9. Der Novemberalarm Aus «Staatsmann im Sturm»

Während L.F. Meyer in Berlin Gespräche führt, die für ihn und die Schweiz beruhigend sind, bleiben die Armeeleitung und das Politische Departement auf der Hut. An einer Sitzung mit der Generalstabsabteilung erfährt Nationalrat Feldmann am 9. Oktober, wie Nachrichtendienst-Chef Oberst Roger Masson die Lage beurteilt. Noch sei in Berlin «über die Art und Weise des weiteren Vorgehens an der Westfront» kein Beschluss gefasst worden.

Im «Reichsrat» kämpften drei Auffassungen gegeneinander, die eine (Goebbels und Himmler) sei für den Durchbruch durch die Schweiz, eine zweite sei für die Umgehung der Maginotlinie durch Belgien und Holland, eine dritte plädiere für den frontalen Angriff gegen die Maginot-Linie. Die schweizerische Presse müsse alles vermeiden, was irgendwie zu einem der Schweiz nachteiligen Entschluss beitrage.

Massons Einschätzung der Lage ist falsche Spekulation. Weder Goebbels noch Himmler «reden» von einem Durchmarsch durch die Schweiz, der «Reichsrat» hat nichts mehr zu sagen. Das Vorgehen Deutschlands an der Westfront hängt allein von Hitler und der Generalität ab. Was Hitler beabsichtigt, weiss man auch in England und Frankreich nicht.

Der Schweizer Spionagechef ist über die Vorgänge in Deutschland schlecht informiert. In den Zwanzigerjahren, als man immer noch auf einen dauerhaften europäischen Frieden hoffte, glaubte man in der Schweiz auf einen Nachrichtendienst verzichten zu können. Erst nach dem Anschluss Österreichs sahen Bundesrat und Armeeleitung den Nutzen eines funktionierenden Geheimdiensts ein. Oberst Roger Masson wurde mit dem Ausbau der Sektion 5 des Generalstabs betraut. Seither bemüht er sich – nicht immer mit Erfolg – um eine bessere personelle und finanzielle Ausstattung seines Nachrichtendiensts. Instruktionsoffizier Masson doziert Militärwissenschaft an der ETH Zürich und betreut als Chefredaktor die Revue Militaire Suisse. Pilet kennt und mag ihn. Masson war einst Leutnant in dem von Major Pilet kommandierten Bataillon.

Masson vertraut dem Nachrichtenoffizier Hptm. Hausamann, der über langjährige Erfahrung in Militärfragen und gute Kontakte verfügt. Nicht so Massons Vorgesetzter Oberst Hans Frick. Der Unterstabschef Front schrieb schon Ende September Masson: 

Angesichts der dauernden Falschmeldungen, die das sogenannte Bureau Hausamann uns andauernd zukommen lässt, wie auch angesichts des wichtigtuerischen und aufgeregten Verhaltens von Hptm. Hausamann (Plakatanschlag an der Haustür) beauftrage ich Sie, das Bureau Teufen aufzuheben und Hptm. Hausamann seiner Aufgabe zu entheben, unter Versetzung ins Mannschaftsdepot. Sie wollen uns melden, bis wann diese Massnahmen durchgeführt sein können. Äusserster Termin ist der 5.10.39.

Masson wollte nicht auf Hausamann verzichten. Er hat dessen Meldungen unbedingt nötig und versprach, sie künftig besser zu überprüfen. Frick liess sich umstimmen. Das Büro in Teufen wurde nicht geschlossen und Hausamann nicht versetzt. 

Inzwischen tut sich in Deutschland einiges. Am 16. Oktober erklärt Hitler dem Oberkommandierenden des Heers von Brauchitsch, er habe nun endgültig die Hoffnung aufgegeben, mit den Engländern und den Franzosen eine Verständigung zu erreichen. Er werde die Westmächte militärisch besiegen, vorher sei mit ihnen nicht zu verhandeln. Die Offensive müsse so früh wie möglich, zwischen dem 15. und 20. November, beginnen. Am 19. Oktober gibt Brauchitsch eine erste Aufmarschanweisung «Gelb» heraus. Ziel, «starke Teile des französischen Heers und seiner Verbündeten zu schlagen» und «möglichst viel holländischen, belgischen und nordfranzösischen Boden als Basis für eine Luft- und Seekriegsführung gegen England und als weites Vorfeld des Ruhrgebiets zu gewinnen». Kein Wort zur Schweiz. 

