Standards sind mir generell zuwider
Tanz ist ihr Leben – Leidenschaft ihr Antrieb: Marianne Kaiser, die Grande Dame des Schweizer Paartanzes, über ihr Leben auf dem Parkett und auf der Überholspur.
Sie sitzen zum dritten Mal in der Jury der TV-Tanzshow «Darf ich bitten?»*. Was ist die grösste Herausforderung dieser Aufgabe?
Das Richtige zur richtigen Zeit zu sagen. Ich versuche, meine fachliche Erfahrung in die Show hineinzutragen und präzise Kritik zu üben. Und: Ich will alle Kandidaten und Kandidatinnen ermutigen.
Profitiert der Tanz von dieser Sendung?
Ich glaube schon. Für Paartanz gibt es wenige Bühnen, auf denen er sich präsentieren kann. Darüber hinaus können die Zuschauer sehen, wie schnell Menschen, die vorher nicht oder wenig getanzt haben, Erstaunliches lernen. Das kann schon motivieren.
Sie sagen, der Schweizer Tanzkultur fehle es an Bühnen. Kränkelt sie?
Paartanz ist tatsächlich nur lose in unserer Kultur verankert, und für Interessierte gibt es wenige Möglichkeiten. Im Gegensatz zu Italien, Frankreich, Österreich und Deutschland: Dort tanzen die Menschen weit mehr, dort ist der Tanz fester Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Egal, ob an Empfängen oder anderen Gala-Veranstaltungen: Erst isst man, dann tanzt man.
Und in der Schweiz?
Hier isst man und bleibt sitzen. Sehr schade.
Was verpassen Herr und Frau Schweizer dadurch?
Vieles. Ein Beispiel: Früher lernten sich viele Paare beim Tanz kennen. Heute ist das anders. In den Clubs ist es laut und hektisch – da bleibt kaum Platz für Zweisamkeit. Viele suchen die Liebe deshalb im Internet, eigentlich schade. Tanzveranstaltungen wären ideal dafür.
Gehen Sie selber aus – und tanzen?
Nicht mehr. In den 1980er-Jahren liebte ich es, viele Stunden in den Discos zu tanzen. Danach war Schluss.
Die Faszination ist aber geblieben.
Auf jeden Fall. Die Freude am Tanz, insbesondere an der Bewegung, ist noch immer da. Mir gehts darin nicht nur um Schrittfolgen. Mich faszinieren die Menschen. Ich will ihnen Freude bereiten, ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Tanz ist dafür ein gutes Mittel.
Wird man im Dreivierteltakt glücklicher?
Oft schon. Tanz ist wie dafür geschaffen, dass sich zwei Menschen in gegenseitiger Zuneigung begegnen. Das schafft Freude und manchmal sogar Glück. Genau darum geht es in meiner Arbeit, dieser Punkt ist mir sehr wichtig.
Weshalb?
Die Zufriedenheit überträgt sich auf andere. Im Kleinen beginnt eine bessere Welt. Besonders gelingt mir dies in der Arbeit mit den Debütantinnen und Debütanten, die traditionell Bälle mit ihren Tänzen eröffnen. Diese Arbeit ist eine meiner grössten Leidenschaften. Als ich 1988 die Tanzschule gekauft hatte, organisierte ich sogleich den ersten Ball. Ich ging eigens nach Wien, um dort das Handwerk, die Choreografien zu lernen. Die Österreicher sind in diesem Fach Profis.
Was zeigen Sie den Debütanten – ausser zu tanzen?
Bälle sind noch immer ein grosses gesellschaftliches Ereignis. Die Tänzerinnen und Tänzer machen sich dafür richtig schön, und ich betone: richtig schön. Sie trägt ein rauschendes weisses Kleid, er einen Smoking. Sie ist Prinzessin, er Prinz. Oft sehen sich die Paare zum ersten Mal so – und begegnen sich anders. Für sie ist ein Ball ein gelebtes Märchen, ein Merkpunkt im Leben und ein Schritt auf das gesellschaftliche Parkett.
Wer kommt sonst noch zu Ihnen, um zu lernen?
Allen voran die Hochzeitspaare. Dann die Jungen, die aus Neugierde tanzen lernen wollen. Und seit jüngerer Zeit viele Pensionierte, die ihre Kenntnisse auffrischen wollen.
Sie bieten in Ihrer Schule sogar Kurse für ältere Menschen an. Ist man denn nie zu alt, um tanzen zu lernen?
Nein, vorausgesetzt, man ist mit sich selber geduldig. Denn im Alter braucht es mitunter etwas länger, um Neues zu lernen. Erst letzthin unterrichtete ich ein Paar, die beiden waren gegen die 70. Sie taten sich schwer mit meinen Anweisungen – übten, übten, übten aber zu Hause und machten tatsächlich erstaunliche Fortschritte. Nun haben sie eine neue Gemeinsamkeit in ihrem Leben.
