«Ich dränge mich nicht ins Rampenlicht»
Sie ist 1,50 Meter klein, gehört aber zu den ganz Grossen der Schweizer Film- und Theaterwelt: In ihren aktuellen Stücken macht sich Schauspielerin Maja Stolle (79) Gedanken über das Alter.
Interview: Roland Grüter, Foto: Gerry Ebner
Wie sich Maja Stolle (79) über all die Jahre aus den Schlagzeilen halten konnte, grenzt an ein kleines Wunder. Immerhin stand sie auf den grössten Theaterbühnen der Schweiz, war in der Fernsehserie «Mannezimmer» vier Jahre lang zu Besuch in unseren Stuben, gab Anfang der 1980er im Skandalfilm das legendäre Sennentuntschi und war in diversen Kinofilmen zu sehen, so etwa in «Der Kreis». Ihre Biografie hätte folglich ordentlich Stoff für Boulevardgeschichten hergegeben, doch die meisten behielt sie für sich: «Ich suchte die Öffentlichkeit jenseits der Theatersäle nie, liess meine Arbeit lieber für sich allein sprechen», sagt Maja Stolle auf dem Balkon ihrer Zürcher Wohnung, bevor sie sich neuerlich eine Zigarette – es ist die vierte – anzündet.
Maja Stolle, kränkt es Sie wirklich kein bisschen, dass viele Menschen Ihr Gesicht kennen, aber Ihren Namen nicht – obwohl Sie auf Bühnen und vor Kameras grosse Auftritte hatten?
Chabis, weshalb sollte mich das kränken? Mir geht es schliesslich genauso: Es gibt so viele Schauspielerinnen und Schauspieler, sie kommen und gehen. Ich kann mir ihre Namen auch nicht merken. Ich bin froh, dass ich auf der Strasse unerkannt bleibe. Wobei: Mein Werbeauftritt als SBB-Grosi hat einiges verändert.
Sie warben unlängst für eine App, mit der sich SBB-Tickets kaufen lassen, und waren landesweit auf Plakaten und in TV-Spots zu sehen.
Genau. Ich begegnete mir sozusagen an jeder Ecke. Daran musste ich mich erst gewöhnen. Seither erkennen mich die Menschen öfters. Letzthin musste ich an einem Bahnhofschalter Geld wechseln. Der Mann hinter der Glasscheibe schaute mich an und sagte: Sie sind doch die aus der Werbung. Daraufhin gab er mir eine Schoggi. Das hat mich gerührt. Als Schauspielerin ist mir das nie passiert.
«Mich interessieren das mir Fremde, unbekannte Welten, Abgründe, in die mich meine Rollen führen können.»
Woher rührt eigentlich die Leidenschaft für diesen Beruf?
Mich interessieren das mir Fremde, unbekannte Welten, Abgründe, in die mich meine Rollen führen können. Man erfährt, was Wut, Liebe und andere Emotionen mit Menschen anstellen können, und geht bei sich selbst auf Spurensuche. Das macht etwas mit einem. Schon als Kind wollte ich eine Nonne spielen, die immerzu betet – obwohl ich mit Religiösem nichts am Hut hatte. Ich bin nicht einmal getauft.
Lernt man demnach im Rollenspiel fürs Leben?
Durchaus. Wir setzen uns ja intensiv mit unterschiedlichsten Charakteren auseinander. Da bleibt immer wieder etwas hängen.
Auf Ihrem Weg lernten Sie viele spannende Menschen kennen. Einer davon war Gustav Knuth. Mit ihm verbindet Sie eine besondere Geschichte.