Am 24. Oktober besucht der aus Paris hergereiste Schweizer Gesandte Walter Stucki General Guisan im Schloss Gümligen. Dort hat der General eben das Hauptquartier für sich und seinen persönlichen Stab aufgeschlagen. Minister Stucki kommt mit beunruhigenden Nachrichten. In Frankreich sei man der Überzeugung, dass die Deutschen bald angreifen werden, voraussichtlich mit einem Zangenangriff durch Belgien und die Schweiz. Stucki schlägt vor, für den Fall eines deutschen Eindringens in die Schweiz, sofortige Vorbereitungen für eine französische Hilfe zutreffen. General Guisan verschweigt Stucki, dass er diesbezüglich vorgesorgt hat. 

Er hat den Nachrichtenoffizier Hptm. Bernard Barbey, einen in Paris lebenden Waadtländer Schriftsteller, mit der geheimen Mission beauftragt, direkte Verbindung zu der höchsten französischen Armeeführung aufzunehmen. Weil diese Geheimkontakte neutralitätspolitisch fragwürdig sind, hat Guisan nur vier Offiziere aus seinem persönlichen Umfeld und vielleicht noch Bundesrat Minger eingeweiht. Die andern sechs Bundesräte, den Generalstab inklusive Chef Labhart und nun auch Minister Stucki lässt der General im Dunkeln. Am Tag nach dem Gespräch mit dem Gesandten zitiert Guisan Generalstabschef Labhart, Nachrichtenchef Masson und Unterstabschef Front, Frick, zu sich nach Gümligen, um ihnen von Stuckis Warnung zu berichten. Selber schätzt Guisan die Lage als «bedrohlich» ein. 

Frick hingegen hält die Gefahr eines Grossangriffs von Deutschland gegen Frankreich für gering und Labhart sieht auch keine unmittelbare Bedrohung. Masson legt sich nicht fest. Am Sonntag, 3. November, schreibt Labhart eine Notiz: Die Mitteilung des Generals hat mich sehr beeindruckt, da die mir zu Kenntnis gelangten Nachrichten über deutsche Truppenbewegungen keine militärische Gefahr erkennen lassen. In der Besprechung mit dem General vertrat ich diese Auffassung und es wurde einzig die Rückberufung der Urlauber und die Erhöhung der Bereitschaft der Sprengobjekte verfügt. 

Einer von Massons Mitarbeitern, Major Charles Daniel, Leiter des Büros «Andere Länder», berichtet [rückblickend in einem Bericht vom Sommer 1945], wie am 3. November 1939 ein von der Zensur abgehörtes Gespräch zwischen dem Berliner NZZ-Korrespondenten Reto Caratsch und der Redaktion in Zürich für Aufregung gesorgt habe. Caratsch redete darin von einem unmittelbar bevorstehenden deutschen Angriff auf die Schweiz. Die Aussenposten des Nachrichtendienstes jedoch melden: «Nichts Neues». 

Am selben Sonntagabend, 3. November, erkundigt sich der Stabschef des 3. Armeekorps beim Pikettoffizier des Nachrichtendiensts, wieso sein Korps in Alarmzustand versetzt worden sei. Dieser gesteht, er wüsste nichts von einer derartigen Massnahme. Seines Wissens habe sich die militärische Lage an unserer Grenze in den letzten Tagen nicht grundlegend verändert. Grosse Verwirrung. Die von der Zensur abgefangene Meldung Caratsch war direkt an verschiedene militärische Stellen weitergegangen. Einige erhielten die aufschreckende Nachricht von NZZ-Chefredaktor Willy Bretscher persönlich. Die Nervosität hielt einige Tage lang an. Daniel – in der Einschätzung Pilets «un officier réfléchi, pondéré et prudent» – schreibt in seinem Bericht: 

Dies war der erste Alarm; für uns war er falsch, aber er zeigte, mit welcher Geschwindigkeit gewisse Gerüchte sich fortsetzen und wichtige Massnahmen veranlassen können.