Man sagt, dass Tanzen im Alter für allerlei gut sei: Das Sturzrisiko nehme ab, Tanz halte Menschen körperlich und geistig fit, schütze sie gar vor Demenz. Überrascht Sie das?
Nein. Tanz ist ja intelligente Bewegung und regt Körper und Geist gleichermassen an. Die Balance, der Rhythmus, das Muskelspiel, die Organisation der Abläufe, sich auf jemanden einzustellen – er gibt den Menschen Impulse auf verschiedensten Ebenen.
Kann Tanz auch heilsam sein?
Fürs Gemüt auf jeden Fall. Wer tanzt, fühlt sich besser, oft unbeschwerter. Es beglückt – selbst mich. Obwohl ich seit 50 Jahren damit zu tun habe.
Was genau gefällt Ihnen an Ihrer Arbeit?
Beim Tanzen lernt man sich und seinen Körper sehr gut kennen – was mich daran aber besonders fasziniert, ist die Bewegung. Schon mit 20 haben ich mich deshalb mehr für Bewegungsabläufe interessiert als für die perfekte Haltung der Arme. All die Standards langweilten mich, den Fuss perfekt aufs Parkett zu setzen, die Hände immer wieder in die gleiche Position zu bringen. Tanztherapien, die freie Bewegung, schienen mir weit spannender. Standards und Normen sind mir generell zuwider – ich bin von Natur aus eher Rebellin.
Woher rührt der Freigeist?
Schon meine Mutter hat mich bestärkt, meinen eigenen Weg zu gehen, mich nicht von Normen behindern zu lassen. Sie selber hat mir vorgelebt, was sich damit erreichen lässt. Sie müssen wissen: Ich habe meinen Vater als Achtjährige verloren. Danach musste meine Mutter sich, meine Schwester und mich allein durchbringen. So etwas prägt.
In Ihrer Jugend in den 1960ern galt für viele Frauen noch die Losung: Mann, Kinder, Haushalt. Weshalb für Sie nicht?
Für mich stand dieser Weg nie zur Diskussion. Ich hatte anderes im Sinn, entschied mich aus diesem Grund
auch gegen Kinder. Ich wäre ihnen eine schlechte Mutter gewesen. Ich träumte von einem anderen Leben, von einem Leben mit dem Tanz.
Waren Sie Feministin?
Mit Feminismus hatte das nichts zu tun. Ich wollte meinen Traum leben, mehr nicht. Tanzen und glücklich werden. Kinder passten einfach nicht in meinen Lebensentwurf, denn ich bin ein verantwortungsvoller Mensch: Was ich mache, mache ich richtig.
Lässt sich eine starke Frau wie Sie gerne von einem Mann übers Parkett führen?
Achtung, Gefahr. Sie sprechen ein heikles Thema an. Von den Klischees des Paartanzes halte ich rein gar nichts. Der Mann, der führt, die Frau, die folgt – er der Macho, sie das zarte Lieschen. Im Paartanz sind beide gleich wichtig. Es ist ein Austausch auf Augenhöhe, ein Miteinander.
Welcher klassische Tanz steht repräsentativ für Ihr Leben?
Ganz klar der Slowfox. Er braucht enorm viel Balance, einen starken Sinn fürs Miteinander. Er ist Schweben übers Parkett – doch dieses ist nur möglich, wenn man mit beiden Füssen auf dem Boden steht. Das Zusammenspiel zwischen Leichtigkeit und Erdverbundenheit entspricht mir sehr. Und auch, dass man sich im Slowfox etwas bedeckt hält, nicht alles offenbart. So ist auch mein Naturell.
Sie absolvierten nach der Schule erst eine kaufmännische Ausbildung, danach liessen Sie sich in London zur Tanzpädagogin ausbilden – und zogen später mit dem Diplom in der Tasche drei Jahre um die Welt. Weshalb?
Eigentlich wollte ich zurück nach Zürich, aber das Leben meinte es anders mit mir. Mir wurde ein Angebot gemacht, also wurde ich Tänzerin einer Showtruppe, die Gäste auf Kreuzfahrtschiffen unterhielt. Hier konnte ich machen, wonach mir war. Ich musste keinen vorgegebenen Regeln folgen. Das war ein Riesenspass und eine sehr befreiende Zeit.
Nach der Schiffstour kehrten Sie nach Zürich zurück, heirateten Walter Kaiser, den Besitzer einer Tanzschule. Welche Ideen brachten Sie mit in den Betrieb?
Paartanz war damals vor allem in ländlichen Gegenden populär. Die Städter kannten ihn als Kunst- und Sporttanz. Das haben wir geändert. Wir brachten Cha-Cha-Cha, Tango und Quickstepp sozusagen aufs Parkett – machten diese zugänglich für alle.
Nach acht Jahren liessen Sie sich scheiden und übernahmen die Schule Ihres Mannes. Er ging, Sie blieben. Wie kam es dazu?
