Jeannette Stangier-Bors beginnt dort, wo die Hartgesottenen aufhören: Die Lehrerin schwimmt in eisig kalten Seen. Weil es ihr guttut. Sie hat die Kälte als Freundin akzeptiert.
Text: Fabian Rottmeier
Beliebter Insider-Witz: Woran erkennt man einen Eisschwimmer in einem Restaurant? Daran, dass er seine Jacke nicht auszieht, wenn er sich hinsetzt. Auch Jeannette Stangier-Bors friert nach ihrem Schwumm noch immer, als wir ein Café im glarnerischen Näfels betreten. Sie behält ihre Daunenjacke noch lange an.
Zwei Stunden zuvor, auf 980 Metern, im März: Die 57-Jährige aus Uster legt auf einer Picknickdecke alle Kleider nebeneinander zurecht, die sie nach ihrem Bad im Obersee anziehen wird. Das Wasser misst 6,3 Grad. Der kleine See ob Näfels ist per Auto erreichbar, bietet eine traumhafte Kulisse – und ist Teil ihres Buchs «Eiskalt schwimmen – 30 magische Kaltwasser-Highlights in der Schweiz». Vor kurzem hat Stangier-Bors hier mit Gleichgesinnten eine Schwimmbahn freigelegt – finnische Eissäge sei Dank. Nun ist der See eisfrei. Wer denkt, die Saison sei somit vorbei, der irrt. Je wärmer die Jahreszeit, desto höher pilgert Jeannette Stangier-Bors.
Her mit der «Ganzkörperohrfeige»!
Die Sport-, Schwimm- und Informatiklehrerin streift ihren Poncho ab, startet ihre Stoppuhr – bloss nicht zu lange drin bleiben! – und watet knietief in den See. Dann springt sie ins Wasser und krault am Ufer entlang. Hin und her. Nie ohne Ohropax, Badekappe und Boje. Was in den sechs Minuten passiert, bis sie vorsichtig wieder ans Ufer balanciert (das Gleichgewicht leidet unter der Kälte), beschreibt sie so: «Der Kälteschmerz, der zu Beginn einsetzt, kommt einer Ganzkörperohrfeige gleich. Ich achte darauf, tief auszuatmen, um locker zu bleiben, denn: Verkrampft schwimmen geht nicht. Mit der Zeit wirds besser. Nach 90 Sekunden geschieht etwas Wunderbares, was mir viele bestätigt haben: Es wird einem warm. Diesen Moment geniesse ich.»
2018 inspirierte Stangier-Bors der Dokfilm «Against The Tides» über die britische Schwimmerin Beth French dazu, fortan in eisige Gewässer zu hüpfen. Mit viel Training gelingt ihr, was sie später auf einem Instagram-Bild von French fasziniert hat: Sie durchschwimmt den touristisch zugänglichen Hintertuxer Gletscherseetunnel im Zillertal. Wassertemperatur: –0,7 Grad. Sie hat gelernt, sich der Kälte zu ergeben statt dagegen anzukämpfen. «Ich habe sie als Freundin akzeptiert.» Und warm wird ihr spätestens in ihrem Reise-Van wieder, den sie bis auf 35 Grad heizen kann.
Von der WM-Medaille zur Hautverletzung
Als sie ihren ersten «Eiskilometer» (Wasser unter fünf Grad) schwamm, dachte sie: «Nun kann ich alles erreichen, was ich mir vornehme.» 2022 gewann sie an der Eisschwimm-WM in ihrer Alterskategorie die Bronzemedaille über 500 Meter Freistil. Im selben Jahr verletzte sie sich jedoch auch. Bei minus 15 Grad brach sie am Obersee beim untiefen Einstieg im Eis ein – und spürte wegen der Kälte nicht, wie sie sich ihre Beine blutig «raspelte». Ein Knie entging nur knapp einer Hauttransplantation. Ihre Leidenschaft ist aber noch mit etwas viel Prägenderem verbunden: Durch ihr Projekt «Iceswim4hope» sammelt Stangier-Bors Spenden für die Stiftung Sonnenschein, die einst auch ihre ältere Tochter unterstützte, als diese erfolgreich gegen eine Krebserkrankung kämpfte.
Schliesslich steht Wasser für Jeannette Stangier-Bors auch fürs Leben. «Und für das Unterbewusstsein.» Unter Wasser fühlt sie sich geborgen – und geniesst die absolute Stille. Als sie sich vor drei Jahren von ihrem Mann trennte, half das Eisschwimmen, alles kurz zu vergessen. Zudem wusste sie: Der menschliche Körper produziert nach Kälteschocks Glückshormone (und entzündungshemmende Botenstoffe). Eisbaden stärkt ausserdem das Immunsystem und wirkt sich positiv auf den Herz-Kreislauf aus.
Bloss nebenbei erwähnt sie ihr chronisches Rückenleiden und ein im letzten Herbst erlittenes Schleudertrauma. Ohne Medikamente wäre ihr Alltag nicht zu meistern. Eisschwimmen betäubt die Rezeptoren und macht sie für zwei Stunden schmerzfrei. Diese Wirkung nutzt Stangier-Bors mittlerweile auch zu Hause auf dem Gartensitzplatz – mit Eisbädern in ihrer bunten Glacetruhe!
Die Schwimmlehrerin hat sich für die Zeitlupe-Fotos erneut ins Wasser begeben. Danach gönnt sie sich einen Tee und sagt, dass man beim Anziehen nie trödeln dürfe. Sonst habe man Mühe, wenn zeitgleich der Afterdrop einsetze, das verzögerte Absinken der Körpertemperatur nach einer Kälteexposition. Stangier-Bors’ Buch vermittelt Tipps und Wissen zu den Vorzügen und Tücken ihrer Passion. Und es ist voller eigener, eindrücklicher Fotos. Die Badeplätze sind wunderschön gelegen. Das Schönste an ihrem Hobby seien jedoch die lebensfrohen Menschen, die sie kennenlernen durfte. «Von den Glücksmomenten am und im Wasser zehre ich tagelang.»
Jeannette Stangier-Bors: «Eiskalt schwimmen – 30 magische Kaltwasser-Highlights in der Schweiz», ab Juni 2024, AS Verlag, Zürich, asverlag.lesestoff.ch, ca. CHF 42.–. Mehr über Stangier-Bors’ Projekt: iceswim4hope.ch
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