«Alles hat seine Zeit»

Sie ist eine der wenigen Schweizer Schauspielerinnen, die in Hollywood den Durchbruch geschafft haben: die Baslerin Marthe Keller. Nun kommt der Film «L’Ordre des Médecins» in die Deutschschweizer Kinos. Sie spielt darin eine todkranke Mutter. 

Text: Usch Vollenwyder, Fotos: Sonja Ruckstuhl

Als krebskranke Mathilde verbringen Sie im Film «L’Ordre des Médecins» Ihre letzten Tage im Spital. Warum gefällt Ihnen dieser Film? 

Er ist ehrlich, unaufgeregt und unsentimental. Bereits beim Lesen des Drehbuchs wusste ich: David Roux ist ein guter Regisseur, der den Spitalalltag aus eigener Erfahrung kennt. Er stammt aus einer Ärztefamilie und hat einen Bruder, der ebenfalls Arzt ist. Als die Mutter krank ins Spital eingeliefert wurde, trafen bei seinem Bruder persönliche Betroffenheit und berufliche Distanz aufeinander. Dieses Dilemma wurde zur Vorlage für David Roux’ Spielfilmerstling «L’Ordre des Médecins». 

Wie hat dieser Film Sie berührt?

Mich haben die Ruhe und Souveränität, welche die todkranke Mathilde ausstrahlt, besonders gerührt. Da ist kein Hauch von Frustration zu spüren, weil sie jetzt sterben muss. Sie sagt den schönen Satz: «Ich hatte das Leben, das ich mir gewünscht habe.» Damit identifiziere ich mich voll und ganz. Auch dass sie nicht mehr gegen ihre Krankheit kämpfen will, verstehe ich gut – im Gegensatz zu ihrer Familie, die sie nicht aufgeben will.

Mathilde sorgt sich bis zuletzt um ihre Familie…

Ja, sie sorgt sich vielmehr um ihren Mann, ihre Kinder und die Enkel als um sich selber. Sie möchte nicht, dass diese traurig sind, und versucht, ruhig zu bleiben – bis zuletzt. Nur ihrem Sohn, dem Arzt, zeigt sie, wie sehr sie Angst vor dem Sterben hat.

Gehört Angst zum Sterben?

Ich weiss es nicht. Ich kann mir mein Sterben nicht vorstellen. Vielleicht habe ich dann grosse Panik, vielleicht bin ich ganz ruhig … Ich spielte die Rolle der todkranken Mutter so, wie sie vom Regisseur vorgegeben war. Wenn ich spiele, werde ich ganz zur Person, die ich darstelle. Ich vergesse, dass es nur eine Rolle ist. Doch wenn der Dreh vorbei ist, ist er vorbei. Dann kehre ich augenblicklich in die Realität zurück. Wir haben selten auf einem Set so viel gelacht wie bei diesem Film.

Marthe Keller, in einem schwarzen Sommerkleid, spricht im Interview mit der Zeitlupe in einem Zürcher Café.
© Sonja Ruckstuhl

Wie hat dieser Film Sie beeinflusst?

Überhaupt nicht. Die Rolle war am gleichen Abend vergessen, als der Film abgedreht war. Seither stand ich bereits in sieben weiteren Filmen vor der Kamera. Im Film wurde ich schon erschossen, ich beging Suizid, ich starb mit 25 Jahren zum ersten Mal an Krebs. Und nie ist mir eine Rolle nachgegangen. Im Film spielt man das Leben, und da der Tod zum Leben gehört, gehört er auch in den Film. Aber nur als Spiel, als Fälschung. 

Ihre Mutter starb 2003 in einem Basler Spital. Wie haben Sie ihr Sterben erlebt?

Ich war tief beeindruckt, wie meine Mama liebevoll und warmherzig begleitet wurde. Ich drehte damals in Frankreich; jeweils um 17 Uhr durfte ich Schluss machen und nach Basel fliegen, um bei meiner Mutter zu übernachten. Ich hielt dann ihre Hand… Eine der Krankenschwestern, die meine Trauer bemerkte, sagte zu mir: «Ihre Mutter ist bereit zu sterben; sie sollten sie gehen lassen.» Ich verstand zuerst nicht ganz, was sie meinte. Dann las ich das Buch von Elisabeth KüblerRoss über Sterbende. 2010 spielte ich im Film von Clint Eastwood «Hereafter – Das Leben danach» als Dr. Rousseau die Rolle dieser berühmten Sterbeforscherin.

Sie spielten mit Dustin Hoffman, Marlon Brando, Al Pacino, Richard Burton, Yves Montand, Marcello Mastroianni und vielen anderen. Wer hat Sie besonders beeindruckt?

Sie waren alle anders, aber alle fantastisch. Diese Partner waren Filmgrössen, deren Interesse der Arbeit galt – und ich konnte davon profitieren. Es ist wie beim Tennisspielen: Wer sich mit einem Stärkeren messen kann, spielt automatisch besser. So ging es mir an der Seite dieser grossartigen Schauspieler: Ich wurde auf eine gute Arte und Weise herausgefordert.