Er wollte aussteigen, ein neues Leben führen. Walter zog mit seiner neuen Partnerin nach Frankreich. Für ihn war es praktisch, dass ich nach der Trennung weiterarbeitete – und auch für ihn Geld verdiente. Irgendwann wollte ich die Schule übernehmen. Ich kämpfte, er bockte. Also verliess ich für kurze Zeit den Betrieb. Dann holte er mich zurück und übergab mir die Zügel. Eine schwierige Zeit.
Die Schule geriet etwas in Schieflage. Wie haben Sie sie wieder aufgerichtet?
Durch harte Arbeit. Ich hatte ja keinen goldenen Fallschirm und musste zusehen, dass ich die Löhne und die Miete bezahlen kann.
Sie sind eine erfahrene Tanzlehrerin und Künstlerin – sind Sie auch eine gute Unternehmerin?
Ich hätte erfolgreicher sein können. Mir ging es nie ausschliesslich ums Geld. Mir waren Leidenschaft zum Tanz, Anstand und Verantwortung ebenso wichtig, gerade gegenüber meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Sie leisteten viel, also bezahlte ich sie entsprechend. Mir waren und sind diese Werte wichtig – auch wenn sie den Gewinn etwas schmälern.
Wie sieht Ihr Alltag in der Gegenwart aus?
Ich unterrichte zwar nicht mehr täglich, bin aber noch immer regelmässig im Geschäft. Ich bin der Kopf der Organisation, das Tagesgeschäft jedoch regeln andere. Ich habe das Glück, sehr gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu haben.
Keine Lust, kürzerzutreten?
Ich stelle eine Gegenfrage: Kürzertreten wovon, von meinem Leben?
Von der Arbeit.
Ich habe mein Leben nie zweigeteilt und mache es auch heute nicht. Mir bereitet meine Arbeit noch immer grosse Freude. Noch liegt der Punkt, an dem ich sie weiterreiche, in weiter Ferne.
Was, wenn er erreicht ist?
Ich habe längst geregelt, was danach kommt. Sie können sicher sein, da gibt es keine Unbekannten, keine blinden Flecken. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass meine Arbeit und mein Leben endlich sind. Aber solange es das Schicksal zulässt, mache ich das weiter, was ich schon immer gemacht habe: mit aller Professionalität und Disziplin Berufsfrau sein.
Sie sprechen nicht gerne über Ihr Alter. Weshalb nicht?
Weil ich es nicht mag, schablonisiert zu werden. Ich bin eine Frau und will als solche angenommen werden. Die Menschen sollen darauf schauen, was ich mache, wie ich bin – und nicht, wie alt ich bin. Das hat mich schon meine Mutter gelehrt.
Viele verpassen den Moment zur Denkumkehr.
Das wird mir nicht passieren. Ich habe ein gutes Gespür für mich. Nur: Ich bin Pragmatikerin und gehe erst über die Brücke, wenn ich am Wasser stehe.
Trauern Sie manchen Dingen nach?
Sicher. Wenn gewisse Sachen vorübergehend oder generell nicht mehr möglich sind. Das ist schon traurig, sogar sehr traurig. Ich erklimme nicht mehr die höchsten Berge, muss meine Kräfte genauer einteilen. Diese Beschränkungen sind nicht lustig. Solche Veränderungen beschäftigen mich auf vielen Ebenen, auch als Frau. Was passiert mit meinem Körper, wie gehe ich damit um? Die Verschleisserscheinungen im Tanz sind gross, wir verlangen unserem Körper viel ab.
Letzte Frage: Wenn Sie noch einen einzigen Tanz machen könnten – wen würden Sie dazu bitten?
Ganz klar, Fred Astaire. Was für ein intelligenter Mensch, und ein toller Tänzer. Mit ihm den letzten Tanzschritt zu tun – ein Traum!
*Die dritte Ausgabe von «Darf ich bitten?» wird auf Fernsehen SRF1 ausgestrahlt. Die Premiere fand am letzten Samstag statt, die zweite Show wird am 16. März ausgestrahlt. Am 23. März folgt das Halbfinale, am 30. März das Finale.
Die tanzende Rebellin
Marianne Kaiser leitet die wohl bekannteste Tanzschule der Schweiz. Sie ist Pädagogin, Unternehmerin und auch sonst eine beeindruckende Frau. Zeit ihres Lebens beging sie ihre ureigenen Wege, liess sich von Normen weder aufhalten noch beirren. Nach ihrer kaufmännischen Ausbildung liess sie sich zur Tanzpädagogin ausbilden, tourte drei Jahre um die Welt, bevor sie in Zürich Wurzeln schlug und die Tanzschule übernahm. Sie gilt als harte Schafferin, als Frau mit grossem Herzen. Sie hat unter anderem vor dreissig Jahren den legendären Kaiserball neu aufgelegt, dieser findet 2020 erstmals in der neu renovierten Tonhalle in Zürich statt. Marianne Kaiser lebt in der Zürcher Altstadt.