Spassbremse Histamin
Histaminintoleranz setzt Betroffenen arg zu. Sie lässt sich nur mit grossem Aufwand diagnostizieren – doch der lange Weg lohnt sich. Ein Gespräch mit Ernährungsexpertin Andrea Cramer über das verkannte Übel.
Text: Roland Grüter
Histamine stehen gemeinhin in Verruf. Doch kaum einer weiss genau, was darunter zu verstehen ist. Klären Sie uns bitte in aller Kürze auf.
Histamin gehört zu den sogenannten biogenen Aminen, sie kommen in fast allen Lebensmitteln in geringen Mengen vor: Diese Stoffe entstehen beim Ab- und Umbau von Eiweiss. Zudem ist Histamin ein körpereigenes Hormon. Es reguliert viele Funktionen, beispielsweise den Blutdruck, die Muskelkontraktionen (z. B. von Darm, Gebärmutter, der Atemwege) oder macht Gefässe durchlässiger. Ein höchst komplexer Stoff also, der von vielen Faktoren abhängig ist.
Weshalb reagiert der Körper urplötzlich verstimmt auf Histamin, wenn es uns sozusagen quer durchs Leben begleitet? Empfindlichkeiten können ja selbst im hohen Alter auftreten.
Die Histaminintoleranz ist keine angeborene, sondern eine erworbene Krankheit. Sie entwickelt sich schleichend. Meist sind Frauen ab 40 Jahren davon betroffen, sie machen rund 80 Prozent aller Fälle aus. Die genauen Gründe sind noch immer unbekannt. Vermutlich gerät das feinjustierte Regulierungssystem des Histamins aus dem Gleichgewicht und ist in der Folge damit überfordert. Es entsteht sozusagen eine Dysbalance zwischen körpereigenem und zugeführtem Histamin, der Abbau dieses Stoffes erfolgt zudem verlangsamt oder gehemmt – was zu einem Übermass und empfindlichen Reaktionen führen kann.
Mit welchen Folgen?
Die Symptome sind vielfältig und betreffen exakt jene Funktionen im Körper, an denen Histamin beteiligt ist. Dazu zählen beispielsweise Hautrötungen, Quaddeln, Juckreiz oder Ekzeme. Auch Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Magenkrämpfe und Blähungen gehören dazu, da der Magen-Darm-Trakt ebenfalls im Wirkungsfeld von Histamin liegt. Und zu den Störungen im Herz-Kreislauf-System zählen Herzrasen, Schwindel, Herzrhythmusstörungen oder Blutdruckabfall. Selbst eine laufende Nase, Asthma, Menstruationsbeschwerden, Kopfschmerzen und Migräne lassen sich mitunter darauf zurückführen.
Wie findet man heraus, ob eine Histaminintoleranz besteht und auf welche Lebensmittel man empfindlich reagiert?
Zuverlässige Testverfahren für eine gesicherte Diagnose gibt es bis heute leider noch nicht. Erst versucht man, mit einem konsequenten Verzicht aller verdächtiger Lebensmittel die Beschwerden komplett auszuhebeln. Danach essen Betroffene kleinere Mengen histaminreicher und histaminbeeinflussender Speisen und schauen, was diese bewirken. Mit etwas Geduld lassen sich Reizfaktoren dadurch verlässlich sondieren.
«Zuverlässige Testverfahren für eine gesicherte Diagnose gibt es bis heute leider noch nicht.»
Andrea Cramer
Das klingt ziemlich aufwendig und kompliziert: Wo finden Betroffene Hilfe respektive Unterstützung?
Ich empfehle Betroffenen, sich Rat und Unterstützung bei einer ausgebildeten Ernährungsberaterin, bei einem ausgebildeten Ernährungsberater zu holen. Denn der Prozess sollte professionell angeleitet und begleitet werden.
Welche Lebensmittel enthalten besonders viel Histamin – und gilt es folglich zu meiden?
Es gibt Lebensmittel, die direkt Histamin enthalten, aber auch solche, die den Histaminspiegel und Abbau indirekt beeinflussen, so wie andere Faktoren auch (Histaminliberatoren, Diaminoxidasehemmer, weitere biogene Amine etc.). Die Reihe ist entsprechend lang. Idealerweise meidet man sämtliche Gärungs-, Reifungs- und Fermentationsprodukte, also zum Beispiel Alkohol, Essig, lange gereifter Käse, Hefe-Backwaren, Sauerkraut. Dann die Halbfertig- und Fertigprodukte, Konserven oder stark verarbeitete Produkte wie Fleisch- und Wurstwaren. Auch lang warmgehaltene und aufgewärmte Speisen sind zu meiden – genauso schnell verderbliche Frischprodukte, die nicht sachgemäss behandelt wurden. Ausserdem gehören ausgewählte Lebensmittel dazu, unter anderem Tomaten, Pilze und Avocados. Während der «Eliminations-Diät» sind diese tabu, langfristig aber gilt: Man muss herausfinden, welche Lebensmittel davon zu Unverträglichkeiten führen. Danach kann man den Speiseplan wieder schrittweise erweitern – selbst die Menge der Reizfaktoren spielt eine Rolle.
Wie kommt das Histamin geballt in diese Lebensmittel?
Wie eingangs erwähnt, enthalten Lebensmittel diesen Stoff naturgegeben. Gärungs-, Reifungs- und Fermentationsprozesse können den Gehalt aber erhöhen. Auch gewisse Verarbeitungsprozesse bewirken eine Steigerung – oder wenn Produkte (zu) lange gelagert werden.
Verschwinden die Symptome durch einen konsequenten Verzicht verlässlich?
In vielen Fällen: ja. Falls nicht, gilt es weitere Unverträglichkeiten in Betracht zu ziehen. Allenfalls sind auch ernährungsunabhängige Einflüsse schuld daran.
Gibt es allenfalls Medikamente, die die Symptome mindern?
Es gibt tatsächlich ein Präparat, das man nach einer diagnostizierten Histaminintoleranz einnehmen kann. Es enthält ein Enzym und verbessert im Darm den Abbau des Histamins aus der Nahrung. Da aber bei der Histaminintoleranz wie vorausgeschickt verschiedene Mechanismen ineinanderspielen, wirkt das Präparat nicht bei allen Betroffenen gleich gut. Es auszuprobieren, lohnt sich.
Andere Tipps?
Betroffene sollten Histamin-beeinflussende Lebensmittel möglichst über den Tag verteilt konsumieren – und zwar nur in den Hauptmahlzeiten, nicht zwischendurch. Darüber hinaus sollten sie histaminreiche Speisen mit Eiweiss, Fett und Nahrungsfasern kombinieren. Diese passieren den Darm langsamer, und das Histamin kann besser abgebaut werden.
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