Sie hatten damals einen kleinen Sohn. Wie brachten Sie Ihre Aufgabe als Mutter und Ihre Arbeit als Schauspielerin unter einen Hut?

Ich stand damals bei der Filmproduktionsgesellschaft Paramount Pictures unter Vertrag. Solange mein Sohn klein war, wohnte er mit seiner Nanny bei mir. Als er in die Schule kam, wurde mir von den Vorgesetzten ermöglicht, dass ich nie länger als vierzehn Tage von ihm getrennt war.

In diese Zeit fiel auch Ihre Beziehung mit Al Pacino. Welches Verhältnis haben Sie heute?

Ich war sieben Jahre mit Al Pacino zusammen, und wir sind immer noch sehr verbunden. Aber ich möchte nicht über mein Privatleben reden. Ich gebe ungern Interviews und ohnehin nur, weil sie zu meiner Arbeit gehören. So wie jetzt, wo ich mir wünsche, dass «L’Ordre des Médecins» einen guten Start in den Schweizer Kinos hat. Aber keinesfalls, um selber im Mittelpunkt zu stehen… Ich liebe meine Arbeit auf der Bühne und im Film – doch das Drumherum mag ich nicht.

Wie wird man mit dieser Haltung eine Hollywoodgrösse?

Das weiss ich nicht. Ich habe Ich habe jedoch schon immer dieser Überzeugung entsprechend gelebt. Ich bin nie mit jemandem ausgegangen, weil ich mir Vorteile erhofft habe. Ich war nie berechnend, habe den Erfolg nicht gesucht. Das Einzige, was mich immer interessiert hat und immer noch interessiert, ist die Arbeit: eine Rolle zu lernen, mir über sie Gedanken zu machen und sie so authentisch wie möglich zu spielen. Vielleicht würde ich anders reden, wenn ich keine Angebote mehr bekäme und mich aktiv um Engagements bemühen müsste. Aber zurzeit ist das kein Thema.

„Ich liebe meine Arbeit auf der Bühne und im Film, aber das Drumherum nicht„

Ist das Alter kein Hinderungsgrund für neue Rollen?

Nein, überhaupt nicht. Die Nachfrage nach älteren Schauspielerinnen ist gross; ich drehe einen Film nach dem anderen. In diesem Beruf kann man arbeiten, bis man stirbt! Als ich meine erste Falte entdeckt habe, fragte ich mich sicher, ob’s das jetzt schon war… Aber dann kam der Moment, in dem mir bewusst wurde: «Alles hat seine Zeit.» Es wäre ungerecht und undankbar, wenn ich mit meinem Alter hadern und dagegen ankämpfen würde. Ich hätte auch gar keine Zeit für irgendwelche Schönheitsoperationen. Zudem habe ich noch nie jemanden gesehen, der nach einem Lifting jünger und besser aussah. Nur anders.

Macht Ihnen das Alter überhaupt keine Probleme?

Überhaupt keine. Ich lebe gesund, ich esse gesund, ich spüre das Alter nicht. Ich bin ich dankbar, dass ich keine körperlichen Probleme habe; dass ich noch immer jeden Tag meine zehn bis fünfzehn Kilometer gehen und problemlos meine Texte auswendig lernen kann. Da spüre ich, dass Körper und Gehirn gut trainiert sind! Aber ich habe eine furchtbare, entsetzliche, eine ganz abnormale Angst vor Krankheit und Leiden. Ich versuche, nicht daran zu denken, und nehme das Leben, wie es kommt.

Sind Sie eine Fatalistin?

Das einzige, was ich in meinem Leben wirklich wollte, habe ich nicht bekommen: Ich wollte Tänzerin werden. Ich erhielt Tanzunterricht, war im Basler Kinderballett, durfte im Stadttheater mitspielen … Ich liebte diese Welt über alles! Mit sechzehn Jahren hatte ich einen Skiunfall und musste alle meine Träume begraben. Seither bin ich eine Fatalistin.

Von Basel nach Hollywood und Paris

Portrait der Schweizer Schauspielerin Marthe Keller, aufgenommen am 18. April 1973

© Keystone

Marthe Keller, geboren am 28. Januar 1945 in Basel, bekam bereits mit acht Jahren Ballettunterricht. Nach einem Skiunfall wandte sie sich der Schauspielkunst zu und engagierte sich zunächst in Deutschland. Ihre Filmkarriere begann 1969 in Frankreich; 1975 ging Marthe Keller nach Hollywood und schaffte an der Seite von Dustin Hoffman im Spionagethriller «Marathon Man» den Durchbruch. Ab den 1980er-Jahren spielte sie vermehrt Theater und wirkte in verschiedensten Fernsehproduktionen mit. Bis heute hat sie in weit über hundert Film-, Fernseh-und Theaterproduktionen mitgewirkt und bei mehreren Opernproduktionen Regie geführt. Für ihre Rolle in «Fragile» erhielt sie 2006 den Schweizer Filmpreis. 1971 wurde Sohn Alexandre de Broca geboren, ihre beiden Enkeltöchter sind erwachsen. Die Schauspielerin lebt in Paris und Verbier VS.

