«Das Miteinander ist unsere Stärke»
Bei der Bevölkerung bleibt er mit seiner Bodenständigkeit, dem Optimismus und unkonventionellen Auftritten in Erinnerung. Bis heute gilt Adolf Ogi als Volksbundesrat. Der Tod seines Sohnes Mathias hat ihn den Menschen noch näher gebracht.
Text: Usch Vollenwyder; Fotos: Ethan Oelman
Die Kraftorte-Forscherin Andrea Fischbacher stellt im neusten Buch über Dölf Ogi Ihre Lieblingsplätze im Gasteretal vor. Was bedeuten sie Ihnen?
Ich ging schon als Bub und später auch als Bundesrat regelmässig ins Gasteretal. Aus diesem Tal oberhalb von Kandersteg, eingebettet zwischen Balmhorn und Doldenhorn, stammen meine Vorfahren. Dort hole ich Kraft, dort werde ich demütig: Die Bergwelt existierte längst vor mir und wird immer noch da sein, wenn es mich nicht mehr gibt. Dieser Gedanke relativiert meine Bedeutung, und gleichzeitig ist er Ansporn: In der kurzen Zeit, die jedem von uns Menschen auf der Erde zur Verfügung steht, lohnt sich der volle Einsatz.
Voller Einsatz und Optimismus sind Ihre Markenzeichen. Woher kommt diese Energie?
Mein Vater war mein Vorbild. Er war Bergführer, Förster, Skischulleiter und Gemeindepräsident von Kandersteg. Früh musste ich anpacken, ich weiss, wie man eine Schaufel in der Hand hält, wie man Holz hackt und wie unsere Kuh zu melken war. Ich arbeitete mit beim Wildheuet, an den Lawinen- und Wildwasserverbauungen und half beim Aufforsten von Wald. Mein Vater klagte nie über Müdigkeit. An den Wochenenden führte er Bergsteiger auf die Blüemlisalp; mit dem Verdienst als Bergführer ermöglichte er mir den Besuch der Ecole supérieure de commerce in La Neuveville. Das hat mich geprägt.
Wie kamen Ihnen Durchhaltewille und Einsatzbereitschaft als Bundesrat zugute?
Ich musste kämpfen – als Kandersteger, Primarschüler, Bergführersohn. Mich spülte es nicht vom Hörsaal in den Ratsaal. Es hat mich getroffen, dass Medien mich für das Bundesratsamt als intellektuell nicht fähig bezeichneten. Dass bereits als Nationalrat und als Präsident der SVP meine Akkusativfehler wichtiger zu sein schienen als das, was ich inhaltlich zu sagen hatte. Dass sich Journalistinnen und Journalisten auch über mein gutes Englisch mokierten. Solche Bemerkungen taten nicht nur mir, sondern ebenfalls meiner Familie weh. Gleichzeitig spornten sie mich an. Als ich bei meinem Abschied 2000 eine Standing Ovation bekam, sagte ich: «Meine Damen und Herren, bei meiner Wahl zum Bundesrat war ich nicht so schlecht wie mein Ruf und bin heute nicht so gut wie mein Nachruf.»
Sie gelten als Vater der Neat. Welche Erinnerungen haben Sie?
Die Neat war mein grösstes verkehrspolitisches Projekt. Schon die Bundesräte Spühler, Bonvin, Ritschard, Gnägi und Schlumpf hatten Studien und Analysen für eine neue Alpeneisenbahn am Gotthard und am Lötschberg in Auftrag gegeben. Mit dem Papier hätte man einen Grossraum füllen können! Es brauchte Mut, diesen 20-Milliarden-Bau anzugehen, und das Gespür, dass politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich der richtige Zeitpunkt dafür gekommen war. Ich war gefordert: Jeden Mittwoch musste ich in der Bundesratssitzung drei weitere Kollegen überzeugen, sich für die Neat und die nötige Mittelbeschaffung auf meine Seite und gegen den Finanzminister zu stellen.
Ich erklärte in meinem Français fédéral de Kandersteg die Schweiz.
Sie mussten viel Überzeugungsarbeit leisten …
Schon nur bis ich meine Amtskollegen in den Nachbarländern von diesem Projekt überzeugt hatte! 37 Mal reiste ich zwischen 1988 und 1992 ins Ausland. Mir schien, ich würde gegen Wände reden, es gelang mir einfach nicht, ihre Herzen zu berühren: Sie hielten an einem Ausbau der Autobahn fest. In einer schlaflosen Nacht beschloss ich einen Strategiewechsel. Von nun an lud ich meine Kollegen nach Wassen ein, zeigte ihnen das enge Tal mit der vierspurigen Autobahn, der Kantonsstrasse und der Reuss. Wer noch nicht verstanden hatte, dass sich in dieser Enge nicht eine zweite Autobahn bauen liess, lud ich ins Kirchlein ein. In dieser besonderen Atmosphäre und unter dem Kreuz diskutierte und argumentierte ich weiter.
