post- und Eisenbahnminister Marcel Pilet-Golaz ist glücklich über die Wahl seines Waadtländer Landsmannes, unter dessen Kommando er als Offizier in der 1. Division einst Dienst geleistet hat. Einige Tage zuvor läutete in der Wohnung am Berner Scheuerrain das Telefon. Der 19-jährige Maturand Jacques, einziges Kind des Ehepaars Pilet-Golaz, ging an den Apparat. Am andern Ende der Leitung meldete sich «le commandant de corps Guisan». Guisan wollte vom Bundesrat wissen, wie seine Chancen bei der unmittelbar bevorstehenden Generalswahl stünden. Pilet konnte ihn beruhigen. Guisan war der Wunschkandidat sämtlicher Bundesräte. Die Bundesversammlung werde ihn mit grosser Mehrheit wählen, was sie dann auch tat.
An der Sitzung referiert Militärminister Rudolf Minger über die aussenpolitische Lage, «die sich in den letzten Tagen zugespitzt hat». Er hält es für dringend notwendig, «die Sicherheit der Landesgrenzen und den Schutz unserer Neutralität der Armee anzuvertrauen». Minger kennt die Meinung des Generalstabs, wonach mit der Möglichkeit eines französischen Entlastungsangriffs durch Schweizer Gebiet zu rechnen ist. Der neue General, der gute Beziehungen zu höchsten französischen Heerführern unterhält, teilt die Ansicht des Generalstabs nicht. Für Guisan, wie für den Grossteil der schweizerischen Öffentlichkeit, kommt die einzige Gefahr aus dem Norden. Der General schlägt dem Bundesrat vor, die Armee aufzubieten und ihr den Schutz unserer Neutralität anzuvertrauen.
Für Pilet-Golaz lassen die von der Nachrichtensektion festgestellten französischen Truppenkonzentrationen an der Westgrenze auf die Furcht Frankreichs «vor einem deutschen Überfallangriff auf die Schweiz schliessen». Guisan und Pilet sind sicher, dass die auf Verteidigung eingestellte französische Armee unsere Neutralität respektieren wird. Wie Minger nimmt er an, dass die «internationale Situation sich sehr rasch verschlimmern werde». Im Gegensatz zu Aussenminister Motta glaubt Pilet nicht an eine Verständigung zwischen London und Berlin in letzter Minute. Einmütig beschliesst der Bundesrat die sofortige vollständige Mobilmachung der Armee.
Im Anschluss an die Bundesratssitzung werden dem General die Instruktionen der Regierung für seine Aufgaben als Oberbefehlshaber ausgehändigt. Er hat die «Unabhängigkeit und Unversehrtheit des Landes mit allen möglichen militärischen Mitteln zu schützen». Alle seine Massnahmen soll er «unter dem Gesichtspunkt der Wahrung der Neutralität treffen». Die Instruktionen halten deutlich fest, dass «das Recht der Kriegserklärung und des Friedensschlusses» ebenso wie der «Abschluss von Allianzen» beim Bundesrat bleibt.
430 000 Mann Kampftruppen und 200 000 Hilfsdienstpflichtige rücken tags darauf geordnet und ohne wesentliche Komplikationen ein. Für ein Land von wenig über 4,2 Millionen Einwohnern ist dies eine enorm umfangreiche Armee. Die Schweiz ist auf einen Krieg vorbereitet, das Volk geeint, die aufgebotenen Soldaten entschlossen, ihre Pflicht zu tun:
«Samstag, den 2. September 1939. 7.00 Erster Mobilmachungstag. Die Armee rückt ein. An einem solchen Tag keinen Waffenrock anziehen zu dürfen, ist grenzenlos, unsäglich bitter.»
Dies schreibt Markus Feldmann in sein Tagebuch. Der einflussreiche Nationalrat und Chefredaktor der Neuen Berner Zeitung ist wegen Herzschwäche dienstuntauglich. Kanonier Max Frisch, im Privatleben Architekturstudent und angehender Schriftsteller, hat durch Glockengeläute erfahren, dass auch er an die Grenze muss. Sein Einrückungsort liegt .am andern Zipfel unseres Landes., im Tessin:
«Wir fahren durch die Nacht; die Fenster sind nun schwarz, als führe man durch einen endlosen Tunnel. Auch hier scheint eigentlich niemand überrascht, nur ein gewisser Ernst, eine gewisse Bitterkeit ist da, dass es wirklich gekommen ist, wie man dachte. Etliche tun, als schlafen sie. Damit sie die Augen schliessen können. Es ist ein rascher Abschied gewesen. Andere sitzen einfach da, die Ellbogen auf den Knien und blicken auf die Schuhe. Gesungen wird nicht, zum Glück, und man hört auch keine grossen Redensarten. Was will man schon sagen?
