Bewegend bis erheiternd: Das waren noch Zeiten
Die Zeitlupe hat zum 100-Jahr-Jubiläum in ihrem Archiv gestöbert – und lässt Sie, liebe Leserinnen und Leser, ebenfalls eintauchen. Mit Skurrilem, Spannendem, aber auch mit Aussagen, die ihrer Zeit voraus waren.
Zusammengetragen von Fabian Rottmeier
Wörter aus einer anderen Zeit
1923! Wie lange die 20er und 30er bereits her sind, lässt sich auch am Vokabular erkennen. Die damals fast ausschliesslich männlichen Autoren nutzten Begriffe, die heute irritieren. In einer Bildlegende von 1924 steht etwa: «Insassen des Altersheims Zweisimmen». Ein Pfarrer berichtet 1926 von einem Berner Altersheim und dessen «Pfleglingen». Immer wieder zu lesen ist auch von «Schutzbeholfenen», von «Übelständen» oder – wortwörtlich gemeint – von Unvermögen. Fester Bestandteil des Magazins ist auch die schweizweite Auflistung der «freien Plätze in Anstalten». Andererseits staunt man aber auch, dass ein Professor schon 1936 von einer «Überalterung» schrieb, die bereits Tatsache sei.
Aus der ersten Ausgabe
Der wohl emotionalste Text, der im März 1923 in der ersten Zeitschrift «Pro Senectute» erschien, erlaubte einen schonungslosen Blick in die Arbeit der Stiftung. Eine namentlich nicht erwähnte Fürsorgerin schrieb am 14. Dezember 1922 in ihr Tagebuch: «Nach längerem, lauten Klopfen öffnet mir das taube 82-jährige Mütterchen, dem ich zum ersten Mal den ihm bewilligten vierteljährlichen Beitrag bringen darf. Es kennt aber das Papiergeld nicht, so dass es einer längeren Erklärung bedarf, und es wird zu überlegen sein, ob der Beitrag künftig in anderer Form ausgerichtet werden soll. Im kleinen Zimmer ist es kaum warm, und auf meine Frage nach den Heizungsmitteln meint die alte Frau, dass sie noch einige Wellen vom letzten Jahr her besitze, dass sie aber trotz verschiedenen Anfragen keinen Menschen gefunden habe, der ihr das Holz säge.»
Den gesamten Text lesen Sie auf zeitlupe.ch/tagebuch
Die erste Autofahrt
So schwer die Zeiten für viele ältere Menschen damals waren, hie und da stand auch Erfreuliches in der Zeitschrift. So bot der Schweizerische Touring Club der Sektion Basel 1926 rund «350 Greisen und Greisinnen» vom Basler Münster aus eine Autofahrt an. Für viele die erste ihres Lebens. Unfreiwillig witzig klingt heute auch hier die Sprache: «Es war keine Kleinigkeit, die lieben Alten in die Autos einzupacken. Die Schwächeren und die Gebrechlichen platzierte man in geschlossenen Autos. Es braucht ja im Alter oft nur ein kleines Windchen, um das flackernde Lebenslicht ganz auszublasen. Andere fühlten sich in den offenen Wagen wieder ‹gäng ledig, gäng zwänzgi›.»
Zum gesamten Artikel: zeitlupe.ch/autofahrt
Abopreis: zwei Franken
Kaum zu glauben: Der 1923 eingeführte Preis für ein Jahresabonnement von zwei Franken blieb 45 Jahre lang bestehen! Erst 1968 beschloss die Direktion der Stiftung «Für das Alter», den Preis um einen Franken anzuheben.
Leserbriefe
1974 erlebte die Zeitschrift die grösste Zäsur ihrer Geschichte. Sie erhielt den Namen «Zeitlupe», wurde komplett überarbeitet und sollte sich fortan nicht primär an Fachleute, sondern an Seniorinnen und Senioren richten. Mit der Neuausrichtung begann auch die Zeit der Zuschriften aus der Leserschaft. Eine Frau schrieb: «Meine herzlichste Gratulation zu Ihrer neuen Zeitschrift. […] Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie dieses Niveau halten können.» Auch ein bittersüsser Leserbrief von 2003 soll hier erwähnt sein: «Ich benötige Ihre Zeitschrift nicht mehr. Ich habe auf ein Inserat in Ihren Kontaktanzeigen geschrieben und einen sehr netten Lebenspartner gefunden. Dieser hat die Zeitlupe auch abonniert!»