Der Alarm erwies sich als falsch. Die Warnungen des belgischen und des französischen Geheimdiensts waren jedoch nicht aus der Luft gegriffen. Hitler hatte tatsächlich den Angriff im Westen — durch die Neutralen Holland und Belgien – auf den 12. November befohlen. Zwar erhoben die Generale Einwände gegen diesen frühen Termin – unsicheres Wetter für die Luftunterstützung, fehlendes Material und Munition nach dem Polenfeldzug –, aber Hitler bleibt fest. Die Spannung in der Schweiz verstärkt sich noch, als am 8. November Hitler im Münchner Bürgerbräukeller mit Glück einem Sprengstoffattentat entgeht, das sieben Todesopfer fordert. Himmler leitet die Untersuchungen. Die Schweizer Zensur fängt ein Staatstelegramm aus Berlin nach Bern ab: 

Die Spuren der Täter des Verbrechens von München führen ins Ausland. Es wird daher zur Förderung der Aufdeckung im Ausland eine weitere Belohnung von 300 000 RM ausgesetzt. 

Die Deutschen schieben den Anschlag dem englischen Geheimdienst zu. Fälschlicherweise. Bereits am Abend des Attentats ist der Tischlermeister Georg Elser mit kompromittierenden Unterlagen in Konstanz an der Schweizer Grenze festgenommen worden. Wilde Verschwörungstheorien geistern herum. Der Ton der deutschen Presse verschärft sich, auch gegen die Schweiz. Niemand erfährt Näheres, weil die Untersuchungsbehörden an der Theorie eines britischen Mordversuchs an Hitler festhalten und schweigen. Erst nach dem Krieg wurde bekannt, dass Elser ein naiver Idealist war, der aus moralischen Gründen den Tyrannen Hitler töten wollte. Er wurde als «Sonderhäftling des Führers» und vermutlicher Zeuge gegen englische Geheimdienstler im Konzentrationslager verwahrt und am 5. April 1945 per Genickschuss unauffällig liquidiert. 

Zum Autor

Schriftsteller Hanspeter Born

      

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Am 10. November nimmt der General an der Bundesratssitzung teil. Er schlägt vor, dass man Truppeneinheiten, deren Wiedereinberufung für den 27. November vorgesehen ist, bereits am Montag, dem 13. November, einrücken lässt. Er sieht allerdings «bis jetzt keine offensiven Konzentrationen gegen unser Land». Bundeskanzler Bovet protokolliert: 

Minger ist ein wenig pessimistischer als der General. Die Situation war nie kritischer als heute. Unter diesen Bedingungen hätte man eine Generalmobilmachung rechtfertigen können. Aber er verlangt sie nicht und unterstützt den Vorschlag des Generals. Alle teilen die Meinung des Generals ausser Präsident [Etter], der zu Mingers Seite neigt. 

Die Aufregung von Minger und Etter ist verständlich. Sie können nicht wissen, dass Hitler schon am Tag zuvor, am 9. November, eine Verschiebung des Angriffstermins befohlen hat. Nicht wegen des gescheiterten Anschlags auf ihn, sondern aus Wettergründen. Der vorsichtige Vorschlag des Generals wird schliesslich vom Bundesrat gut geheissen. 

Am Ende einer ereignisreichen Woche, am Samstag 11. November, präsidiert Nationalrat Markus Feldmann im Berner Restaurant Bürgerhaus eine Pressesitzung des Aktionskomitees für die am 3. Dezember bevorstehende Abstimmung über das Beamtengesetz. Beim Mittagessen führt er ein «angeregtes Gespräch mit Bundesrat Pilet», das er in seinem Tagebuch zusammenfasst: 

Der Bundesrat war in den letzten Tagen durch internationale und militärische politische Lage scharf angespannt. – Pilet steht unter starkem Eindruck des Ausbaus der deutschen Spionageorganisation in der Schweiz und spricht offen von der Notwendigkeit, im Kriegsfall sofort bestimmte Leute zu erschiessen. Nach ihm zur Verfügung stehenden Nachrichten war die deutsche Spionage in Polen so ausgebaut, dass die Deutschen sogar in der Lage waren, den polnischen Truppen polnische Befehle mit der polnischen Chiffre zu erteilen. Raffiniert sollen die Deutschen vor allem das System der sogenannten «aus Deutschland Geflüchteten» ausgebaut haben. Leute, die angeblich als Gegner des deutschen Systems nach Polen entflohen, entpuppten sich bei Kriegsausbruch als deutsche Agenten, welche Telephonleitungen, zerstörten, Elektrizitätswerkelahmlegten und dem deutschen Einmarsch alle Unterstützung zuteil werden liessen. 

