Wir holen alles nach, Kapitel 12 Von Martina Borger
In der Agentur ist der Teufel los, so viele Überstunden hat Sina noch nie machen müssen. Wenn Torsten nicht wäre, der jeden Tag um fünf Feierabend hat und sich danach um Elvis kümmern kann, hätte Sina wieder Ellen um Hilfe bitten müssen, aber Torsten steht ihr bereitwillig und ohne zu klagen bei, sie hat wirklich Glück mit ihm.
Die Überstunden werden nicht bezahlt, ihr Vertrag sieht vor, dass sie zeitlich ausgeglichen werden. Theoretisch hätte sie schon wieder eine Urlaubswoche zusammen, aber momentan ist nicht absehbar, wann sie freinehmen könnte. Für die kommenden Tage um den 3. Oktober, an denen ein richtig langes Wochenende möglich wäre und an denen sie eigentlich den Elvis versprochenen Ausflug nachholen wollten, hat H. C. eine Urlaubssperre verhängt, sie hat also gerade mal den einen Tag frei, immerhin ein Mittwoch, das macht die Woche einigermassen erträglich.
Weshalb H. C. so Druck macht, kann Sina nicht nachvollziehen. Er lässt Kampagnen, die eigentlich fertig und nach Meinung aller gelungen sind, noch einmal komplett überarbeiten, er gibt der Graphik immer wieder Entwürfe zurück, die er vorher genau so bestellt hat, er macht in einer Montagssitzung die Texter zur Schnecke, denen es angeblich in letzter Zeit an Kreativität, an Input, an Flow mangelt, und das bei ihren horrenden Gehältern. Die in den letzten fünf Jahren nachweislich nicht erhöht worden sind
Gestern in der Mittagspause war Sina zum Italiener gegangen, mit Leonie, die seit knapp einem Jahr Creative Director ist, sich aber schon wieder, wie sie nebenbei erzählt, nach einem neuen Job umsieht.
«Wieso das denn?», hatte Sina gefragt. «Okay, H. C. ist ein Arsch, aber sind das nicht alle Chefs in der Branche?»
«Darum geht’s nicht.» Leonie hatte die Speisekarte zugeklappt und weggelegt. «Ich hab nur die starke Vermutung, dass der Laden demnächst den Bach runtergeht.»
«Nicht dein Ernst!»
«H. C. ist in Zahlungsschwierigkeiten, das weiss ich definitiv. Neulich auf der Messe hab ich zufällig ein Telefonat mitgekriegt, die Bank sitzt ihm im Nacken.»
«Wir haben doch drei grosse Aufträge bis Weihnachten! Die müssen doch Geld in die Kasse spülen!»
«Schön wär’s. Aber die Kaffee-Kampagne wackelt, die sind mit uns unzufrieden. Fred von S&D hat mir neulich gesteckt, dass sie bei ihnen angefragt haben. Die erarbeiten schon ein neues Konzept.»
Sina hatte ihre Spaghetti kaum angerührt, so sehr hatte ihr die Nachricht auf den Magen geschlagen. Leonie war erfahrungsgemäss gut informiert und keine Tratschtante, die dachte sich so was nicht aus. Und wenn sie genauer darüber nachdachte, war die Vermutung nicht von der Hand zu weisen. Ihr war schon aufgefallen, dass gespart wurde, an Personal und Honoraren sowieso, aber auch an Kleinigkeiten. Als vor zwei Wochen der Kaffeevollautomat, italienisches Luxusdesign, der am Tag an die hundert Latte Macchiato und Espresso ausspuckte, kaputtging, war er durch eine stinknormale deutsche Kaffeemaschine ersetzt worden, nicht mal neu. Und die Tatsache, dass der traditionelle Betriebsausflug auf die Wiesn ohne jede Erklärung abgeblasen worden war, erschien jetzt auch in einem anderen Licht. Indizien gab es genug.
