«Beim Fotografieren habe ich manchen Elfmeter verschossen»
Auch mit 74 Jahren kann den ehemaligen Fussballtrainer Hanspeter Latour nichts bremsen – ausser die Natur. Im Eriz ob Thun verbringt er Stunden damit, Tiere zu beobachten. Ein Gespräch über Distelfinken, Biotope und die Tücken der Fotografie.
Text: Fabian Rottmeier, Fotos: Pia Neuenschwander
Als Fussballcoach waren Sie jahrelang auf Punktejagd. Heute versuchen Sie, als Naturliebhaber seltene Tiere zu fotografieren. Welches Fotosujet steht derzeit zuoberst auf Ihrer Wunschliste?
Den Steinkauz würde ich gerne mal erwischen – oder einen Luchs. Weil ich bereits rund 110 verschiedene Vögel ablichten konnte, wird es immer schwieriger, neue Arten vor die Linse zu bekommen. Kürzlich habe ich einen Steinschmätzer beobachtet. Über solche Erfolge freue ich mich genauso wie einst als Trainer über einen wichtigen Sieg.
Wenn Sie auf die Tiere lauern, müssen Sie fürs Foto jederzeit bereit sein – ähnlich wie früher als Fussballtorwart. Mussten Sie als Hobbyfotograf viel Lehrgeld bezahlen?
Und wie! Da muss man zuerst einmal viele Erfahrungen sammeln. Noch heute misslingt einiges. Was ich beim Fotografieren schon für Penaltys verschossen habe! Etwa beim Waldkauz. Wegen falscher Kameraeinstellungen geriet das Bild zu meinem Ärger unscharf. Ein anderes Mal sass ich draussen im Garten unseres Chalets, der lang ersehnte Vogel kam angeflogen, als meine Frau «Hanspeter, ässä!» rief … Manchmal ist es auch ratsam, nicht im erstbesten Moment abzudrücken. Die meisten Tiere reagieren auf kleinste Bewegungen, und man hat nur eine Chance.
Was gehört mittlerweile zu Ihrer Tarnausrüstung?
Ausser unauffälliger Kleidung nichts. Da bin ich bescheiden unterwegs. Ebenso bei meiner Kameraausrüstung. Mit kleinem Budget etwas zu erreichen, hat mich schon als Fussballtrainer fasziniert. Aber: Wenn ich anderen Leuten begegne, fahre ich schon mal mein Zoom-Objektiv heraus, damit meine Kamera etwas hergibt. Wissen Sie: Ich fotografiere eigentlich gar nicht so gern. Wenn man auf den Bildern erkennt, ob es ein Fisch oder ein Vogel ist, bin ich zufrieden – und habe meinen Fotobeweis. Wichtiger als die Tarnung ist übrigens, den Tagesrhythmus der Tiere zu kennen und vor ihnen da zu sein.
Man kennt Sie als sehr lebhaft. Werden Sie beim Warten nicht ungeduldig?
Das Leben als Fussballtrainer war phasenweise hektisch, und ich hatte dauernd Leute um mich herum. Frisch pensioniert habe ich die Ruhe in der Natur als Kontrast sehr genossen. Wenn ich eine Stunde in einem Bachgraben sitze, erlebe ich die Zeit ganz anders. Gedanklich bin ich oft an einem anderen Ort. Die Kunst ist, dabei das Blickfeld trotzdem nicht aus den Augen zu verlieren.
Wir sitzen im über 800 Quadratmeter grossen Naturgarten Ihres Zweitwohnsitzes im Eriz ob Thun, die Bergkette der Sieben Hengste im Blick. Sie haben diesen Garten grösstenteils selbst angelegt. Worauf sind Sie besonders stolz?
Auf das Biotop und sein glasklares Wasser. Dahinter stecken ein grosser Lernprozess, viel Geduld und Arbeit, denn in Teichen sind die Algen dein Gegner. Ich kenne einige, die deswegen die Freude daran verloren haben. Mein Teich hat eine Flachwasserzone, aber auch 1,75 Meter tiefe Stellen, die voller Lebewesen sind.
Was war der Schlüssel zum Erfolg?
Das Hauptproblem zu Beginn ist, dass es im Biotop zu wenig Wasserpflanzen hat und sich die Algen stark vermehren. Es hat Jahre gedauert, bis ich diese in Schach halten konnte. Deshalb bereitet mir meine «Glungge» heute viel Freude.
Sie setzen sich in Vorträgen und Ihrem dritten Buch «Natur mit Latour» stark für mehr Biodiversität ein und haben im Innereriz eine Wiese für Wildblumen gepachtet. Weshalb glauben Sie, dass wir Menschen den Klimawandel noch erfolgreich abfedern können?
Weil bei Mensch und Natur vieles nebeneinander möglich ist – aber bloss, wenn man Rücksicht nimmt. Daran glaube ich. Ich vermittle lieber, was noch intakt ist, als bloss dem Verlorenen nachzutrauern. So hat mir ein Bauer zum Beispiel die Aufnahmen eines Rauchschwalbennestes mit Internet-Anschluss geschickt. Der Router unter dem Dach war der ideale Ort fürs Nest. Und im Kanton Bern habe ich Uferschwalben gesehen, die in Kiesgruben brüteten.
