Der 90-jährige Pfarrer Werner Kriesi ist Freitodbegleiter bei Exit. Nicht alle, die er berät, wollen wirklich sterben. Manche lernen mit seiner Hilfe auch, besser zu leben.
Text: Claudia Senn
Es gab Momente, da hätte Werner Kriesi am liebsten nein gesagt. Zum Beispiel, als ihn seine Jugendliebe darum bat, ihr beim Sterben zu helfen. Geboren im selben Jahrgang. Aufgewachsen im gleichen Dorf. Verbunden durch tiefe Gefühle, die er ihr aus Schüchternheit erst viele Jahrzehnte später zu gestehen wagte, und durch gemeinsame Freunde, die ihn anflehten, ihr den Sterbewunsch auszureden. «Doch wie kommt man sich vor, wenn man eine solche Bitte ablehnt», sagt Kriesi mit einem flackernden Blick, der seine innere Not von damals erahnen lässt. «Wie ein Fahnenflüchtiger. Ein Feigling!» Also respektierte er ihren Willen – obwohl es ihn beinahe zerriss.
Pfarrer Werner Kriesi, ein hagerer 90-Jähriger mit dem Elan eines deutlich jüngeren Mannes, hat schon Hunderte Menschen sterben sehen. Jeden einzelnen von ihnen rief er am Vorabend an, damit er sich noch umentscheiden konnte, im allerletzten Augenblick. Der erste, den er mit Hilfe von Exit aus dem Leben scheiden sah, war ein Lungenkranker mit Erstickungsängsten. Viele Jahre lang hatte Kriesi als Pfarrer die Leiden des Mannes miterlebt, «die Folter, die so eine chronische Krankheit auch für die Angehörigen bedeuten kann». Eines Tages im Jahr 1995, Kriesi stand kurz vor der Pensionierung, eröffnete ihm der Mann, er wolle nun mit Unterstützung der Sterbehilfeorganisation Exit seinem Leben ein Ende bereiten. «Und wenn Sie, Herr Pfarrer, kein Feigling sind, dann sind Sie in der Stunde meines Todes bei mir.»
Kriesi, der bis dato noch nie etwas von Exit gehört hatte, stand zur vereinbarten Zeit vor der Tür. Die Familie war um den Esstisch versammelt, gemeinsam mit Rolf Sigg, dem inzwischen verstorbenen Gründerpionier von Exit. Etwas Feines wurde aufgetischt, dazu ein guter Tropfen Wein, und bald schon entstand ein Gespräch von aussergewöhnlicher Intensität. «Das Bewusstsein der Todesnähe setzt bei den Menschen etwas in Bewegung, das tief unter der Oberfläche schlummert», sagt Werner Kriesi. Manches muss angesprochen werden, jetzt! Auch die Konflikte und alten Verletzungen, das bisher Unsagbare. Es gab Tränen und Lachen, und am Ende waren alle sehr erleichtert. Schliesslich verabschiedete sich der Lungenkranke aus der Tischrunde und ging mit Rolf Sigg ins Schlafzimmer. Eine halbe Stunde später kondolierte Sigg den Angehörigen.
Theologische «Konservenantworten»
Dieses erste Freitod-Erlebnis war die Initialzündung für seine neue Aufgabe als Sterbehelfer. So einiges, was er einst im Theologie-Studium gelernt hatte, ist heute für ihn nicht mehr gültig. Vor allem die «theologischen Konservenantworten», wie er sie nennt, mit denen sich manche Berufskollegen die Sterbewilligen vom Leib halten. «Für eine Krebspatientin, die ihr jahrelanges Martyrium nicht mehr aushält, klingt der Satz ‹Gott ist der alleinige Herr über Leben und Tod› nur zynisch», sagt er. Kriesi hält sich da lieber an die Aussage der Theologin Dorothee Sölle: «Vermeidbares Leiden ist Sünde.»
Trotzdem gebe es viele Sterbewillige, die sich mit Schuldgefühlen quälen: Handeln sie gegen Gottes Willen? Werden sie im Jenseits dafür bestraft, wenn sie ihrem Leben selbst ein Ende setzen? Kriesi kennt diese Sorgen gut. Er ist in einer evangelikalen Familie aufgewachsen, als eines von neun Geschwistern. Es herrschten damals Zeiten, in denen Kinder eher mit Entbehrungen gross wurden als mit einem Übermass an Zärtlichkeit. Wie schon der Vater, so fürchtete auch sein Sohn Werner Strafe im Jenseits – bis er als junger Mann die Freikirche mitsamt seinen Ängsten endlich hinter sich liess.
Heute weiss er: Die Möglichkeit, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen, hat manchmal sogar eine therapeutische Wirkung. Kriesi schildert den Fall einer jungen Frau, die seit ihrem 15. Lebensjahr schwer an ihrer psychischen Krankheit litt. Nun war sie 25, wurde als untherapierbar aufgegeben, die Patientin und ihre Angehörigen baten Werner Kriesi um Hilfe. Der spürte in sich «einen starken Widerstand».
Kaum hatte die junge Frau alle Voraussetzungen erfüllt, die das Gesetz für den Freitod vorschreibt, entspannte sie sich. Jetzt, wo sie gehen konnte, wann immer sie wollte, eilte es nicht mehr. Zudem hatte sie in Kriesi einen Menschen gefunden, mit dem sie frei und ungeniert über ihre Suizidwünsche sprechen konnte, ohne gleich in die Psychiatrie eingewiesen zu werden. «Das nahm ihr den Druck.» Drei Monate später begann sie eine Ausbildung als Primarlehrerin und fand den Weg in eine schönere, erfülltere Existenz. Es war die Vorbereitung auf ihr Sterben, die ihr erst ermöglicht hatte, sich für das Leben zu entscheiden.
Mehr über Werner Kriesi und seine Arbeit für Exit im Buch der Philosophin Suzann-Viola Renninger: «Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer». Limmat Verlag, Zürich 2021, CHF 34.–, www.limmatverlag.ch
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