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Lutz Jäncke: «Wir überschätzen uns»

«In der Masse werden wir stark von unseren Instinkten bestimmt», sagt Lutz Jäncke, Professor für Neuro­psychologie und Autor. Im Gespräch zeigt er unsere Nähe zu Affen auf, die Grenzen der Vernunft und warum Meditation uns allen gut täte.

Interview: Marc Bodmer, Fotos: Christian Senti

Herr Jäncke, Ihr vorletztes Buch hiess «Ist unser Hirn vernünftig?». Und, ist es das?
Der Mensch ist ein Wesen, das von der Evolution konstruiert wurde und nicht wirklich in die heutige Zeit passt.

Aber der Mensch ist doch ­intelligent …
Das sagen wir immer, doch die ­Forschung zeigt eine Normal­verteilung der Intelligenz: Etwa
68% der Menschen verfügen über eine durchschnittliche Intelligenz. Zirka 14% sind unterdurchschnittlich intelligent und etwa 2% weisen eine Intelligenzminderung auf. Nur wenige Menschen sind überdurchschnittlich intelligent, zirka 16%.

Wir Menschen sind also nicht so weit weg vom Baum, von dem wir heruntergeklettert sind.
Genau, das ist meine These. Wir überschätzen uns grundsätzlich und unterschätzen oft unsere nächsten Verwandten, die Affen.

Das ist ernüchternd.
In der Masse werden wir stark von unseren Instinkten bestimmt. Wir sind neugierig wie die Affen, streben nach Macht wie die Affen und haben Freude an Sex wie die Affen. Wir bauen aber auch Kooperationen auf. In diesen Bereich investieren wir unfassbar viele Ressourcen. Das läuft über persönliche Kontakte: unsere Familie, unsere Freunde … Wir tauschen uns aus. Das ist ein Geben und Nehmen. So bauen wir Bindungen auf zu Menschen, die wir mögen.

Und was ist mit den anderen, die wir nicht mögen?
Empathie-Forscher unterscheiden zwischen Empathie und Mitgefühl. Empathie ist das, was wir für unsere Kinder, die Ehefrau, den Ehemann und die Geschwister empfinden. Wenn sie leiden, leiden wir mit.

Lutz Jäncke
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Und Mitgefühl?
Mitgefühl haben wir erlernt und es folgt den sozialen Regeln. Ärzte zum Beispiel zeigen Mitgefühl ihren Patienten gegenüber, sonst wären sie nicht in der Lage, beispielsweise eine Herzoperation vorzunehmen. Wäre der Chirurg empathisch, würde er vor Angst zittern. Er muss aber in diesem Moment eiskalt sein.

«Mitgefühl ­haben wir nach sozialen Regeln erlernt.»

Sie haben ein humanistisches Gym­nasium besucht. Beisst sich die ­Vorstellung der Humanisten nicht mit ­Ihren heutigen Erkenntnissen?
In der Tat passt das Atavistische, das längst evolutionär überwunden Geglaubte, gar nicht in das Weltbild eines Humanisten. Aber ich glaube nicht, dass wir aufgrund von Vernunft und Logik die Welt retten können.

Warum nicht?
Wir können zwar logisch denken, aber es nicht auf alle Weltprobleme anwenden. Unser Denken ist un­geeignet, die Komplexität des Weltgeschehens zu erfassen, geschweige denn zu lösen.

Können Sie das bitte erklären?
Komplex bedeutet, so viele Variablen zu haben, die auf eine für uns nicht nachvollziehbare Art und Weise zusammenwirken, sodass wir sie gar nicht verstehen können. Wir können es nur probieren – durch Versuch und Irrtum.

Zum Beispiel?
Der Klimawandel. Es wird immer über einen Parameter nachgedacht: CO2. Und man ist der Überzeugung, er sei der wichtigste. Das ist falsch. Der Klimawandel ist ein komplexes Problem. Und kein kompliziertes.

Was wäre ein kompliziertes Problem?
Der Bau einer Brücke. Der Ingenieur kennt fast alle Variablen, um eine Brücke zu bauen. Er kann eine mathematische Gleichung aufstellen und loslegen. Die Brücke hält dann 100 Jahre.

Der Klimawandel aber überfordert unsere geistigen Kapazitäten?
Das Generieren des Klimas ist so komplex, dass es gar nicht in eine komplizierte Gleichung gegossen werden kann. Selbst mit den tollsten Rechnern an der ETH scheitern die Meteorologen an einer Prognose für drei Tage. Wie will man so das Klima in den nächsten 100 Jahren vorhersagen?