«Mein Vater hat uns vermittelt, dass man der Natur Sorge tragen muss, weil sie allen gehört.»
In Ihrem Garten wirken Sie gar als Vogelbademeister und frischen das Wasser, das sich auf einem Naturstein ansammelt, täglich auf. Fühlen Sie sich für die Tiere und Pflanzen verantwortlich?
Absolut. Ich bin ihr Gastgeber, stelle meinen Garten zur Verfügung und freue mich, wenn es allen gutgeht. Diese Pflege wird gerne unterschätzt. Im Winter ist es wichtig, dass man die Vogelhäuschen und Futterstellen sauber hält und den Vögeln frisches Wasser und Nahrung anbietet. Aber immer nur dort, wo ihnen die Katzen nichts antun können.
Machen Sie sich manchmal auch Sorgen um die Tiere?
Wenn sie länger nicht mehr vorbeischauen, ja. Aber ich interessiere mich nicht nur für Vögel, sondern für die gesamte Biodiversität. Dazu gehören Marder und Füchse ebenso wie alle Pflanzen. Bei den Pflanzen kenne ich mich aber noch weniger gut aus. Ich habe mich bewusst auf alles beschränkt, was sich bewegt. Um die Pflanzen kann ich mich dann im hohen Alter kümmern – die springen mir beim Fotografieren nicht davon …
Sie denken taktisch voraus – ganz der Fussballtrainer.
Eine Strategie kann nie schaden. Auch wenn sich die Natur oft anders verhält, als man denkt. Man kann sich noch so gut vorbereiten: Auf Abruf schaut kein Tier vorbei. Langweilig wurde es mir auf Naturbeobachtungen trotzdem noch nie. Obwohl viele Leute ja kaum glauben können, dass ich stundenlang und wortlos hinter einem Baumstamm stehen kann.
Ihr Naturinteresse verdanken Sie Ihrem Vater, einem naturverbundenen Menschen, der auch Distelfinken mit Kanarienvögeln kreuzte.
Der Distelfink ist in den Erinnerungen meiner Kindheit der bunteste Vogel, den es gibt. Ein sehr schöner Vogel, der hierzulande das ganze Jahr über zu Hause ist. Ein Distelfink auf einer schneebedeckten Kardendistel ist etwas Wunderschönes. Mein Vater züchtete auch japanische Kampffische, wir hatten einen Hund und eine Katze. Er hat uns vermittelt, dass man der Natur Sorge tragen muss, weil sie allen gehört. Als Trainer sagte ich stets: Ein Fussballer spielt nicht schlechter, bloss weil er eine Eiche von einer Buche unterscheiden kann.
«An Vorträgen empfehle ich allen, ihren Traum zu leben, selbst bei Umwegen. Man darf nie zu schnell aufgeben.»
War auch Ihr Vater ein Geschichtenerzähler?
Nein, meine Eltern waren beide nicht so redselig. Diese Eigenschaft habe ich mir wohl durch mein Traineramt angeeignet. Als Trainer lernt man, vor einer Mannschaft oder vor den Medien zu sprechen. Nach einer Niederlage kann man nicht behaupten, man habe gewonnen. Aber: Man kann die Leistung ein bisschen besser machen, als sie tatsächlich war. Nach einem 0:0 habe ich mit dem gegnerischen Trainer auch schon vereinbart, die Partie an der Medienkonferenz nicht noch schlechter zu reden als nötig. Ein Metzger sagt ja schliesslich auch nicht, er habe heute bloss schlechteres Fleisch.
Sie sind ein gefragter Redner und können die Menschen für sich begeistern. Wie erklären Sie sich diese Gabe?
Das war wohl schon immer meine Art. Mit Jahrgang 1947 kann ich mich zu einer glücklichen Generation zählen, die von Kriegen und – bis Corona – von Krisen verschont wurde. Wichtig ist mir bei meinen Reden, nie zu vergessen, dass es auch viele Menschen gibt, denen es nicht so gutgeht.
Den Fussball verfolgen Sie längst nur noch am Rande. Ihr Interesse gilt der Natur. Hatten Sie schon immer den Drang, sich einer Leidenschaft voll und ganz zu verschreiben?
Ja, das war schon immer so – und hat nicht nur Vorteile. Man ist einseitig, bleibt in vielem unbegabt und ist wenig zu Hause. Meine Frau war immer verständnisvoll und hat mich unterstützt, und dass unsere Kinder so toll geraten sind, ist alleine ihr Verdienst. Nächstes Jahr feiern wir unsere goldene Hochzeit. An Vorträgen empfehle ich allen, ihren Traum zu leben, selbst bei Umwegen. Man darf nie zu schnell aufgeben. Ohne Leidenschaft wäre ich wohl unzufrieden. Man sollte mein Tun aber nicht mit Unruhe oder Unstetigkeit verwechseln.
Können Sie sich Ihr derzeitiges Fussball–Desinteresse sonstwie erklären?
