Holocaustüberlebende Agatha Rona © Annette Boutellier© Annette Boutellier

Die Bürde der Erinnerung

In ihrer Kindheit und Jugend haben sie Verfolgung und den Holocaust am eigenen Leib erfahren. Jetzt wohnen sie seit vielen Jahren in der Schweiz: 15 Frauen und Männer blicken in Simone Müllers Buch zurück auf ihr Leben – «Bevor Erinnerung Geschichte wird».

Von Annegret Honegger

Oft kommen sie in der Nacht, die Erinnerungen an damals. An das Grauen, das sie als Kinder und Jugendliche während der NS-Zeit erfuhren. Jetzt, Jahrzehnte später, sind sie die Letzten, die den Terror des Dritten Reiches erlebt und überlebt haben und davon erzählen können.

«Child Survivors», also «Kinderüberlebende», nennt man Holocaust-Überlebende, die zur Zeit der Verfolgung noch Kinder oder Jugendliche waren. Lange Zeit schenkte man ihnen wenig Aufmerksamkeit, weil man davon ausging, dass Kinder schnell «vergessen» und ihre Erfahrungen kaum Einfluss auf ihr späteres Leben hätten. Heute weiss man, wie frühe traumatische Erlebnisse die psychische und physische Entwicklung beeinträchtigen und sich auf die Biografie betroffener Kinder auswirken.

Simone Müller wollte wissen, wie Betroffene, die seit Langem im der Schweiz leben, im hohen Alter mit ihren Erinnerungen umgehen. Wie Verfolgung, Flucht, Gewalt, Deportation oder der frühe Verlust von Eltern und Geschwistern ihr Leben prägen. Die Berner Autorin und Journalistin hat in ihrem Buch 14 Jüdinnen und Juden und eine Zeugin Jehovas porträtiert, die zwischen 1923 und 1942 in zehn europäischen Ländern geboren wurden. Ihre Erzählungen sollen Geschehnisse festhalten, bevor diese Geschichte werden. Bevor es keine Menschen mehr gibt, die sich an das Unvorstellbare erinnern.

Jahrzehntelanges Schweigen

Manche der Porträtierten haben Vorträge gehalten oder sind an Schulen aufgetreten, damit auch die nachkommenden Generationen nicht vergessen, was nie wieder passieren darf. Andere begannen zu erzählen, als die Enkel sie nach ihrem Schicksal fragten. Ihnen konnten sie unbefangener antworten als den eigenen Kindern, die die Tabuthemen ihrer Eltern oft bewusst oder unbewusst ausklammerten. Viele haben jahrzehntelang geschwiegen. Weil sie, als der Krieg endlich vorbei war, einfach nur vergessen und endlich leben wollten.

Doch viele berichten, dass die Erinnerungen mit dem Alter und dem Nahen des Todes wieder mächtiger werden. Vor allem nachts. Dann liegen die Menschen wach oder Alpträume plagen sie. Manche erwachen von ihren eigenen Schreien, wenn sie ein Traum zurück in die Vergangenheit versetzt.

Das NS-Regime hat den Porträtierten ihre Kindheit genommen oder diese abrupt beendet. Nur wenige konnten rechtzeitig fliehen. Manche haben versteckt in Klöstern, Heimen, Bauernhöfen oder in Pflegefamilien überlebt. Viele wurden in Konzentrationslager verschleppt, erlebten Hunger, Kälte, ständige Angst, Grausamkeit, Zwangsarbeit und Todesmärsche. Die meisten verloren Eltern, Geschwister, Grosseltern. Manchmal wurde die ganze Verwandtschaft ausgelöscht.

Überleben dank dem Zufall

Manche überlebten, weil die perfekt organisierte Todesmaschinerie für einmal versagte. Andere verdanken ihr Leben mutigen Menschen, die für sie ihr eigenes Leben riskierten. Oft waren auch Glück und der Zufall im Spiel. Als man sie befreite, waren viele dem Tod näher als dem Leben. Und während der Körper langsam genas, litten die verwundeten Seelen weiter.