Lutz Jäncke

Das humanistische Weltbild deckt sich selten mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen von Professor Lutz Jäncke. © Christian Senti

Wenn unser Hirn kein logisch funktionierendes Organ ist, was ist es dann?
Es ist ein Organ, das nicht linear arbeitet. Sehr viel geschieht unbewusst. Es berechnet auf der Basis dessen, was schon gespeichert ist. Dazu gehören Weltmodelle, die sehr individuell sind, und Instinkte.

Diese Instinkte scheinen bei den Menschen immer wieder durchzubrechen. Wie bekommen wir sie in den Griff?
Wir müssten unsere Selbstdisziplin vermehrt pflegen. Wir dürfen den Emotionen, die zwangsläufig aufsteigen, nicht freien Lauf lassen. Das ist der Trick.

«Unser Denken ist ungeeignet, die Komplexität des Weltgeschehens zu erfassen.»

Ist das nicht ein bisschen viel verlangt?
Mit emotionalen Reaktionen handelt man sich in der Regel nur Ärger ein. Wir sollten ganz cool bleiben und erst Tage später reagieren.

Ein solches Vorgehen klingt nach einem kühl berechnenden Soziopathen.
Richtig, das ist die soziopathische Form. In unserer Welt sind die Soziopathen mit dem weissen Kragen die erfolgreichen. Sprich: die Wirtschaftsbosse und Politiker. Sie müssen so berechnend sein, um sich überhaupt durchsetzen zu können. Deswegen hält sich die Soziopathie auch genetisch in unserem Genpool.

Etwas, das uns auszeichnet, ist die Anpassungsfähigkeit unseres Hirns. Wenn man Ihr letztes Buch liest, hat man den Eindruck, dass wir von der jetzigen Lage überfordert sind.
Genau. Ich gehe davon aus, dass unser Inventar, über das wir verfügen, nicht geeignet ist, um die Probleme der Welt zu meistern. Ich bin echt skeptisch.

Ihre Skepsis umfasst auch das Internet, dessen Inhalte Sie mehrheitlich als Müll umschreiben. Sollten wir aufgrund der Plastizität des Hirns inzwischen nicht besser filtern können, was nützlich ist und was unnütz?
Nein. Die Masse der Menschheit wird das nicht meistern und im Müll ertrinken. Einige, die über eine spezielle Intelligenz verfügen, können es schaffen. Das ist kein neues Phänomen, es hat nur eine neue Grössenordnung erhalten.

Das klingt wiederum sehr kultur­pessimistisch.
Der Mensch hat immer in Realitätsblasen gelebt. Wer zum Beispiel in Jeddah in Saudi-Arabien aufgewachsen ist, lebt in einer ganz anderen Blase als jemand, der in New York gross wird. Aus diesen Erfahrungen interpretiert man die ganze Welt. Als Nutzerin oder Nutzer von Internetmedien hat man heute die Möglichkeit, sich Realitätsblasen zu generieren und darin zu leben. Vor 100 Jahren hatten die Menschen vielleicht 10 verschiedene Realitätsblasen zur Verfügung. Heute sind es 100 000 oder mehr. Wir können jede Eigenart des menschlichen Denkens im Internet finden. Alles. Und wir finden nicht nur zwei, drei Wesen, die diese merkwürdigen Präferenzen teilen. Wir finden Tausende.

Warum ist das schlecht?
Das ist ein Problem für unsere Demokratie. Wird die Vielfalt der Realitätsblasen in unseren Demo­kratien zu gross, dann werden wir nicht mehr zusammenkommen. Verstärkend wirken Mechanismen, mit denen wir nicht klarkommen.

Welche Mechanismen?
Wir können mit Mengen nicht umgehen. Ich mache ein Beispiel: Wenn tausend Leute sagen, das ist toll, was du machst, dann finden wir das super und fühlen uns gestärkt. Wenn es aber tausend von fünf Millionen sind, ist das irrelevant. Das ist genau das Problem des Internets.

Wir haben über Emotionen und Bindungen gesprochen. Sie sind verheiratet und haben zwei Söhne. Wie alt sind diese?
Der ältere ist 34, der jüngere 29.

Sie waren also bereits erwachsen, als es richtig losging mit Social Media und Games.
Wir hatten da schon unsere Themen. (lacht)

Welche denn?
Das bleibt zwischen uns.