Vielleicht ist es eine Art Selbstschutz. Im Thuner Stadion, wo mich jeder kennt, möchten sich viele mit mir unterhalten. Wenn das Heimteam dann einen schlechten Tag erwischt, würden meine Aussagen möglicherweise falsch verstanden und gegen die Verantwortlichen verwendet. Es ist für alle besser, wenn ich den Fussball aus der Ferne verfolge. Die Resultate meiner ehemaligen Vereine, auch diejenigen in den unteren Ligen wie Dürrenast oder Solothurn, schlage ich aber noch immer interessiert in der Zeitung nach.
Sie waren als Trainer mehr von der Teamarbeit als vom Fussballspiel angetrieben.
Genau. Ich wollte immer als Gruppe etwas Überdurchschnittliches erreichen – bereits als Spieler, als ich oft Teamcaptain war. Ich betrachtete es als meine Aufgabe, jeden Einzelnen stärker zu machen und ein verschworenes Team zu bilden. Der Fussball war das ideale Mittel zum Zweck. Deshalb wurde ich nach einer gravierenden Schulterverletzung auch mit 27 Jahren Trainer. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Die Sportart Fussball ist grossartig. Ich verdanke ihr eine wunderbare Zeit.
Aber die Schweizer Spiele an der Europameisterschaft lassen Sie sich als ehemaliger SRF-Fussballexperte schon nicht entgehen, oder?
Die schaue ich mir natürlich gerne an. Es kam aber auch schon vor, dass ich ein Länderspiel wegen eines Kuckucks draussen unterbrechen musste. Schliesslich hatte er mich zuvor mehrere Male «versecklet» …
Gibt es überhaupt Tage, an denen Sie nicht vor Energie strotzen?
Tage vielleicht nicht gerade, aber Minuten. Dann reisse ich mich kurz zusammen.
Trotzdem: Haben Sie diese Ruhe und Zeit für sich alleine – nach all den Jahren im Rampenlicht – nicht auch gebraucht?
Ich hatte nie das Gefühl, am Anschlag zu sein. Aber vielleicht war es unbewusst ein gesundheitlich guter Entscheid, mich etwas zurückzuziehen und viel Zeit alleine zu verbringen. Ich war mit mir im Reinen und hatte zum richtigen Zeitpunkt einen Schlussstrich gezogen. Auch bei meiner Arbeit als SRF-Fussballexperte, die ich nach der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien beendet habe. Man soll auch bereit sein, Jüngeren Platz zu machen. Ich wollte selbstbestimmt abtreten. Heute bereue ich nichts.
Nimmt man den Lauf der Natur im Alter anders wahr? Als Metapher fürs Leben?
Ja, als Metapher dafür, dass man sich in der Regel überschätzt. Aber dazu stehe ich. Das macht auch nichts. Manchmal tut es gut, zu merken, dass man eben doch nicht alles so gut im Griff hat, wie man dachte.
Die Natur lasse Sie zur Ruhe kommen und lehre Sie Demut, sagten Sie einst. Wie viel hat dieses Bedürfnis mit Ihrem jetzigen Lebensabschnitt zu tun?
(Blickt in die Ferne) Schauen Sie, ein Trauerschnäpper ist gerade im Vogelhäuschen verschwunden! Diese Vögel fliegen von Afrika hierher und sind nun am Brüten … Aber zurück zur Frage. Ja, das hängt bestimmt zusammen. Es wäre ja seltsam, wenn ein 25-Jähriger gleich denken würde wie ein 70-Jähriger. Die Pensionierung ist ein wichtiger Lebensabschnitt. Diesen Übergang meistern nicht alle gleich gut. Ich rate allen frisch Pensionierten, sich etwas Neues zu suchen. Wer sich mit unbekannten Themen oder Hobbys beschäftigt, hat jeden Tag die Chance, besser zu werden. Das spornt an und tut gut. Bei mir funktioniert das bestens. ❋
- Erfahren Sie zudem im Zeitlupe-Video, wen Hanspeter Latour bewundert und über welche Postkarten er sich besonders freut. Zum Video: zeitlupe.ch/latour
Energiebündel aus Thun
Hanspeter Latours legendärster Satz als Fussballtrainer wurde 2014 zum Titel seiner Biografie: «Das isch doch e Gränni!» Der 74-jährige Thuner spielte als Torwart für Thun, Le Locle und YB, musste seine Karriere aber wegen einer Verletzung früh beenden und übernahm in Dürrenast sein erstes Traineramt. Es folgten Engagements u.a. in Solothurn und in Clubs wie GC, Basel und dem 1. FC Köln. Die grössten Erfolge konnte er von 2001 bis 2004 als Thun-Trainer feiern. Sehr beliebt wurde er bis 2014 als SRF-Fussballexperte. Heute widmet sich der gelernte Chemielaborant leidenschaftlich der Natur. Er hat darüber im Werd & Weber Verlag zwei Bücher veröffentlicht, zuletzt «Natur mit Latour». Hanspeter Latour ist seit 1972 mit Thilde verheiratet, lebt in Steffisburg und Eriz und hat zwei Kinder und drei Enkel.