Stimmt. Ich trat mit ihm an den Junifestwochen in Zürich auf, als ich noch Primarschülerin war. Ich war die Elfe Senfsamen, Gustav Knuth spielte eine Hauptrolle. Eine Schulkollegin hatte mir nicht geglaubt, dass ich im Stück mitspielen darf. Als sie zur Aufführung kam, hüpfte ich vor sie hin und streckte ihr die Zunge raus. Was mir der Ballettmeister übel nahm und mir viel Schimpfis einbrachte. Daraufhin heulte ich los, und Gustav Knuth, der das alles mitgekriegt hatte, tröstete mich. Später gab er mir an der Schauspielschule Unterricht. Sein Humor, seine Art, uns Schüler zu motivieren, sind bis heute unvergessen.
Auch mit dem Teenieidol der 1950er-Jahre arbeiteten Sie zusammen, mit Thomas Fritsch.
Das ist ja schon ewig her. Ich spielte im Stück «O Wildnis» seine kleine Schwester, und wir freundeten uns an. Er residierte in einem Nobelhotel, ich lebte in einem Zimmer ohne Bad. Also lud er mich jeweils zu sich ein, wenn ich baden wollte. Dafür musste ich mich erst durch die vielen Groupies zwängen, die vor dem Hotel standen. Thomas nannte mich Schnäuzchen.
Ihnen wurde in jungen Jahren dazu geraten, als Ausländerin einen Briten zu ehelichen, damit Sie in London an einer Schauspielschule studieren können. Sie aber antworteten: Ich will Schauspielerin werden und nicht heiraten! Stehen Liebesglück und Arbeit bei Ihnen tatsächlich im Widerspruch?
In gewissem Sinne schon. Ich war in jungen Jahren ständig unterwegs, stand fast jeden Abend auf der Bühne, war mit Proben beschäftigt. Für eine klassische Partnerschaft bleibt da wenig Zeit – und für eine Familie noch weniger. Ich hatte zwar immer wieder Partner, lebte aber stets allein. Diese Unabhängigkeit war mir wichtig. Und ist es mir noch immer.
Weshalb haben Sie Ihre Beziehungen nicht jenseits der Normen gelebt?
Das war nur bedingt möglich. In meiner Jugend war der Zeitgeist anders. Die Liebe bot vor allem Frauen wenig Spielraum. Für uns war einst vorgesehen: Heirat, Kinder, Küche. Das kam für mich nicht in Frage.
Sie wurden von Ihren Eltern liberal erzogen. Geht Ihr Freigeist darauf zurück?
Ich denke schon. Meine Eltern hielten mich von klein dazu an, selbst zu denken. Sie liessen mir grosse Freiheiten, vertrauten mir aber auch, dass ich die Freiräume nicht missbrauche. Das prägt mich bis heute.
Die 1940er und 1950er waren stark geprägt von Moral und Zwängen. Weshalb foutierten sich Ihre Eltern darum?
Einerseits aus Überzeugung, andererseits aus Not. Meine Eltern mussten beide arbeiten, um uns durchzubringen. Meine Mutter war beispielsweise damals eine der wenigen berufstätigen Frauen mit Kind. Folglich blieben ihr und meinem Vater wenig Zeit, sich im Alltag um mich zu kümmern. Im Austausch waren sie aber immer für mich da: Es gab kaum ein Thema, das wir am Familientisch nicht hätten besprechen können.
Sie mussten also früh selbst zu sich schauen …
Richtig. Bereits mit vier besass ich eine Uhr, damit ich ja nichts verpasste. Fünfjährig fuhr ich allein von Zürich nach Davos. Mein Vater hatte mir erkärt, wie ich in Landquart umsteigen muss. Dass ich zu dem Mann mit dem roten Hut gehen soll, falls ich Hilfe brauche. Doch ich schaffte es auch so, ich konnte ja schon lesen.
«In unserer Nachbarschaft gab es kaum Füdlibürger, dafür Anthroposophen, Musikerinnen, Emigranten und Kommunistinnen. Es gab wenig Grenzen im Denken. In diesem Freiraum musste ich mich selbst erfinden.»
Sie wuchsen im Neubühl im zürcherischen Wollishofen auf – in einem Mikrokosmos von Freigeistern. Hat Sie das zusätzlich geprägt?
