«Alles, was noch kommt, ist Zugabe»
Als Tatort-Kommissar Reto Carlucci bleibt er unvergessen, mit «Sennentuntschi» erlebte er seinen persönlichen Höhepunkt. Heute verfolgt Andrea Zogg am liebsten eigene Projekte. Der Bündner Schauspieler ist ein Künstler mit vielen Facetten.
Interview: Usch Vollenwyder, Fotos: Ethan Oelman
Zurzeit sind Sie mit dem Theater- und Musikstück «Georg Friedrich Händels Auferstehung» unterwegs. Worum geht es?
Der Schriftsteller Stefan Zweig beschreibt in der gleichnamigen Novelle die Lebens- und Schaffenskrise des berühmten Komponisten. Bei einer Lesung kam ich auf die Idee, diesen schönen Text mit Händels grossartiger Musik zu verbinden. Ich erarbeitete zusammen mit dem Pianisten Marco Schädler ein Bühnenstück: Darin treffen sich der Dichter und der Komponist in einer Zwischenwelt, und Händel erlebt seine doppelte Auferstehung. Entgegen der Prognose der Ärzte erholt er sich von einem Schlaganfall. Seine psychische Krise überwindet er mit dem «Messias», den er in 23 Tagen wie im Rausch komponiert hat.
Was bedeutet Ihnen Händels Musik?
Ich war im Lehrerseminar in Schiers, als ich zum ersten Mal Händels Oratorium «Der Messias» mit dem weltberühmten «Halleluja» mitsingen durfte. Dieses Werk hat mich schon damals elektrisiert und begeistert mich bis heute. Bei der Inszenierung dieses musikalischen Theaterabends habe ich übrigens meine persönliche Auferstehung erlebt.
Wie meinen Sie das?
Ich hatte schon länger gemerkt, dass ich zunehmend Mühe bekam, Texte auswendig zu lernen. Der Text von Stefan Zweig ist diesbezüglich besonders anspruchsvoll. Ich wurde zudem noch krank. Es blieben mir noch vier Wochen bis zur Premiere. Eigentlich unmöglich. Ich musste mich überwinden. Ich raffte mich auf, schöpfte aus meiner Erfahrung und perfektionierte die Technik des Auswendiglernens. «Georg Friedrich Händels Auferstehung» hat mir geholfen, aus dieser persönlichen Krise herauszufinden.
Mühe mit dem Auswendiglernen: Hängt das mit dem Alter zusammen?
Ja, es ist die Kehrseite der Medaille unseres schönen Berufs als Schauspielerinnen und Schauspieler. Mit der Erfahrung kann man aber vieles wettmachen. Sie kommt mit dem Alter und verändert auch die Sicht auf die Dinge, vor allem auf das Wesentliche: Alles wird intensiver, die Freude ebenso wie der Schmerz. Der Tod kommt näher, man schaut genauer hin.
Macht Ihnen das Angst?
Das Älterwerden und der Gedanke ans Sterben machen mir keine Mühe. Friedrich Dürrenmatt hat einmal gefragt, was wäre, wenn wir den Tod nicht hätten. Und gibt zur Antwort: Dann gäbe es keine Evolution und die Erde wäre schon längst an einem Brei von Einzellern erstickt. Dieses Bild gefällt mir. Für die Art von Leben, wie wir es kennen, ist der Tod das einzig Richtige. Wie langweilig wäre es, wenn wir zweitausend Jahre leben müssten! Wir hätten keinen Druck, kein Ziel, keinen Anrieb. So aber wollen wir vorwärtskommen, etwas erreichen, etwas abschliessen. Das ist Entwicklung. Deshalb gehört der Tod von der Geburt an zu unserem Leben. Ich hoffe nur, ich kann ihn dann immer noch so locker nehmen, wenn er vor der Türe steht.
Schon als Sie fünfzig wurden, meinten Sie, alles Weitere sei Zugabe. Jetzt sind Sie 64 …
Mit fünfzig realisierte ich: Du hast so viel erreicht, sei dankbar und froh. Es ist gut, so wie es ist. Ich muss nichts mehr. Alles, was noch kommt, ist Zugabe. Diese Zugabe nehme ich natürlich gerne an. So mache ich jetzt nur noch das, was ich wirklich will. Wenn es eine Rolle ist, muss ich für sie brennen. Sonst verfolge ich eigene Projekte. Seit sechs Jahren arbeite ich als Opernregisseur, als Fan klassischer Musik gibt mir das eine grosse Befriedigung.
«Wenn ich für etwas brannte, wollte ich es auch erreichen.»
Woher kommt Ihre Liebe zur Oper?
Nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen meine Grosseltern im Rahmen einer Schweizer Hilfsaktion einen Jungen aus dem zerbombten Berlin für zwei Monate bei sich auf. Der damals sechzehnjährige Christoph Kapler spielte Cello und suchte jeweils am Sonntag am Radio nach einem Sender, der klassische Musik ausstrahlte. Später wurde er Cellist bei den Berliner Philharmonikern und blieb meinen Grosseltern und meinem Vater sehr dankbar für die Zeit, die er bei ihnen verbringen durfte. Immer, wenn die Berliner Philharmoniker in der Schweiz auftraten, schenkte er ihnen Konzertkarten. Uns Kindern brachte er Langspielplatten wie «Peter und der Wolf» mit. Die kannte damals noch niemand, schon gar nicht auf dem Land.
War das der Anfang Ihrer Begeisterung für die klassische Musik?
Ich denke schon. Als mein Vater später einmal nach Chur hinunterfuhr, um neue Schuhe zu kaufen, kam er anstelle der Schuhe mit der «Zauberflöte» nach Hause. An Regensonntagen lag er auf dem Sofa und hörte sich die Platte an. Ich sass als Achtjähriger neben ihm, mit dem Libretto auf den Knien. Nach einem Jahr konnte ich die ganze Oper auswendig singen. Als Teenager hörte ich zwar den Unterschied zwischen Beatles und Rolling Stones, aber ob Deep Purple oder Uriah Heep spielten, interessierte mich schon nicht mehr. Einen Satz aus einer Beethoven-Sinfonie hingegen erkannte ich bereits nach wenigen Takten.
Trotzdem wurden Sie Schauspieler und nicht Musiker. Wie kam es dazu?
Im Lehrerseminar in Schiers war ich mit Stefan Gubser zusammen in der Theatergruppe. Um Geld für die Sanierung des Schwimmbads zu sammeln, sollten wir ein Stück aufführen. Natürlich durfte es nichts Gefälliges sein, und wir entschieden uns für Peter Handkes «Publikumsbeschimpfung». Kurz vor der Aufführung erhielten wir einen Anruf vom Verlag: Der Autor habe das Stück zurückgezogen. In unserer Verzweiflung telegrafierten wir Handke nach Paris. Wir gingen dazu in die Grossmetzgerei Spiess in Schiers, weil diese einen Telegrafen hatte. Handke hatte wohl Erbarmen mit uns Schülern – jedenfalls waren wir die einzige Bühne auf der ganzen Welt, die damals dieses Stück spielen durfte. Nach der Aufführung haben Stefan Gubser und ich beschlossen, Schauspieler zu werden. Und wurden beide «Tatort»-Kommissare.
«Ich hatte immer einen gewissen Ehrgeiz.»
Als «Tatort»-Kommissar Reto Carlucci sind Sie dem Schweizer Publikum bis heute in Erinnerung. Was verdanken Sie dieser Rolle?
Reto Carlucci hat mir Türen geöffnet, denn im Film und Fernsehen hat man eine ganz andere Reichweite als auf der Bühne. Als Pfarrer im Film «Schellen-Ursli» haben mich fast eine halbe Million Zuschauerinnen und Zuschauer gesehen! Nach dem ersten «Tatort» in Bern kam die Anfrage für Xavier Kollers Film «Reise der Hoffnung», mit dem ich 1991 den Oscar für den besten fremdsprachigen Film mitgewonnen habe. Meine Karriere hatte begonnen.
Welches ist der Höhepunkt Ihrer Karriere?
Der Film «Sennentuntschi» unter der Regie von Michael Steiner 2010. Ich hatte vorher und nachher nie mehr eine Rolle, in der ich so viele Ausnahmesituationen spielen durfte. Diese sind die Highlights für einen Schauspieler oder eine Schauspielerin: Wut, Sex, Rache, Trauer – der ganze Film verlangte fast nur solche extremen Gefühle.
Träumten Sie auch von Hollywood?
Ja, natürlich. Jeder Schauspieler hat diesen Traum. Ich hatte immer einen gewissen Ehrgeiz. Auch im Sport wollte ich jeweils gewinnen. Ich erinnere mich an ein Wochenende, als wir für unsere Pfadi Zukunftspläne machen mussten. Ich wünschte, dass wir im Langlauf so bekannt würden wie Pfadi Winterthur im Handball. Alle lachten und fanden es übertrieben. Wenn ich für etwas brannte, wollte ich es auch erreichen. Dieser Wille hat mich wahrscheinlich dahin gebracht, wo ich jetzt bin. Es muss nicht Robert De Niro oder Gérard Depardieu sein, auch in der Schweiz gibt es viele gute Schauspielerinnen und Schauspieler, mit denen ich zusammenarbeiten durfte und hoffentlich noch weiter zusammenarbeiten darf.
Haben Sie noch eine Traumrolle?
Ich würde mich natürlich noch einmal über eine grosse Shakespeare-Rolle freuen – König Lear zum Beispiel. Das ist das Altersstück schlechthin: Der zurücktretende König verteilt sein Reich. Die zwei älteren Töchter sind gierig und wollen alles haben. Die jüngste wird vom König verstossen. Als dieser seinen Fehler bemerkt, ist es zu spät. Aber auch eine unscheinbare Rolle kann zu einem Höhepunkt werden: dann, wenn alles stimmt, eine gute Zusammenarbeit herrscht, und man gute Bühnenpartner hat.