Nach welchen Kriterien wählen Sie Ihre Rollen aus?

Ein Stück oder ein Drehbuch muss mir gefallen, und der Regisseur muss mir zusagen. Dann nehme ich eine Rolle an. Ich lehne alle Rollen ab, die Vulgarität, Gewalt oder Oberflächlichkeit beinhalten – seien es Film-oder Theaterrollen. Ich spiele übrigens genauso gern im Theater wie im Film; sie sind für mich wie Mama und Papa: Ich hatte beide gleich gern. So kann ich auch nicht sagen, ob mir die Bühne oder das Filmset lieber sind.

Sie sind vielfach geehrt worden. Was bedeuten Ihnen Auszeichnungen?

Nichts. Sie freuen mich sehr, aber sie bedeuten mir nichts. Die meisten Dokumente hole ich nicht einmal ab. Auszeichnungen sind etwas für Sportler. Aber wer sagt denn, dass die eine Schauspielerin besser ist als eine andere? Das ist doch Geschmacksache.

Welche Traumrolle schwebt Ihnen noch vor?

Ich denke an keine Traumrolle. Wenn mir ein Regisseur eine Rolle zutraut und sie mir gefällt, übernehme ich sie gern. Wenn jemand an mich glaubt, glaube ich auch an mich. Aber selber bin ich zu unsicher, um aktiv auf eine Rolle zuzugehen.

Marthe Keller im Gespräch mit der Zeitlupe, im sommerlichen Zürich in einem Café.
© Sonja Ruckstuhl

Auch für die Inszenierung der Mozart-Oper «Don Giovanni» 2004 an der Metropolitan Opera in New York wurden Sie angefragt. Was reizte Sie?

Schon als Balletttänzerin war ich in ständiger Berührung mit Musik, Musik hat mich ein Leben lang begleitet. Auch Opernmusik habe ich schon immer geliebt. Die Inszenierung des «Don Giovanni» wurde ein Riesenerfolg. Es war die vierte Oper, bei der ich Regie führte, und die letzte: Zum einen liebe ich die Abwechslung, doch eine Operninszenierung lässt während rund eines Jahres keine andere Arbeit mehr zu. Zum anderen habe ich Angst, an diesen Erfolg nicht mehr anknüpfen zu können. Dann lasse ich es lieber bleiben und behalte die guten Erinnerungen.

Sie sind in Basel aufgewachsen, lebten jahrelang in Amerika, sind seit Jahrzehnten in Paris und haben ein Haus in Verbier. Wo fühlen Sie sich daheim?

Die Wohnung in New York habe ich nach der Wahl Trumps aufgegeben. Er war der Hauptgrund, warum ich definitiv nach Europa zurückgekehrt bin. Richtig zu Hause fühle ich mich in Paris, wo meine Familie lebt: mein Sohn und meine in der Zwischenzeit erwachsenen Enkeltöchter. In der Familie sprechen wir schon lange nur noch Französisch. In Verbier habe ich ein Chalet, dorthin ziehe ich mich gern zurück, um eine neue Rolle zu lernen. Mit Basel, überhaupt mit der deutschen Schweiz, bin ich seit dem Tod meiner Eltern nur noch durch meinen Bruder verbunden.

Was möchten Sie in Ihrem Leben noch erreichen?

Ich lasse es offen, wie auf einer Reise: Alles ist möglich, nichts steht fest. Bei der Arbeit und im Leben überhaupt gilt für mich: Der Prozess ist wichtiger als das Resultat, Neues zu probieren, interessanter als der Erfolg. Der Weg ist entscheidend, nicht das Ziel. Ich suche lieber, als dass ich finde. Ich mag Fragen mehr als Antworten. Fragen öffnen Türen auf ein Geheimnis hin, Antworten schlagen sie zu. Ich habe lieber offene Türen. ❋

Film «L’Ordre des Médecins»

Simon (Jérémie Renier) geht als junger, aufstrebender Lungenspezialist mit Engagement seiner täglichen Arbeit im Spital nach. Doch als seine Mutter (Marthe Keller) ins Spital eingeliefert wird, prallen persönliche Bedürfnisse und berufliche Überzeugungen aufeinander. Das Debutwerk «L’Ordre des Médecins» des jungen Regisseurs David Roux feierte im letzten Sommer am Filmfestival in Locarno seine Premiere. Am 8. August 2019 kommt das Drama in die Deutschschweizer Kinos. Weitere Informationen: www.cineworx.ch

 


Beitrag vom 13.08.2019