Klar. In unserer Nachbarschaft gab es kaum Füdlibürger, dafür Anthroposophen, Musikerinnen, Emigranten und Kommunistinnen. Es gab wenig Grenzen im Denken. In diesem Freiraum musste ich mich selbst erfinden.
Waren für Sie stattdessen Theater Heimat und Familie?
Vor allem das Ensemble am Basler Theater war für mich wie eine Familie. Wir alle waren jung, schräg drauf und wollten die Welt auf den Kopf stellen. Dafür legten wir uns mächtig ins Zeug. Oft feierten wir durch die Nacht, arbeiteten hart, waren nonstop zusammen. In dieser Zeit entstanden Freundschaften, die bis heute bestehen.
Sie gelten als ehrgeizig: Woher stammt diese Eigenheit?
Keine Ahnung. Statt zu reden, packe ich lieber an, probiere Sachen aus. Dabei scheue ich mich auch nicht davor, Fehler zu machen oder gar zu scheitern. Scheitern brachte mich im Leben weiter voran als Applaus.
Was reizt Sie noch immer, aufzutreten?
Dieses Kribbeln im Bauch, das sich vor Auftritten einstellt. Es ist einzigartig, ähnlich, wie wenn man verliebt ist. Denn jeder Auftritt ist aufregend, man geht jedes Mal von Neuem Risiken ein – auch wenn man eine Rolle schon hundert Mal gespielt hat, es kann immer etwas passieren, es ist immer wieder neu.
Sie sagten, dass Sie am Basler Theater eine Familie fanden. Sie kündigten in der Folge aber doch. Weshalb?
Ich wollte keine Theater-Beamtin werden, sondern agil und flexibel bleiben. Nach neun Jahren war genug – ich machte mich selbstständig, obwohl ich damit auf jede Menge Sicherheit verzichten musste. Ich war damals Mitte dreissig, sass in Paris in einem Restaurant mit rot-weisskarierten Tischdecken, bestellte mir ein Glas Weisswein und fasste in diesem Moment den Entschluss: Morgen fahre ich nach Basel zurück und kündige. Das war 1978, danach öffneten sich für mich neue Welten.
In der Folge wechselten Sie zwischen Unterhaltung und ernstem Fach. Welche Sparte ist Ihnen lieber?
Ich bin Schauspielerin und nehme jede Rolle mehr oder minder gleich ernst. Früher machte man diesen Unterschied erst gar nicht. Die beiden Fächer fliessen oft auch ineinander. Nehmen wir beispielsweise Charlie Chaplin: Er ist wahnsinnig komisch und gleichzeitig todtraurig.
In der TV-Soap «Mannezimmer» flimmerten Sie 65 Folgen lang über die Bildschirme der Nation. Der Weg aus den Fernsehstudios in die Boulevardmedien ist meist kurz. Weshalb bei Ihnen nicht?
Punkto Selbstvermarktung bin ich wenig begabt. Ich dränge mich nicht ins Rampenlicht.
Weil Sie Ihre Arbeit höher bewerten als Ihre Person?
Wahrscheinlich. Ich war froh darüber, dass meine Rollen mehr interessierten als meine Person.
Sind Sie womöglich langweiliger, als es den Anschein macht?
Wo denken Sie hin: Ich bin höchstinteressant.
Sie standen 1981 als Sennentuntschi in einem medialen Orkan. Der Film galt als Skandal, als gotteslästernd. Wie konnten Sie sich selbst aus diesem Sturm heraushalten?
Dank dem starken Make-up, das ich im Film tragen musste, erkannte mich kaum jemand auf der Strasse. Darüber war ich froh. Denn nach dessen Ausstrahlung bekam ich viele böse Briefe. Denn das Tuntschi nannte selbst intimste Dinge beim Namen, daran störten sich viele. Man war sich das von einer Frau nicht gewohnt.