«Corona 4»!?
Corona sorgte schon in den 20ern für Schlagzeilen – jedoch als Inserat im Pro-Senectute-Heft. Die darin beworbene «Corona 4» war nicht nur eine amerikanische «Schreibmaschine für das Heim», sondern laut dem Zürcher Verkäufer auch «die vollendetste Portable». Und die Ovomaltine-Werbung versprach «Hellauf mit Siebenzig!». Zudem: Wussten Sie, dass es bereits 1979 Interrail-Billette für Senioren gab?
Bildergalerie mit alten Werbeinseraten: zeitlupe.ch/corona4
Kleine Anzeigen, grosses Kino
Die Zeitlupe pflegte rasch eine enge Leserbindung – auch dank der Einführung von Kleinanzeigen anno 1975. Originelle Perlen bot stets die Rubrik «Kontakte». Ein Beispiel von 1983: «Einsame Steppenwölfin, 61, gut in Wuchs und Fell, wohnt in schöner Höhle am Waldrand. Welcher grossgewachsene, intelligente Grauwolf, bis 70 J., nimmt die Fährte auf? Jeder Laut wird beantwortet. Tier- und Naturfreund schreibe bitte an Chiffre 25/283». 1993 schrieb eine Witwe: «Immer noch schöne Frau, vorzeigbar, ohne Probleme, Schweizerin, deutsch und französisch, sucht lieben kultivierten Freund, um einander Geborgenheit zu schenken. Innen und aussen gross. Nicht zu jung, nicht zu alt, nicht zu heiss, nicht zu kalt. Chiffre 2/493.»
Kinder-Überraschung
1979 animierte die Zeitlupe-Redaktion ihre Leserschaft dazu, «Kindermund-Beiträge» einzuschicken. Folgende Anekdoten haben es uns besonders angetan:
Der Blumenstrauss: Dani (5) kam auf Besuch, sah auf unserem Stubentisch einen schönen grossen Blumenstrauss und fragte: «Grossmami, hast du Geburtstag oder musst du heiraten?»
Der Stromausfall: Beat ist bei seinem Onkel in den Ferien. Eines Abends gibt es eine kleine Strompanne. Der Onkel fragt seinen Neffen: «Weisst du eigentlich, woher der Strom kommt?» Beat: «Klar, aus dem Urwald!» «Aus dem Urwald?» — «Natürlich, mein Vater hat schon zweimal bei Stromausfällen gesagt: Jetzt haben die Affen wieder den Strom abgestellt!»
Das alte Haus: Mein Sohn ist kürzlich mit seiner Familie in eine moderne Eigentumswohnung eingezogen. Die drei Kinder zeigten mir stolz die neue Wohnung. Plötzlich meinte der Sechsjährige: «Gelt, Grosi, es macht dir nichts aus, dass du ein altes Haus hast, du bist ja auch schon alt und stirbst sowieso bald.»
Weitere Bonmots: zeitlupe.ch/kinderzitate
Die «verruckte» Grosstante
1983 brachte es eine Kinderzeichnung aufs Zeitlupe-Titelblatt. Eine Schulklasse aus Baden hatte ihre Grosseltern, -tanten und -onkel porträtiert. Sieben Werke fanden den Weg ins Heft, darunter eines mit folgender Bildbeschreibung (unten das zweite Bild v.li.): «Das isch mini Grosstante. […] Si hed es schöns Huus, und amigs gömmer is Kino, und wenn si verruckt isch – si isch zimlich gschnäll verruckt – denn bin ich amigs es Wili ruhig, und denn fang ich wider a rede – ja, und denn seid si nüd mee …» Drei Jahre zuvor hatte die Zeitlupe einen Schüleraufsatz aus Schindellegi zum Thema «Das Alter ist unsere Zukunft» abgedruckt. Der letzte Satz daraus lautet: «Mein Grossvater nützt noch viel auf der Welt.»