Die von den Polen gemachten bitteren Erfahrungen mit deutschen Spionen und Saboteuren haben Pilet zu denken gegeben. Telefonleitungen und Elektrizitätswerke fallen in den Bereich seines Departements. Feldmann weiter:

Auf meine Feststellung, es sei gar nicht nötig in der Presse die sich aufdrängenden Feststellungen zum Münchner Anschlag zu machen, da das Volk nur einer Meinung sei, bemerkte Pilet, das treffe nicht nur für das Volk, sondern auch den Bundesrat zu. Meine Feststellung, dass man im Politischen Departement die Lage hinsichtlich der innerndeutschen Wühlereien zu optimistisch sehe, beantwortete Pilet mit der Bemerkung, Motta sei eben etwas alt und man könne ihm nicht zumuten, dass er sich in diese ganz neuen Verhältnisse hineindenke. 

In seinen öffentlichen Reden ist Pilet abwägend vorsichtig, im persönlichen Gespräch kann er la langue facile, eine lose Zunge, haben – besonders, wenn beim Essen der Waadtländer Wein fliesst. So äussert er sich an jenem 11. November «sehr abfällig» über Unterstabschef Hans Frick und bezeichnet diesen als «ausgesprochen dumm». Ein Fehlurteil. Der spätere Ausbildungschef der Armee (1945–53) ist einer der klarsichtigsten Offiziere im Generalstab. Pilets negatives Urteil über Frick geht auf die ersten Tage nach Kriegsausbruch zurück, als er diesen für ein paar ihm unsinnig scheinende Massnahmen verantwortlich machte. 

Als der ebenfalls am Mittagessen teilnehmende Nationalrat Bratschi meinte, es «sei eigentlich eine Heuchelei, dass der Bundesrat in Berlin Hitler anlässlich des Münchener Attentats gratuliert habe», erwiderte Pilet, 

man habe das unbedingt machen müssen, man könne Hitler nicht als einen normalen Menschen betrachten und müsse diesen Glückwunsch ähnlich betrachten und beurteilen, wie wenn man einem Verrückten oder Betrunkenen auch gütlich zurede, statt ihn zu reizen. 

Auch dieses von Pilet leichtfertig hingeworfene Urteil über den Führer ist falsch. Zwar lassen Hitlers berüchtigte Wutanfälle ihn für verrückt erscheinen, aber er verfolgt seine Ziele mit grosser Konsequenz. Durch Worte, ob schmeichelnd oder beleidigend, lässt er sich nicht von dem aus strategischen Gründen gewählten Weg abbringen. In der dritten Novemberwoche legt sich die Spannung. Am 13. November 1939 schreibt der von Pilet regelmässig informierte Léon Savary:

Es gibt gegenwärtig keinen Grund anzunehmen, dass unsere Neutralität verletzt werden wird und dass eine der Kriegsparteien wissentlich und willentlich in die Schweiz eindringen will. Weder der Bundesrat noch das Armeekommando glauben, dass irgendeine der im Krieg stehenden Mächte diese Absicht gehabt hat oder hat. Aber dies bedeutet nicht, dass die unvorhersehbaren Ereignisse eines bewaffneten Konflikts, der keinem anderen gleicht und den die Experten selber für aussergewöhnlich halten, nicht auf brüske Weise die Absichten einer kriegsführenden Partei ändern können. Sie könnte dann verleitet sein, mit einem plötzlichen Gewaltstreich, dessen Opfer wir wären, einen dieser verzweifelten Auswege zu finden, die manchmal, wie es die Geschichte zeigt, die Ultima ratio eines militärischen Führers sind. 

