Welche Kleider Menschen tragen, sagt viel über deren Selbstverständnis aus. Mode wird dadurch zum Spiegel der Gesellschaft. Ein Rückblick auf die vergangenen hundert Jahre von Roland Grüter.
1920er: Freiheit für Frauen
Die Nachkriegsjahre sind verklungen. Die Welt wird von neuem Elan erfasst. Die Frauen befreien sich von züchtigen, einengenden Tippelröcken – und tragen nun luftige, frech-feminine Kleider. In den späten 1920ern wird die Marlene-Hose zum Symbol für das neue Selbstverständnis der Frauen. Entsprechend schneiden sie sich auch die Haare kurz. Die Welt ist entsetzt über die neuen Bubi- respektive Pagenfrisuren. Die Emanzipation der Frauen ist aber eingeläutet – und nicht mehr zu stoppen.
1930er: Dress to Impress!
Die Börsenkrise von 1929 bringt Massenarbeitslosigkeit und Armut. Um davon abzulenken, kommt elegante Tageskleidung – Kostüme mit schmaler Taille und wadenlangen Röcken – in Mode. Die Losung heisst: Dress to impress! Kleide dich, um aufzufallen. Viele Erfindungen helfen mit: Elektrische Haarschneidemaschinen und Trockenhauben machen neue Frisuren möglich, der Nylonstrumpf lenkt den Blick auf die Beine, und auch der Reissverschluss steht am Start.
1940er: Neuaufbruch
Für die schönen Dinge des Lebens bleibt in den (Nach-)Kriegsjahren kein Platz. Am 12. Februar 1947 aber präsentiert der grosse Designer Christian Dior (1905–1957) in Paris den legendären «New Look» – eine Ode an die Eleganz und Weiblichkeit. Charakteristisch dafür sind eine enge Taille und runde, weiche Schultern sowie ein weiter, wadenlanger Rock. Diese Silhouette macht Weltkarriere – und ist noch immer aktuell.
1950er: Zeit der Rebellion
Nach all den Entbehrungen des Krieges sehnen sich die Menschen nach einem ausschweifenden Leben mit Luxusgütern. Das prägt auch deren Modeverständnis. 1950 gründet Pierre Cardin als erster Couturier ein Unternehmen, das hochwertige Konfektionskleidung für ein breiteres Publikum zugänglich macht. Parallel dazu entdeckt die Jugend die Mode. Teddy-Boys und Petticoat-Girls blasen zur Rebellion gegen die Spiessigkeit ihrer Eltern.
1960er: Individualität ist Trumpf
Die Welt steht – nach dem Wirtschaftswunder der 1950er – abermals im Wandel. Studentenrevolten und Demonstrationen rütteln sie durch. Passend dazu wird auch die Mode provokanter. Symbolisch dafür steht der Minirock, wie ihn einst das britische Fotomodell Twiggy getragen hat. Auch die Hippie-Bewegung zelebriert weltweit den Aufbruch: mit kunterbunten Blumenmustern und Batikelementen.
1970er: Neuer Stoff der Träume
Das Jahrzehnt der Modesünden! Die voluminösen Fönfrisuren, Schlaghosen, hohen Plateauschuhe oder der Glam der Discobewegung – allesamt zum Abwinken. Oft genug leiden Augen und Nasen zusammen: Denn Polyester etabliert sich als Modestoff und bringt Trägerinnen und Träger ins Schwitzen. Intellektuelle «Ökos» setzen stattdessen auf Baumwoll-Parkas und kritzeln ihre Losungen drauf. Atomkraft – nein danke!
1980er: Frauenpower rockt
Die Modewelt dieser Dekade ist bunt und schrill! Tanzfilme wie «Dirty Dancing» und «Flashdance» favorisieren Leggings und Neonfarben in unseren Alltag. Modeopfer tragen ausgewaschene Mom-Jeans, breite Taillengürtel und XXL-Schulterpolster zur Vokuhila (vorne kurz, hinten lang)-Frisur. So genanntes Power-Dressing, wie wir es aus den TV-Serien «Dallas» und «Denver Clan» kennen, verweist darauf: Wir stehen im Jahrzehnt starker Frauen. Modisch und beruflich. Sie wollen hoch in die Chefetagen.
1990er: Ungestüm und wild
Die Spice Girls spielen gross auf, und ihre Fans tanzen mit einem Scrunchie (Haargummi) im Haar, dem Walkman in der Bauchtasche und auf Plateau-Sneakers durch die Strassen – längst nicht nur an der Street Parade. In den 1990ern rückt der Bauchnabel an die frische Luft: überall bauchfreie Tops und Pullover, so, als gäbe es keine kalten Tage mehr.
2000er: Provokant und farbig
Stilvoll ist es nicht, dafür aber zugegebenermassen bequem: It-Girls wie Paris Hilton machen den Jogginganzug strassentauglich. Auch über bauchfreie Tops, Hüftjeans, Strassstein-Verzierungen, die wilden Muster und den Farbrausch der Nullerjahre lässt sich streiten. Die Mode zeigt viel Haut und wenig Schamgefühl. Da darf der String schon mal aus der Hose gucken – Hau(p)tsache provokant.
2010er: Trends von der Strasse
Der sogenannte Boyfriend-Look leitet das Jahrzehnt der weiten, bequemen Kleidungsstücke ein. Frauen kommen daher, als hätten sie Hosen und Hemd aus den Kästen ihrer Liebsten geklaut. Nicht mehr die Designer in Paris und Mailand setzen Modetrends, sondern die Menschen auf den Strassen selbst. Der so genannte Streetstyle wird geboren und mit ihm auch der Vintage-Trend. Junge finden plötzlich ältere, bereits getragene Shirts, Jacken oder Hosen total angesagt – und verleihen diesen ein zweites Leben.
2020er: Alles geht
Die Macht der Mode ist endgültig vorbei. Alle tragen, worauf sie Lust haben – und decken sich im Brocki oder auf Flohmärkten mit Klamotten ein, mischen Stile nach freiem Gusto. Das Interesse an nachhaltiger Mode (Slow Fashion) wächst. Vor allem umweltbewusste Jugendliche wollen wissen, ob Kleider fair und umweltschonend produziert werden. Für sie gilt: Weniger ist mehr. Sie füllen ihre Schubladen nur noch ausgewählt.
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