Lehrerinnen unter sich
Von Nutzen zu sein, ist nicht erst seit gestern zentral für die mentale Gesundheit. Wie in einer der ersten Ausgaben von «Pro Senectute» zu lesen ist, leisteten die Gebrüder Sulzer 1921 Pionierarbeit, als sie in Winterthur eine besondere Werkstätte für alte Arbeiter einrichteten. In diesem Jahrzehnt entstanden auch einige berufsbezogene Altersheime. Beispielsweise das Schweizer Heim für ältere Lehrerinnen («Nicht-Lehrerinnen werden auch aufgenommen») und für ältere männliche Lehrkräfte in Bern sowie das Zürcher Hospiz für gebildete alte Menschen. Oder ein Berner Altersheim für (weibliche) Dienstboten. Ein Tessiner Ingenieur wollte gar «Altersheime für das intellektuelle Alter» schaffen – für verarmte alte Professoren und glücklose Künstler.
Annemarie anno 1927
In den Anfangsjahren würdigte die Redaktion regelmässig auch 100-Jährige, indem sie deren Biografien veröffentlichte. Nachrufe waren ebenfalls Usus, jedoch fast ausschliesslich von verstorbenen Stiftungsfunktionären. Eine bewegende Ausnahme bildete 1927 ein Text zu Ehren einer verstorbenen 85-Jährigen, der so begann: «Sie hiess Annemarie und war unser Schützling. Sie wohnte eine gute Viertelstunde von unserem Heim entfernt in einem alten, windschiefen, baufälligen Häuschen zwischen zwei anderen armseligen Hütten. In ihrer Häuslichkeit hatte Annemarie stets eine musterhafte Ordnung, und selbst als man sie tot in ihrem Häuslein eingeschlossen fand, in dem sie 70 Jahre lang gewohnt und seit 20 Jahren mutterseelenallein gehaust hatte, da war jedes Ding an seinem gewohnten Plätzchen.»
Zum gesamten Nachruf: zeitlupe.ch/annemarie
Ihre Meinung ist gefragt
Liebe Leserinnen und Leser, wir bemühen uns stets, die Zeitlupe weiterzuentwickeln und zu verbessern. Dabei ist uns auch Ihre Meinung wichtig. Was gefällt Ihnen an unserem Heft? Und worauf könnten Sie getrost verzichten? Welche Artikel aus der letzten Zeit sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben? Was fehlt Ihnen? Und wovon hätten Sie gerne mehr? Wir freuen uns auf Ihre Antworten. Per E-Mail info@zeitlupe.ch. Oder per Post: Redaktion Zeitlupe, Marianne Noser, Schulhausstrasse 55, 8027 Zürich.
Ein Hoch auf die Vermischtmeldungen
Auch amüsante Vermischtmeldungen gehörten zum Heftinhalt. 1956 musste ein Römer Senior ein zweites Mal sein Schulexamen absolvieren – weil er sein altes Schulzeugnis nicht mehr besass. Ohne dieses hätte der 79-jährige Autofahrlehrer (!) wegen einer neuen Verordnung bald nicht mehr arbeiten dürfen. So drückte er erneut die Schulbank: Unter anderem galt es, einen Aufsatz zum Thema «Meine Pläne für die Zukunft» zu schreiben. Er bestand mit Bravour. In einer anderen Meldung von 1974 wiederum verriet ein 98-Jähriger einem Redaktor das Geheimnis seines hohen Alters. Er habe mit seiner Frau vor der Heirat vereinbart, dass man einander kurzzeitig aus dem Weg gehe, sobald einer von beiden genervt sei. Was das mit seiner Gesundheit zu tun habe? «Ich habe den grössten Teil meines Lebens an der frischen Luft zugebracht …», antwortete der Senior. Schlagfertig zeigte sich 1976 eine Seniorin, der in einem überfüllten Bus partout niemand einen Sitzplatz anbieten wollte. Sie wandte sich schliesslich an einen Jüngling: «Entschuldigung, darf ich Ihnen vielleicht meinen Stehplatz anbieten?» Die rhetorische Frage wirkte.
Todesurteil: Bratpfanne
Der vielleicht reisserischste Titel in der Geschichte der Zeitlupe stammt aus dem Jahr 1973: «Der Tod lauert in der Bratpfanne». Untertitel: «Altersmedizin warnt Senioren vor allzu viel Fett».