Konnten Sie den Aufruhr verstehen?
Bedingt. Denn die Sage um die drei Sennen, die sich mit dem Sennentuntschi verlustieren, ist uralt – und die Umsetzung im Film grandios. Eine alte Frau schrieb mir mit Zitterschrift, wie sehr sie das Stück berührt habe. Wie beeindruckend darin Einsamkeit, Liebe und Zärtlichkeit dargestellt werde. Sie hatte den Kern des Filmes erfasst.
Addio Amor
Maja Stolle, Urs Bihler und Siggi Schwientek: Das Theaterstück «Addio Amor» bietet ein Wiedersehen mit vielen grossen und bekannten Gesichtern der Bühnenkunst: Und stellt die Frage nach dem Umgang mit Schauspielerinnen und Schauspielern im Ruhestand. Im Stück leben die pensionierten Künstlerinnen und Künstler in einer Pension. Sie sind abgeschnitten von der Aussenwelt, was ihnen geblieben ist, sind vor allem ihre Erinnerungen an ein Leben im Scheinwerferlicht. Und diese murmeln, schreien, flüstern sie ihren Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern zu. Die Idee zu diesem einmaligen Stück entstand im Umfeld des Musikers und Regisseurs Adrian Marthaler, der tatsächlich eine Alters-WG für Kulturschaffende gründen wollte, aber scheiterte. Daraus entwickelte er das Stück «Addio Amor», die Dialoge stammen aus der Feder von Autorin Katja Früh. «Addio Amor» geht im Spätherbst auf Schweizer Tournee und ist unter anderem im Kurtheater Baden (8. bis 10. November) und in der Alten Reithalle in Aarau (15. November) zu sehen. Mehr Infos dazu: addioamor.ch
Mittlerweile sind Sie auf der Bühne im Altersheim angekommen. Sie spielen in einem Stück eine alte Schauspielerin, die mit anderen pensionierten Berufskolleginnen und -kollegen unter einem Dach lebt. Eine Idee fürs Leben?
In meinem Wohnhaus lebt tatsächlich ein alter Berufskollege und in der Nachbarschaft ein anderer, sehr guter alter Freund. Unser Leben hat mit dem Theaterstück «Addio Amor» aber wenig oder gar nichts zu tun. Darin schauen ehemalige Bühnenkünstlerinnen und -künstler auf ihre Karrieren und auf ihre Leben zurück. Sie betrauern, was sie nicht mehr haben. Und beweinen die Tage, an denen sie auf grossen Bühnen standen und dafür beklatscht wurden.
Jammern Sie denn nicht mit?
Weder auf noch hinter der Bühne. In «Addio Amor» spiele ich eine Schauspielerin, die kaum Erfolg hatte und an der Coop-Kasse ein Zugeld verdienen musste, also weit weg von Glanz und Gloria. Das entspricht mir sehr, auch wenn meine eigene Karriere ein wenig erfolgreicher war.
«Ich selbst trete nicht freiwillig von der Bühne ab.»
Sie machen sich auch in einem zweiten Theaterstück Gedanken zum Alter. Ein Zufall?
Jedenfalls ist es kein Kalkül. Musiker Daniel Fueter, Sängerin Martina Bovet und ich machen uns in «Steinschlag» Gedanken zum Alter: auf ironische, witzige und tiefgründige Weise. «Achtung! Wenn Du das Alter betrittst, setz den Helm auf: Es herrscht Steinschlaggefahr.»
Wann fällt für Sie der letzte Vorhang?
Wenn mich niemand mehr sehen mag. Ich selbst trete nicht freiwillig ab. Ich liebe meinen Beruf noch immer und kann mir schlecht vorstellen, komplett damit aufzuhören.
- Im Video «Fünf Fragen an Maja Stolle» erfahren Sie, was die Schauspielerin als Kind werden wollte und warum alle ihre Uhren vorgehen: zeitlupe.ch/5-fragen