Vom «Tatort» zur Oper
Andrea Zogg wurde am 26. November 1957 in Tamins GR geboren. Er absolvierte das Lehrerseminar in Schiers GR, bevor er eine private Schauspielausbildung machte. Den Durchbruch schaffte er mit seiner Rolle als Kommissar Reto Carlucci in der Serie «Tatort». 2011 wurde er mit der Hauptrolle im Film «Sennentuntschi» für den Schweizer Filmpreis nominiert. Andrea Zogg spielte in zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen und auf Bühnen im In- und Ausland. Für sein Werk wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem 2016 mit dem Prix Walo. Zurzeit ist Andrea Zogg mit dem Musik- und Theaterstück «Georg Friedrich Händels Auferstehung» unterwegs. Andrea Zogg lebt mit seiner Frau Eva Roselt, freischaffende Regisseurin und Autorin, in
Warum ist Ihnen die Theaterbühne lieber als die Filmarbeit?
Der Live-Moment ist das Besondere. Der direkte Kontakt mit dem Publikum, das man spürt und das jedes Mal anders ist. Und selber ist man ja auch nicht immer gleichermassen präsent. Die Energie, die man aussendet, kommt gespiegelt zurück. Für mich ist das ein heiliger Moment. Ein Geheimnis birgt auch das Warten hinter der Bühne: Den Alltag hat man hinter sich, die Bühne vor sich. Man befindet sich in einer magischen Zwischenwelt.
Sie wurden auch schon «Alpen-Depardieu» genannt. Wie haben die Bündner Berge Sie geprägt?
In seinem Buch «Masse und Macht» weist Elias Canetti verschiedenen Ländern ein besonderes Symbol zu – Grossbritannien die Insel, Holland das Meer, Deutschland den aufrecht stehenden Wald und der Schweiz die Berge. Fast ungläubig hat Canetti geschrieben, dass die Schweiz im Zweiten Weltkrieg bereit gewesen wäre, das ganze fruchtbare Mittelland für den Schutz der Berge aufzugeben. Ich glaube schon, dass uns die Berge prägen. Dass ich ein «Setzgrind» sei, wurde mir schon mehrfach gesagt. Es war aber auch nötig, aus den Bergen wegzugehen. Nach Jahren im Ausland sind wir in die Bündner Berge auf über tausend Meter zurückgekehrt. Selbst meine Frau, die aus Bremen stammt, sagt immer wieder: dass sie einmal in die Berge ziehen würde, das hätte sie nie gedacht. Auch sie möchte dort nicht mehr weg.
In Ihrer Nähe wohnt auch Ihr mittlerer Sohn, der Autist ist. Wie hat seine Behinderung Ihre Familie geprägt?
Ich glaube, eine solche Herausforderung treibt eine Familie sehr schnell auseinander – oder schweisst sie zusammen. Ein schwer autistisches Kind zu haben, ist eine permanente Ausnahmesituation. Es ist, als hätte man ein Kleinkind, das man ständig im Auge behalten muss. Und während andere Kleinkinder grösser werden, bleibt ein autistisches Kind immer abhängig. Unser Sohn ist jetzt in einem betreuten Wohnen in unserer Nähe untergebracht, so dass wir ihn regelmässig sehen können.
Mit welchen Gefühlen blicken Sie in die Zukunft Ihrer Söhne und vielleicht auch einmal Ihrer Enkel?
Ich schaue eher optimistisch in die Zukunft. Meine Grossmutter sah 1926 von der Alp hinunter im Tal eine vorüberziehende Staubwolke und dachte, das sei ein durchgebranntes Pferdegespann. Dabei war es eines der ersten Autos, die den Kanton durchquerten. So viel hat sich seither verändert! Ich will damit sagen, dass die Alten aus
der Welt hinaus und die Jungen in sie hinein wachsen. Seit über siebzig Jahren herrscht bei uns Frieden, wir leben im Speckgürtel auf Kosten anderer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das für immer so weitergeht. Aber ich habe ein grundsätzliches Vertrauen in die Menschen: dass sie es schaffen, mit den immer neu am Horizont auftauchenden Problemen umzugehen. ❋
Andrea Zogg ist mit dem Musik- und Theaterstück «Georg Friedrich Händels Auferstehung unterwegs
- 23. März 2022, 20 Uhr Birmenstorf, Mehrzweckhalle
- 27. März 2022, 20 Uhr Baar, Dialoghotel Eckstein
- 2. April 2022, 20 Uhr Rotkreuz, Veranstaltungssaal FCG
- 3. April 2022, 11.30 Uhr Richterswil, KGH Rosengarten
- 3. April 2022, 17 Uhr Winterthur Seen, Ref. Kirche
- 9. April 2022, 20 Uhr Neuhausen am Rheinfall, Trottentheater
- 3. Mai 2022, 20 Uhr Bern, La Cappella