Für Savary – und bestimmt auch für Pilet – besteht kein Grund zu einer Kriegspsychose und zur Furcht vor einer Invasion. 1946 wird Pilet in einem Bericht an seinen Nachfolger als Aussenminister, Max Petitpierre, schreiben:

Nachdem die Teilung von Polen vollendet war, konnte man sich die Frage stellen, ob vor dem Winter wichtige Operationen im Westen stattfinden würden. Die Truppenkonzentrationen der Wehrmacht beunruhigten ein wenig unsere öffentliche Meinung und beschäftigte, wie es sich gehörte, unseren Generalstab. Aber tatsächlich waren sie zusammengezogen, um Holland und Belgien zu bedrohen. Wir sind in jener Zeit keiner besonderen Gefahr ausgesetzt gewesen. 

Erst nach Ende des Kriegs wird die Welt erfahren, dass in der ersten Novemberwoche 1939 eine Gruppe von deutschen Oppositionellen in der Heeresleitung, der Abwehr und im Aussenamt bereit waren, einen Staatsstreich zur Beseitigung des Hitler-Regimes auszulösen. Kein hoher Offizier im Heer glaubte an den Erfolg der von Hitler befohlenen Westoffensive. Einige sprachen von Wahnsinn. Als Hitler allen militärischen und politischen Gegenargumenten gegenüber taub blieb, sah Generalstabschef Halder nur noch eine Beseitigung des Regimes als Mittel zur Verhinderung der von ihm für sicher gehaltenen Katastrophe. Mit Tränen in den Augen sagte er Ende Oktober einem Mitverschwörer, «er sei seit Wochen mit der Pistole in der Tasche zu Emil gegangen, um ihn evtl. über den Haufen zu schiessen». Emil war der Deckname, den seine Gegner Hitler gaben.

Halder suchte im Heer, in der Abwehr unter Admiral Canaris und im Auswärtigen Amt nach Bundesgenossen für den Putsch. Hohe Heerführer, Geheimdienstleute und Diplomaten waren eingeweiht und gewillt, sich der Verschwörung anzuschliessen, so, wenn auch zögernd, Staatssekretär Ernst von Weizsäcker. Über Mittelsmänner bemühte man sich, von Chamberlain die Zusicherung zu erhalten, dass die Engländer mit einer neuen Regierung einen gerechten Frieden schliessen würden. Als interimistischer Staatschef war der von Hitler abgesetzte Vorgänger Halders als Generalstabschef des Heers vorgesehen, Generaloberst a. D. Ludwig Beck. 

Alles war für den Staatsstreich bereit, der ausgeführt werden sollte, sobald Hitler den Befehl für den Angriff im Westen geben werde. Am 5. November gab der Führer diesen Befehl. Tags darauf ging der in Halders Pläne eingeweihte und zum Mitmachen bereite Oberbefehlshaber des Heers, von Brauchitsch, zu Hitler, um ihm ein letztes Mal seine Bedenken gegen die Westoffensive vorzutragen. Hitler unterbrach ihn sofort, überhäufte ihn tobend mit Vorwürfen und drohte den «Geist von Zossen» erbarmungslos auszurotten. Zossen war das Hauptquartier des Heers. Dann drehte Hitler sich brüsk um und verliess den Saal. 

Sekunden später rannte ein kreidebleicher und zitternder Brauchitsch zu dem draussen wartenden Halder und berichtete ihm von Hitlers Drohung. Für Halder war das Spiel aus. Sofort gab er Anweisung, alle kompromittierenden Dokumente zu vernichten. Die Verschwörung brach in sich zusammen. Halder und seinen Gesinnungsgenossen blieb als einziger Ausweg, mit allerlei List und neuen Argumenten über ungenügendes Material oder schlechtes Wetterbei Hitler immer wieder Verschiebung des Angriffsdatums auf den Frühling zu erreichen. Im den Wintermonaten 1940 wird dann der gleiche Halder als Generalstabschef den von Hitler gewünschten Plan «Gelb» verändern und verfeinern, bis auch er selber an die Möglichkeit eines von ihm zuvor für unwahrscheinlich gehaltenen Erfolges glaubt.


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.

«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne,12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv

Beitrag vom 19.03.2023

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