Sie hatte in der Vergangenheit immer wieder mal überlegt, meist nach einem von H. C.s gefürchteten Wutausbrüchen, ob sie sich auf dem Markt nach einem anderen Job umsehen sollte, Werbeagenturen gab es im Prinzip ja genug. Und ungekündigt hätte sie eine bessere Verhandlungsposition. Aber dann hatte sie es doch gelassen; so unangenehm
H. C. manchmal sein konnte, ihre Stelle hatte viele Vorteile. Sie hatte es nicht weit zur Agentur, grade mal sieben Minuten mit dem Fahrrad und zwanzig mit der U-Bahn, das Gehalt war okay, die Kollegen nett, es gab kein Herumgezicke und kein Mobbing. Und dass sie es normalerweise, wenn auch mit hängender Zunge, schaffte, gemeinsam mit Elvis nach Hause zu kommen, oder ihn sogar manchmal vom Hort abholen konnte, war ihr sehr wichtig. Ausserdem hatte sie zwar inzwischen vier Jahre Agentur-Erfahrung vorzuweisen, aber keine entsprechende Ausbildung, mit Assistentinnen wie ihr konnte man vermutlich die Strasse pflastern.
Eine Weile würden sie finanziell sicher klarkommen, wenn der Laden tatsächlich pleiteging. Immerhin hatte Torsten ja jetzt endlich die feste Stelle, er zahlte einen Teil der Lebensmittel und hatte angeboten, mindestens ein Drittel der Miete zu übernehmen, aber sie hatte abgewinkt; nach Abzug des Unterhalts für seine Söhne blieb ihm nicht mehr allzu viel, ausserdem hatte er noch Schulden bei seinen Eltern, die er hatte anpumpen müssen nach dem Verlust seines Jobs.
Immerhin würde sie Arbeitslosengeld bekommen, aber es würde bald knapp werden, sie musste also schnell etwas Neues finden. Der größte Posten war die Wohnung, sie hatte schon bei ihrem Einzug eigentlich über ihrem Budget gelegen, nur dank Davids Unterhalt war es gegangen. Inzwischen aber zahlte sie wegen der Staffelmiete fast zweihundert pro Monat mehr, und auch die Nebenkosten hatten sich laufend erhöht. Eine günstigere Bleibe zu finden war utopisch, mittlerweile wurden in ihrer Gegend Quadratmeterpreise von mindestens siebzehn, achtzehn Euro verlangt, kalt, meistens mehr. Und an den Stadtrand zu ziehen, aufs Land gar, war auch keine Option, Torsten und sie würden lange Anfahrtszeiten zur Arbeit und zurück in Kauf nehmen müssen, von den Kosten mal ganz abgesehen, und wo würde sie einen Hortplatz für Elvis finden? Der sich noch dazu komplett umgewöhnen müsste? Aber vielleicht wurde es ja gar nicht so schlimm.
Vielleicht sah Leonie viel zu schwarz, und die Agentur machte nur eine kleine Durststrecke durch, die es in dieser Branche immer mal wieder gab. Trotzdem wollte sie sich in den nächsten Tagen entsprechende Stellenangebote ansehen, die Lage checken. Und Torsten würde sie erst mal nichts sagen von dem Gespräch mit Leonie, von wegen schlafende Hunde und so.
Ganz verdrängen kann sie diese Gedanken dennoch nicht, als sie abends beim Essen über Elvis’ anstehenden Geburtstag und die Party dafür reden. Es sind nur noch zwei Wochen, sie ist mit der Planung spät dran, heutzutage sind ja auch Schulkinder schon Wochen im Voraus ausgebucht. In ihrer momentanen Lage wäre es vernünftig, sich etwas Kostengünstiges zu überlegen, auf der anderen Seite soll Elvis ein tolles Fest haben. Letztes Jahr fiel seine Fete ins Wasser, weil er krank war; sie hatte sich fest vorgenommen, sie so bald wie möglich nachzuholen, aber natürlich war es nicht dazu gekommen, so was klappte fast nie.
»Wir könnten eine Übernachtungsparty machen«, sagt sie, während sie die Spiegeleier zu den Bratkartoffeln auf die Teller bugsiert. »Dein Geburtstag ist ja am Samstag, das würde super passen. Und vorher vielleicht Kino, was meinst du?«
«Oder eine Schnitzeljagd?» Torsten bringt die Salatschüssel zum Tisch. «Hab ich als Kind total gern gemacht. Und jetzt eigentlich auch noch.»