Was haben Sie ihnen mitgegeben? Von wegen Internet-Müll und so …
Eine ganze Menge, aber das Wichtigste ist, ein gutes Vorbild zu sein.

Und hat es funktioniert?
Schon. Beide sind Leseratten, wissenschafts-, politik- und philosophieinteressiert. Der eine macht Musik und schreibt. Der andere versucht, Dinge zu erfinden. Ihr Lebensumfeld war geprägt von den Interessen meiner Frau und mir, aber sie gehen ihre eigenen Wege.

«Wir dürfen nicht zu Sklaven der Reize werden.»

Wenn man keinen Vater hat wie Sie: Was soll man machen, damit man nicht im Müll untergeht?
Gute Frage. Zunächst müssen wir lernen, uns nicht zu Sklaven von Reizen zu machen, wie sie TikTok und Youtube liefern. Wir müssen die Stimuli kontrollieren und auswählen. Weiter sollten wir kritisch bleiben und Informationen, die wir aufnehmen, hinterfragen.

Neben übermässiger Ablenkung liegen derzeit Meditation und Achtsamkeit im Trend. Wie stehen Sie dazu?
Wenn Sie mich vor 15 Jahren danach gefragt hätten, hätte ich gesagt: Bringt nichts. Inzwischen weiss man eine ganze Menge über die positiven Effekte von Meditation und Achtsamkeit. Studien zeigen, dass Meditation enorme Einflüsse auf das Gehirn hat. Anatomisch wie auch physiologisch, kognitive Funktionen wie die Aufmerksamkeit und das Gedächtnis verbessern sich. Mittlerweile meditiere ich auch dreimal die Woche.

Gibt es noch andere positive Auswirkungen?
Das Gehirn beschäftigt sich beim Meditieren mit sich selbst und nicht mit der Umwelt. Das ist ziemlich cool. Ich kann allen nur empfehlen, sich solche mentalen Zufluchtsorte zu suchen, um sich vor den ganzen Reizen des Alltags zu schützen.

Persönlich

Lutz Jäncke, geboren am 16. Juli 1957 in Wuppertal, war nach diversen akademischen Stationen von 2002 bis 2022 Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich.
Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehörten die funktionelle Plastizität des menschlichen Gehirns sowie die neuronalen Grundlagen des Lernens und Gedächtnisses.
Der emeritierte Neuro- psychologe zählt zu den am häufigsten zitierten Wissenschaftlern weltweit und ist nach wie vor ein beliebter Keynote-Sprecher zu seinen Forschungsthemen und anderen Themen unserer Gesellschaft. Er ist verheiratet und Vater zweier erwachsener Söhne.

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Von Immanuel Kant bis Mr. Spock

Antworten zu grossen Fragen

In Büchern wie «Macht Musik schlau?» (2008), «Ist unser Hirn vernünftig?» (2016) und jüngst «Von der Steinzeit ins Internet» (2021) ging Lutz Jäncke Gesellschaftsfragen auf den Grund und stützt sich dabei auf aktuelle Forschungsergebnisse. Obschon sich eine Skepsis bei Lutz Jäncke bemerkbar macht, ob die Menschheit über das Rüstzeug verfügt, um die Probleme der Welt zu meistern, schwingt oft ein leiser Humor in seinen Büchern mit.

Der Science-Fiction–Fan

Ausgebildet an einem humanistischen Gymnasium – «Immanuel Kant war schon ein schlauer Bursche!» –, hat der Professor für Neuropsychologie ein Faible für Science-Fiction. Von Deutschlands intergalaktischem Helden Perry Rhodan, dessen Abenteuer 3200 Hefte umfassen, über die Klassiker von Isaac Asimov bis zur TV-Serie «Raumschiff Enterprise» hat sich Lutz Jäncke mit Visionen der Zukunft auseinandergesetzt.

Ein aussergewöhnliches Ideal

Für Jäncke ist der spitzohrige Vulkanier Mr. Spock aus der Fernseh-Serie «Raumschiff Enterprise», dessen Wesen von Logik, Emotionsfreiheit und Friedfertigkeit geprägt ist, ein erstrebenswertes Ideal. Lutz Jäncke ist überzeugt, dass uns Emotionen immer wieder das Leben unnötig schwer machen. Er arbeitet zurzeit an einem Buch zum Thema «Mann und Frau – ein Auslaufmodell?»

Beitrag vom 17.09.2024