In den Porträts erzählen die Frauen und Männer auch von glücklichen Kindheiten, von Unbeschwertheit, von grossen Familienfesten, vom «ganz normalen Leben». Diese Normalität kontrastiert auf grausame Weise mit dem, was diese Kinder und Jugendlichen wenig später nach der Machtergreifung der Nazis erlebten. Dass sie Jüdinnen und Juden waren, hatten einige bis dahin nicht einmal gewusst, weil Religion nie eine Rolle gespielt hatte. Andere konnten aus ihrem Glauben Kraft schöpfen – oder verloren diesen. Denjenigen an einen Gott ebenso wie denjenigen an das Gute im Menschen.

Wer die Erinnerungen der 15 Porträtierten liest, wird viele Bilder selbst kaum mehr los. Der Abschied vom Grossvater, der zu alt für die Flucht war. Die Nachricht vom Tod der Grossmutter, die lebendig begraben wurde. Das Schicksal ihrer Liebsten beschäftigt die Überlebenden bis heute. Weil sie wissen oder auch nicht wissen, was genau mit ihnen geschah. Dass sie selbst überlebt haben, während so viele starben, macht den meisten schwer zu schaffen.

Neue Heimat in der Schweiz?

Für alle ging der Kraftakt des Überlebens nach dem Krieg weiter. Neben ihrer Familie hatten sie meist auch die Heimat verloren. In die Schweiz kamen sie um der Freiheit willen, wegen der Liebe oder einer beruflichen Chance. Einige nach einer zweiten Flucht nach den Aufständen in Ungarn und der Tschechoslowakei. Manchen ist die Schweiz zur neuen Heimat geworden, während andere nach der Entwurzelung nie wieder ein Gefühl von Daheim- und Geborgensein verspürten.

Erinnern -Holocaust¸Überlebende, Kurt Salomon, geboren 1935 in Aachen, lebt in Genf.
Kurt Salomon, geboren 1935 in Aachen, lebt in Genf. © Annette Boutellier

Anne Boutellier hat die 15 Frauen und Männer einfühlsam fotografiert und Simone Müller nähert sich den Lebensgeschichten in ihren Texten behutsam. Was sie erzählen und wo die Schwerpunkte liegen, bestimmen die Porträtierten selbst. Viele wollen reden, fürchten sich aber gleichzeitig vor den Gefühlen, die sie dabei wieder überwältigen. Oft fehlen ganze Kapitel der Erinnerung, fehlen die Worte für das Unsagbare. Das Hirn kann oder will nicht mehr zurück an jene Orte des Schreckens.

Noch etwa 400 Menschen, die Verfolgung und den Holocaust erfahren haben, wohnen in der Schweiz. Die meisten haben gelernt, mit dem Schmerz zu leben. Doch das Erlebte bleibt ständig präsent. Die Erfahrungen in der Kindheit haben die Frauen und Männer fürs Leben gezeichnet. «Die Gefühle von früher sind noch immer in mir», sagt eine Frau. «Man kann mich nicht befreien. Es ist einfach immer da….», eine andere. Oder: «Ich habe nie gelebt, ich habe immer nur überlebt». Und doch sagt auch jemand: «Ich hatte ein wunderschönes Leben. Irgendwie.»

Bevor Erinnerung Geschichte wird

Simone Müller (Texte), Annette Boutellier (Fotos):
Bevor Erinnerung Geschichte wird. Überlebende des NS-Regimes in der Schweiz heute – 15 Porträts.
256 Seiten, gebunden, 37 Fotografien.
Limmat Verlag, Oktober 2022, ca. CHF 38.–.

Zum gleichen Thema ist kürzlich ein weiteres Buch erschienen:

Buchcover: The last Swiss Holocaust Survivors

«Ich war nur noch eine Nummer.» / «Ich habe das Glück nicht verdient.» Dies sind nur zwei der Sätze, die von diesem Buch haften bleiben, in dem die letzten Schweizer Holocaust-Überlebenden zu Wort kommen. Dabei blicken sie die Lesenden auf Porträtfotos direkt an. Ihre Schilderungen und die Biografietexte lassen den Horror erahnen.

Anita Winter, «The Last Swiss Holocaust Survivors», Stämpfli Verlag, Bern, CHF 39.–, staempfliverlag.com
Porträts und Videos im Internet: Last Swiss Holocaust Survivors

Beitrag vom 21.02.2023

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