«Wie viele Kinder möchtest du denn einladen?» Sina schenkt Elvis Saft ein, sie kauft momentan immer Multivitamin, weil er oft so blass ist und schlapp wirkt.
«Weiss nicht.»
«Dann überleg doch mal! Also Lukas natürlich, und dann dieser Junge, bei dem du kurz nach Ostern eingeladen warst, wie heisst der?»
«Miro.»
«Genau. Und ein paar Kinder aus dem Hort? Willst du auch Mädchen dabeihaben?»
Elvis nimmt sich Salat, er hält das Besteck ungeschickt und kleckert Sosse auf den Tisch, Sina verkneift sich eine Bemerkung.
Torsten grinst. «Dann kommt eine Übernachtungsparty wahrscheinlich eher nicht in Frage.»
«Falls er überhaupt eine will. Jetzt sag doch mal, Elvis!»
Er spiesst sorgfältig Salatblätter auf, den Kopf gesenkt. «Ich will gar keine.»
«Keine was? Keine Party? Mit deinen Freunden? Aber warum nicht?»
«Ich möchte am liebsten nur mit euch feiern», sagt er. «Und mit Ellen vielleicht. Und dem Hund.»
«Im Ernst?»
«Ja. Vielleicht kommt Papa auch. Er hat gesagt, er würde es versuchen.»
Klar hat er das, denkt Sina grimmig. Jede Menge Versprechungen machen und die dann nicht halten, darin ist David ja gross.
«Und wir könnten doch auch zusammen ins Kino gehen», Elvis säbelt an seinem Ei herum, das Messer quietscht auf dem Teller, Sina bekommt eine Gänsehaut bei dem Geräusch.
«Oder die Schnitzeljagd machen. Oder auf dem Ammersee Schiff fahren.»
«Und du willst wirklich keinen einzigen Freund dabeihaben?» Ist das normal für einen fast Neunjährigen? Nur mit Erwachsenen feiern zu wollen?
«Nein», sagt er. «Mit denen ist es immer so laut.Ich will nur euch. Und Ellen eben.»
«Und den Hund.»
Er nickt, lächelt. Das tut er immer, wenn die Rede auf den Hund kommt. Sie tauscht einen Blick mit Torsten, der etwas ratlos die Achseln zuckt.
«Du machst dir aber keine Gedanken wegen Geld, oder?», fragt sie. «Ich meine, dass es zu viel kosten würde. Das wäre nämlich nicht das Problem.»
«Nein. Ich hab einfach keine Lust.»
Sie betrachtet ihren Sohn, der ohne grossen Appetit auf seinem Ei herumkaut. Früher hatte er abends immer einen Mordshunger, weil er das Mittagessen im Hort nicht so mag; schon während des Kochens ist er um sie herumgetanzt, hat genascht und gedrängelt. Sind Jungs in dem Alter nicht total verfressen? Sollte sie mal mit ihm zum Arzt gehen, ihn gründlich durchchecken lassen?
«Schade», sagt sie. «Ich hab gedacht, du freust dich über eine Party.»
«Lass ihn doch», sagt Torsten und salzt die Kartoffeln nach. «Es ist immerhin sein Geburtstag, da darf er selber entscheiden. Ich fühl mich jedenfalls sehr geehrt, dass ich dein Gast sein darf, Elvis.»
Als sie vor dem Schlafengehen ein letztes Mal ihre Mails checkt, findet sie eine Nachricht von der Hundezüchterin im Allgäu vor, der sie vor zwei Ta-gen geschrieben hat. Sie hat vorher stundenlang im Internet recherchiert, welche Hunderasse für eine Allergikerin wie sie überhaupt in Frage käme, und ist bei Pudeln gelandet, die kein Fell haben, sondern Haare, von denen sie kaum welche verlieren. Also wenn sie den vielen Infos im Netz glauben kann.