Sind Sie stolz auf Ihr Werk?
Es ist eine grosse Genugtuung. Mit dem Ceneri-Tunnel wurde das Projekt abgeschlossen – ohne Bau- oder Finanzskandal! Das gute Fundament wurde in den Anfangszeiten gelegt. Aber es brauchte einen unglaublichen Einsatz, tagelange Sitzungen mit den verschiedenen Kommissionen, vor dem Nationalrat und Ständerat musste ich bis ins Detail Red und Antwort stehen. Und dann kam die Volksabstimmung! Viermal hatte ich in dieser Zeit Nierensteine, mehr als einmal habe ich im Stillen geweint. Dass die Neat schliesslich realisiert werden konnte, ist auch der Verdienst meines Nachfolgers Moritz Leuenberger. Ich schätze ihn bis heute sehr!
Wie hat sich die Politik seit Ihrem Weggang verändert?
Für eine Antwort auf diese Frage würde ich einen halben Tag brauchen. Ganz klar hat sie sich verändert! Ich nenne nur ein Beispiel: Unsere Beziehungen zum Ausland werden heute weniger gepflegt als früher. Mir war der persönliche Kontakt immer sehr wichtig, manchmal ging ich auch ungewohnte Wege. Ich erinnere mich, wie ich die Aufnahme der Jungfrau-Aletsch-Arena in die Liste der Unesco-Welterben zu vertreten hatte. Unesco-Generaldirektor Matsuura sass mir gegenüber wie eine Sphinx, ich redete und beschwor ihn – vergebens. Schliesslich lud ich ihn in die Schweiz ein, holte ihn in Genf ab, überflog mit ihm den Aletschgletscher und das Jungfraugebiet – wenig später gehörte die Region zum Unesco-Weltnaturerbe.
Die vier M waren mir immer wichtig: Man muss Menschen mögen.
Sie sind bekannt für Ihr unkonventionelles Vorgehen.
Ich war als Bundespräsident zu einer Konferenz der EU-Staatsoberhäupter eingeladen. Als Nicht-Mitglied war das für die Schweiz problematisch. Das EDA hatte deshalb für mich eine ausgeklügelte Rede vorbereitet, die von meinen Bundesratskollegen etwa zwanzig Mal abgeändert worden war. Als mir der französische Staatspräsident Jacques Chirac das Wort erteilte, brummte Kommissionspräsident Romano Prodi neben mir, die Schweiz erwarte sowieso immer Vorteile und Ausnahmen. Da legte ich die Rede auf die Seite und erklärte den Anwesenden in meinem Français fédéral de Kandersteg die Schweiz – unter anderem die direkte Demokratie, die vier Sprachen, die vier Kulturen, 26 Kantone und 2300 Gemeinden, die seit 1848 in Freiheit und Frieden zusammenleben. Alle hörten gebannt zu. Schliesslich sagte einer: «Was wir heute mühsam in Europa zu erreichen versuchen, hat die Schweiz bereits 1848 geschafft.»
Sie waren ein sehr volksnaher Bundesrat. Wie haben Sie das geschafft?
Die vier M waren mir immer wichtig: Man muss Menschen mögen. Ich war offensichtlich ein Volksbundesrat – vielleicht auch, weil ich aus einfachen Verhältnissen stammte und kein Akademiker war. Ich war einer der ihren, vor dem sie keine Angst zu haben brauchten. Noch heute kommen fremde Menschen auf mich zu. Das zeigt mir, dass ich den richtigen Weg gegangen bin.
Wo fanden Sie Kraft, wenn der Alltag allzu schwierig wurde?
Natürlich in den Bergen. Aber vor allem auch bei meiner Familie. Sie stand immer zu mir und hat mich unterstützt – jedes Familienmitglied auf seine Weise. Auch wenn ich oft sehr spät nach Hause kam, hörte ich doch nie einen Vorwurf.
Auch Ihre Ursprungsfamilie ist Ihnen bis heute sehr wichtig. Wie kommt das?
Ich empfinde meinen Eltern gegenüber unglaublich viel Wertschätzung. Sie gaben mir Wärme und Vertrauen mit auf den Lebensweg. Als Elfjähriger durfte ich meinen Vater auf einer Bergtour von der Blüemlisalp zum Morgenhorn begleiten. Ich erlebte, wie er als Bergführer in die Eiswand des Morgenhorns während zweieinhalb Stunden Stufen schlug, um seine beiden Kunden optimal zu sichern. Als ich sechzehn war, nahm er mich mit aufs Matterhorn. Solche Erlebnisse wirken und bleiben unvergessen.
Ihr Vater hat Sie auch sehr unterstützt, als Sie Bundesrat wurden.