Zum Artikel: zeitlupe.ch/bratpfanne
Zukunftsmusik!
Erstaunlich: 1937 berichtete die Stiftung «Für das Alter» über ein dänisches Pionierprojekt namens «De Gamles By», eine Altersstadt in Kopenhagen für 1500 «Alte», die bereits 18 Jahre bestand – samt Spital mit 500 Betten. Auch unangenehme Themen fanden den Weg ins Magazin. 1973 nahm ein Schwerpunktthema über Depressionen zwölf Seiten ein. Zwei Jahre später sprach die Redaktion per Leserumfrage ein Tabuthema an: «Passive Sterbehilfe – Ja oder Nein?». Und wie eine Kleinanzeige verrät: Notrufgeräte gab es bereits 1986 als Armbänder – «herabgesetzter Preis: Fr. 2200.–». Weit günstiger war es da, «keine Angst vor dem World Wide Web» zu haben, wie die Zeitlupe 2001 titelte. Interessierte Seniorinnen und Senioren trafen sich damals in verschiedenen Schweizer Städten in sogenannten «Computerias», die von Pro Senectute mitbegründet wurden. Sie waren eine Mischung aus Informatik-Treffpunkten und PC-Selbsthilfegruppen.
Der Sinn des Alterns
«Was soll man dazu sagen, wenn zum Beispiel in Amerika die Mütter ihre Lebensaufgabe darin erblicken, zehn Jahre jünger auszusehen als ihre Töchter?» Dieser Satz stammt aus dem Jahr … 1932, gesprochen an der Generalversammlung des Luzerner Kantonalkomitees der Stiftung «Für das Alter». Dr. med. J. Wyrsch führte in seinem Vortrag aus, was der Sinn des Alters sei: Das hohe Alter erhalte seinen Sinn nicht im Rückwärtsschauen, nicht in einer romantischen Beschwörung der wonnevollen Jugendzeit, sondern es müsse das Ziel vor sich suchen, über dem Abschluss des unvollkommenen Erdenlebens. «Das, und nicht der Abbau der geistigen Fähigkeiten, ist sein Kennzeichen.» In Erinnerung an die Corona-Massnahmen im Jahr 2020 erstrahlt auch eine Aussage des Pro-Senectute-Zentralsekretärs Werner Ammann von 1951 in neuem Licht: «Die starre Altersgrenze von 65 Jahren, die seit einiger Zeit in der öffentlichen Verwaltung platzgegriffen hat, ist zwar sehr bequem, trägt aber dem individuellen Alter des Einzelnen keineswegs Rechnung.»
Dr. Ruth als Zeitlupe-Autorin
Ratschläge zum Thema Sex am Radio und Fernsehen?! «Dr. Ruth» war in den USA in den 80ern eine kleine Sensation. Die deutsch-amerikanische Soziologin Ruth C. Westheimer war nicht nur witzig, sondern auch äusserst schlagfertig. Was sie mit der Zeitlupe zu tun hat? 1975 schrieb die heute 94-jährige Sexualtherapeutin als Autorin auch einen Artikel für die Zeitlupe. Die Holocaust-Überlebende berichtete in der Rubrik «Blick über die Grenze» darüber, wie sie sich als Mitglied einer jüdischen Vereinigung in New York dafür einsetzt, dass ältere Menschen kostenlose Mahlzeiten erhalten und dank vielen gesellschaftlichen Angeboten nicht vereinsamen.
Zum Artikel: zeitlupe.ch/ruth
Liebe im Alter?
Gefallen hätte «Dr. Ruth» bestimmt auch eine Leserumfrage von 1982. Die Frage «Was halten Sie von der Liebe im Alter?» wurde kontrovers diskutiert. Eine Frau fand: «Man sollte vielmehr Sex und grosse Liebe unterscheiden. Auf alle Fälle käme ich mir mit 66 Jahren blöd vor mit Sex, ich habe andere Probleme.» Eine andere Leserin meinte irritiert: «Man könnte schon meinen, in unserem Alter gebe es nichts Schöneres und Besseres als Sex. Da erwarte ich doch noch einiges mehr vom Alter.» Sie auch?
zeitlupe.ch
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