Die Züchterin schreibt, dass sie Ende Oktober drei Zwergpudel-Welpen abzugeben hätte, die dann acht Wochen alt sein werden, zwei Rüden, ein Weibchen. Sie hat Fotos mitgeschickt von den Hunden, einer hellbraun, einer beige, einer schwarz, sie sehen aus wie Teddybären. Sina geht das Herz auf, wenn sie sich vorstellt, einen davon in Elvis’ Arme zu legen.
Sie trägt den Laptop zu Torsten, der gerade noch laufen war und jetzt Spätnachrichten sieht; vorher versichert sie sich, dass die Tür zu Elvis’ Zimmer geschlossen ist.
«Guck mal, einen von denen könnten wir haben. Sind die nicht total knuffig?»
Sie hat ihm natürlich von ihrer Idee erzählt, er hat sie bisher kaum kommentiert.Torsten wirft einen Blick auf den Bildschirm.
«Alle jungen Hunde sind niedlich. Du willst also ernst machen?»
«Elvis würde ausflippen.»
«Keine Frage. Aber wir sollten das gut überlegen. So ein Welpe macht viel Arbeit, allein die Erziehung. Und allein bleiben kann er am Anfang auch nicht.»
«Ich könnte ihn mit in die Agentur nehmen, Jenny bringt sogar ihren Labrador mit, dieses Riesenvieh. Und mittags kann ich mit ihm an der Isar eine Runde drehen.»
Torsten legt den Arm um sie, küsst sie auf die Schläfe. «Ich bin sicher, du würdest ihn wunderbar versorgen. Aber trotzdem, ein Hund im Büro?»
«Am Wochenende und in den Ferien kann sich Elvis um ihn kümmern. Er würde lernen, Verantwortung zu übernehmen! Einen Gefährten haben. Er wäre so glücklich …»
«Versteh ich ja, Süsse. Wir müssen nur bedenken, dass so ein Hund locker zwölf, dreizehn Jahre alt werden kann. Was machen wir zum Beispiel im Urlaub mit ihm?»
«Wir fahren irgendwohin, wo wir ihn mitnehmen können. Bestimmt würde auch Ellen ihn betreuen.»
Er verzieht kurz das Gesicht. «Übernimmt die in Zukunft unsere halbe Familie?»
«Sei doch froh, dass es sie gibt, ohne sie wären wir ganz schön aufgeschmissen gewesen in den letzten Ferienwochen.»
«Weiss ich. Ich hab bloss das Gefühl, dass die mich nicht mag. Auf mich irgendwie herabschaut. Keine Ahnung, warum.»
«Das bildest du dir ein. Ausserdem gibt es auch noch Hundepensionen.»
«Die ziemlich teuer sind. Und wer geht mit ihm raus, bei Wind und Wetter? Am Anfang müssen die alle zwei Stunden Gassi gehen, soviel ich weiss.»
«Das macht natürlich Elvis, wenn er nicht in der Schule ist.»
Torsten lacht. «Das reden sich alle Mütter ein, deren Kinder sich einen Hund wünschen.»
Er klickt noch mal eins der Fotos an, vergrössert es. Sina weiss, sie hat so gut wie gewonnen, als sie sein Lächeln sieht. Er hat Tiere gern, er hatte selbst einen Hund, als er klein war, eine Promenadenmischung aus dem Tierheim. Der allerdings mit fünf Jahren überfahren wurde. Daran darf sie gar nicht denken.
«Und was soll er kosten?»
Das ist ein heikler Punkt. «Zwölfhundert.» Er zieht hörbar die Luft ein. «Im Ernst?»
«Das sind Rassehunde, Torsten, da ist der Preis normal. Diese Züchterin ist ein Profi. Und wenn wir ihn kriegen, wäre er geimpft, entwurmt und so weiter, das kostet ja alles.»
«Ganz schön üppiges Geschenk für einen Neunjährigen.»
«Ja», sagt sie. «Aber wüsstest du ein besseres?» Er streicht mit dem Finger über ihre Wange.
«Egal, was ich sage, du hast dich schon entschieden, oder?»
«Ich wünsch mir eben, dass Elvis glücklich ist», sagt Sina.