Er wusste natürlich, wie an meinen intellektuellen Fähigkeiten gezweifelt wurde. Er sagte zu mir: «Döfi» – so nannte man mich zu Hause –, «solltest du, mein Sohn, Bundesrat werden, wünsche ich dir Weisheit. Wissen kann man sich aneignen, Weisheit muss man sich erarbeiten. Bleibe deinen ethischen Grundsätzen treu. Diese müssen der Kompass in deinem Leben und in deinem Schaffen sein.»
Welches waren die Leitplanken in Ihrem Leben?
Zum Beispiel der Glaube. Der Pfarrer von Kandersteg hat mich gelehrt, den Glauben nicht auf der Zunge, sondern in meinem Herzen zu tragen. Ich glaube an den Herrgott. Nur einmal wurde ich verunsichert – als wir 2009 unseren Sohn Mathias verloren haben. Warum musste er vor uns sterben? Warum? Warum? Meine Frau, meine Tochter und ich sind fragend und suchend zurückgeblieben.
Hat Ihnen der Herrgott je eine Antwort gegeben?
Nein. Der streng katholische Ex-Skifahrer Pirmin Zurbriggen meinte einmal, Mathias gehe es im Himmel besser als hier unten auf der Erde. Das hat mich berührt. Mit meinen 78 Jahren bin ich bereit, auch einmal dorthin zu gehen. Bis es so weit ist, wünsche ich mir noch Gesundheit und Lebensfreude. Ich kann gut akzeptieren, dass das Leben gelegentlich zu Ende geht.
Zum Gedenken an Mathias gibt es die Stiftung «Freude herrscht». Wie kam es dazu?
Mathias war Anwalt, ein liebenswürdiger, feinfühliger Mensch und ein begeisterter Leichtathlet. Nach seinem Tod wollten seine Freunde und Studienkollegen einen Verein namens «Freude herrscht» gründen. Ich konnte mir das zunächst überhaupt nicht vorstellen: Nach allem, was wir erlebt hatten, herrschte in unserer Familie keine Freude mehr. Ich wusste aber auch, dass ein solches Projekt ganz im Sinn von Mathias wäre. Deshalb übernahm ich das Präsidium und wandelte nach einigen Jahren den Verein in eine Stiftung um.
Was tut die Stiftung?
Zum einen organisieren wir Anlässe für Kinder und Jugendliche, zum Beispiel Aktiv-Wochenenden in Zermatt oder in Kandersteg. Zum anderen unterstützen wir bestimmte Projekte, beispielsweise Kinderferienlager oder die Jugend-Sprungschanzen in Kandersteg, die im Winter wie auch im Sommer genutzt werden können. Ziel ist es, Kinder und Jugendliche für Sport und Bewegung zu begeistern.
Mit Corona ging ein schwieriges Jahr zu Ende. Was wünschen Sie den Schweizerinnen und Schweizern für 2021?
Ich wünsche uns allen die nötige Kraft, die Probleme, die noch vor uns liegen, anzugehen. Und sie miteinander – ich betone: miteinander! – mit Disziplin und Eigenverantwortung zu lösen. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl ist unsere Stärke: Gemeinsam werden wir die Schwierigkeiten überwinden! ❋
Volksnaher Magistrat
Adolf Ogi, Dr. h.c. mult. und Prof. h.c., wurde am 18. Juli 1942 in Kandersteg geboren. Nach seiner Ausbildung an der Ecole supérieure de commerce in La Neuveville arbeitete er zunächst im Bereich von Tourismus und Sport, bevor er Direktor des Schweizerischen Skiverbands SSV und Generaldirektor von Intersport Schweiz Holding AG wurde. 1978 trat er in die SVP ein, wurde 1979 Nationalrat, amtete dann als Parteipräsident und wurde 1987 Bundesrat. 2000 verabschiedete er sich aus der Bundespolitik und blieb bis 2007 Uno-Sonderberater für Sport im Dienst von Entwicklung und Frieden. Adolf Ogi ist verheiratet und hat eine erwachsene Tochter. Sein Sohn Mathias starb 2009 an Krebs. Der Alt-Bundesrat präsidiert die zum Andenken an seinen Sohn gegründete Stiftung «Freude herrscht», die Sport- und Bewegungsprojekte für Kinder und Jugendliche unterstützt.
❱ Buch: Adolf Ogi, Alt-Bundesrat und Bergler, stellt in einem neuen Buch Wanderungen zu seinen Lieblingsorten im Gasteretal ob Kandersteg vor. Das Buch von Andrea Fischbacher, Leiterin der Forschungsstelle Kraft–und Kulturorte Schweiz, ist reich bebildert mit Fotos aus der Gegend. Andrea Fischbacher: «Lieblingsorte Dölf Ogi. Im wildromantischen Gasteretal», Werd & Weber Verlag, Thun/Gwatt 2020, ca. CHF 41.90.