Am 1. September, dem Tag des deutschen Einfalls in Polen, sprechen die Botschafter Frankreichs und Grossbritanniens an der Wilhelmstrasse in Berlin vor und fordern die Einstellung der militärischen Operationen und den Rückzug der deutschen Truppen aus Polen. Einflussreiche Politiker in Berlin, London, Paris und Rom suchen verzweifelt nach einer Verhandlungslösung, um die gefürchtete Katastrophe eines grossen europäischen Kriegs abzuwenden. Der italienische Aussenminister Ciano bemüht sich um die Organisation einer Friedenskonferenz in letzter Minute. Feldmarschall Göring streckt heimliche Friedensfühler nach England aus. Unter dem Druck des Unterhauses bleibt das Kabinett Chamberlain nach kurzem Zögern hart. Man hat 1938 Hitler Österreich und dann im vergangenen März auch noch die Tschechoslowakei schlucken lassen, obschon der Diktator sein in München gegebenes Wort nicht gehalten hatte. Premier Chamberlain und Ministerpräsident Daladier wollen sich nicht wieder täuschen lassen. Jetzt muss Hitlers neuer Aggression militärisch entgegengetreten werden.
Zum Autor
Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit: Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».
Hitler selber glaubt nicht, dass die Engländer und Franzosen nur wegen Polen einen grossen europäischen Krieg vom Zaune brechen werden. Die beiden Alliierten sind in ihrer Rüstung gegenüber dem Reich zurückgeblieben und haben keine Möglichkeit Polen militärisch wirksam zu unterstützen. Am Abend des 2. September erfährt Hitler von Botschafter Attolico, dass die italienischen Vermittlungsbemühungen gescheitert sind. Frankreich und England wollen nur dann verhandeln, wenn die deutschen Truppen Polen wieder geräumt haben.
Am Samstag, 3. September, um 9 Uhr spricht der britische Botschafter Henderson im Auswärtigen Amt an der Wilhelmstrasse vor. Ribbentrop, der Ungutes ahnt, lässt sich durch Dolmetscher Schmidt vertreten. «Ich muss Ihnen leider im Auftrage meiner Regierung ein Ultimatum an die Deutsche Regierung überreichen», sagt Henderson zu Schmidt: «Wenn die Regierung Seiner Majestät nicht vor 11 Uhr britischer Sommerzeit befriedigende Zusicherungen über die Einstellung aller Angriffshandlungen gegen Polen und die Zurückziehung der deutschen Truppen aus diesem Lande erhalten hat, so besteht von diesem Zeitpunkt an der Kriegszustand zwischen Grossbritannien und Deutschland».
Dolmetscher Schmidt geht mit dem Ultimatum in der Aktentasche in die Reichskanzlei, wo Hitler und Ribbentrop gespannt auf seine Mitteilung warten:
«Ich blieb in einiger Entfernung vor Hitlers Tisch stehen und übersetzte ihm dann langsam das Ultimatum der britischen Regierung. Als ich geendet hatte, herrschte völlige Stille. Wie versteinert sass Hitler da und blickte vor sich hin. Er war nicht fassungslos, wie später behauptet wurde, er tobte auch nicht, wie es wieder andere wissen wollten. Er sass völlig still und regungslos an seinem Platz. Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, wandte er sich Ribbentrop zu, der wie erstarrt am Fenster geblieben war. «Was nun?» fragte Hitler seinen Aussenminister mit einem wütenden Blick in den Augen, als wolle er zum Ausdruck bringen, dass ihn Ribbentrop über die Reaktion der Engländer falsch informiert habe. Ribbentrop erwiderte mit leiser Stimme: «Ich nehme an, dass die Franzosen uns in der nächsten Stunde ein gleichlautendes Ultimatum überreichen werden».
Als Schmidt den im Vorraum von Hitlers Arbeitszimmer wartenden Parteigrössen berichtet, dass in zwei Stunden zwischen England und Deutschland Kriegszustand sein werde, herrschte auch dort Totenstille:
«Göring drehte sich zu mir um und sagte: «Wenn wir diesen Krieg verlieren, dann möge uns der Himmel gnädig sein.». Goebbels stand in einer Ecke, niedergeschlagen und in sich gekehrt, und sah buchstäblich aus wie ein begossener Pudel.
Als das Ultimatum Londons um 12 Uhr mittags abläuft, erklärt sich England im Kriegszustand mit Deutschland. Eine halbe Stunde später empfängt Ribbentrop den französischen Botschafter Coulondre, der ihm das erwartete, auf 5 Uhr nachmittags befristete Ultimatum aus Paris vorliest. Die Antwort der deutschen Regierung auf das Ultimatum ist negativ. Darauf erklärt Coulondre:
Ich habe die schmerzhafte Aufgabe, Sie zu benachrichtigen, dass ab heute, 3. September die französische Regierung gezwungen ist, die Verpflichtungen, die Frankreich gegenüber Polen eingegangen ist und der deutschen Regierung bekannt sind, zu erfüllen.
«Gut», antwortet Ribbentrop mit tonloser Stimme, «Frankreich wird der Aggressor sein». «Die Geschichte wird urteilen», antwortet Coulondre und zieht sich zurück.
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- Jeweils sonntags wird der Roman «Staatsmann im Sturm» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
«Staatsmann im Sturm»
Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.
«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussion stehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne,12. September 1940
Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch
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Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: Keystone-sda/ Photopress-Archiv