«Und du glaubst, das ist er ohne ein Tier nicht?» Sie zögert. «Ich weiss nicht«, sagt sie. »Ich hab oft das Gefühl, dass er das Leben schwernimmt. Nicht leicht Freunde findet, immer noch unter der Scheidung leidet, keine Ahnung. Wenn ich ihn frage, sagt er kaum was.»
«Ich war auch so in dem Alter», sagt Torsten.
«Hab alles mit mir selber ausgemacht.» Er schaltet den Fernseher aus. «Also gut. Wenn du ganz sicher bist, kriegt er den Hund. Ich zahl die Hälfte. Zwei Beine und den Kopf. Den Hintern übernimmst du.»
Sina liegt noch lange wach, formuliert im Kopf schon die Mail an die Züchterin morgen, überlegt, welche Fragen sie noch stellen muss. Sie weiss natürlich, dass es eigentlich Irrsinn ist, in ihrer Situation einen Hund anzuschaffen. Und sie weiss auch, dass dieses Tier ein Mittel ist, sich selbst und ihr schlechtes Gewissen ihrem Sohn gegenüber zu besänftigen. Das Gespräch mit Ellen neulich nagt immer noch an ihr. Sie hat versucht, die Fragen der übertriebenen Besorgnis einer alten Frau zuzuschreiben, aber so ganz ist es ihr nicht gelungen, vermutlich weil ihr klar ist, dass Ellen den Finger in eine Wunde gelegt hat. Immer wieder hat sie in letzter Zeit das Unbehagen, das sie in Bezug auf Elvis verspürt hat, unterdrückt, weil sie die Gedanken, die damit verbunden sind, einfach nicht zulassen will.
Vielleicht ist ja auch nichts, hat sie sich immer wieder gesagt. Vielleicht ist es normal in seinem Alter, dass er stiller ist als andere Jungs seines Alters, in sich gekehrter, dass er sich abschottet, die beginnende Vorpubertät könnte ein Grund sein. Oder die Tatsache, dass er David doch mehr vermisst, als er zugibt. Möglicherweise ist sie nur eine überfürsorgliche Mutter, die das Gras wachsen hört. Als sie mit ihm schwanger war, hatte sie ein ganz genaues Bild gehabt von dem Sohn, den sie bekommen würde. In ihrer Vorstellung war er ein lebhafter Junge, unerschrocken, fröhlich, ein Wildfang, manchmal ein bisschen zu frech, so dass man ihn bremsen musste. Einer, der mit dem Fussball Fensterscheiben einschmiss und abends vom Spielen regelmässig mit aufgeschürften Knien heimkam.
Intelligent, aber faul. Selbstbewusst, das auf alle Fälle. Einer, der keinem Streit und keiner Rauferei aus dem Weg ging, trotzdem aber kein fieser Pöbler war. Er interessierte sich für Autos und Motorräder und tat im Haushalt freiwillig keinen Handschlag. In der Pubertät würde er so streng riechen wie ihr Bruder Lennart, zu spät nach Hause kommen und schon früh seinen ersten Rausch haben. Trotzdem aber ein guter Junge sein. Den man zwar ab und zu an die Kandare nahm, auf den man aber in Wahrheit stolz war.
Woher kam dieses Klischeebild damals? Von David, der laut Aussage seiner Mutter ein solcher Junge gewesen war? Oder hatte ihr Vater sie infiziert, der alle Eskapaden von Lennart damit entschuldigte, dass er eben ein Junge war? Der seinen Tod zwar schweigsam, aber lange und intensiv betrauert hatte, ihn aber gleichzeitig so hinnahm, als sei er der angemessene für Lennart gewesen, ein männlicher Unfall, schnell, dramatisch, beim Kampf mit den Elementen. Sie selbst war nach der ersten Zeit der Trauer unendlich zornig auf ihren Bruder gewesen, der mit seinen Freunden eine gesperrte schwarze Piste hinuntergeheizt war, in dem unerschütterlichen Glauben an seine Unsterblichkeit; ihre Mutter hatte ihre Wut verstanden, ihr Vater nicht. «Der Junge war leichtsinnig», das gab er zu, aber in diesem Satz schwang eine Art Stolz mit, der sie noch wütender machte. Dass sein Sohn etwas gewagt und sich nicht Verboten gebeugt hatte, mutig und rebellisch war. Was er, der kleine Beamte, sich nie getraut hatte.
Elvis entspricht in so gut wie keiner Beziehung der Vorstellung, die sie sich damals von ihm gemacht hat. Und wenn sie ehrlich mit sich ist, hadert sie damit, vor allem, weil es kein gutes Licht auf sie selbst wirft. Es wäre ihre Aufgabe gewesen, ihm seine Ängstlichkeit zu nehmen, seine Scheu, auf andere zuzugehen, sie hätte vermutlich sensibler mit ihm umgehen müssen, mehr auf ihn eingehen, mehr Verständnis zeigen. Oder vielleicht auch das genaue Gegenteil? Strenger sein, konsequenter, ihm mehr Grenzen setzen, gegen die er hätte ankämpfen können? Sie weiss es nicht.
Natürlich ist ihr klar, dass jedes Kind anders ist, dass es schon mit bestimmten Charakteranlagen auf die Welt kommt, dass die Psychologen raten, es so anzunehmen, wie es eben ist, es nicht verändern zu wollen, es von Herzen zu lieben mit all seinen Eigenarten. Und sie liebt Elvis, er ist das Wichtigste in ihrem Leben, trotz Torsten. Aber sie hat Angst um ihn. Sie fürchtet, dass er nicht bestehen wird in dieser Welt, dass ihm Ellbogen und Kaltschnäuzigkeit
fehlen, dass er ausgenutzt werden wird, übergangen, beiseitegestossen, kleingemacht, gedemütigt. Dass er schwach ist, sich nicht genug wehrt. Dass er kämpfen muss, um sich im Leben einen Platz zu erobern, an dem er sich wohl und geborgen fühlt. Dass er es auch mit Frauen nicht leicht haben wird. Oder mit Männern, egal.
Ein paar Jahre noch, dann wird sie nicht mehr viel für ihn tun können. Schon jetzt weiss sie ja kaum, wie sein Leben ausserhalb ihrer vier Wände aussieht, was mit ihm geschieht, in der Schule, im Hort. Sie kann nicht an seiner Seite sein, sich nicht vor ihn stellen, ihn nicht beschützen vor den Grausamkeiten eines Kinderlebens. Auch ein Hund wird das nicht ändern, da macht sie sich nichts vor. Aber vielleicht hilft es ihm ein kleines bisschen, den Tag zu überstehen, wenn er weiss, dass zu Hause ein Lebewesen auf ihn wartet, das ihn bedingungslos liebt, ein Gefährte, der ihm vertraut, der ihn braucht, der sich auf ihn verlässt. Der ihm Wärme gibt, nicht nur körperlich. Und auch wenn es unhygienisch ist, sie wird ihm erlauben, den Hund nachts mit in sein Bett zu nehmen. Er soll nicht allein sein, denkt sie, dreht sich um und legt die Arme um den schlafenden Torsten, vergräbt ihr Gesicht an seinem sich ruhig hebenden und senkenden Rücken. Niemand sollte allein sein.
Was bisher geschah:
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Martina Borger
Wurde 1956 geboren und arbeitete als Journalistin, Dramaturgin und Filmkritikerin, bevor sie sich aufs Drehbuchschreiben verlegte. Sie hat bei mehreren Serien als Storylinerin und Chef-Autorin gearbeitet. Gemeinsam mit Maria Elisabeth Straub veröffentlichte sie 2001 ihren ersten Roman «Katzenzungen», dem «Kleine Schwester» (2002), «Im Gehege» (2004) und «Sommer mit Emma» (2009) folgten. Ohne Co-Autorin erschien 2007 ihr Roman «Lieber Luca». Martina Borger lebt in München.
Martina Borger, «Wir holen alles nach», Roman, Diogenes
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120 / 20 / 44 / 1; ISBN 978 3 257 07130 6