Es ist unser freier Wille, ob wir uns oder anderen vergeben wollen, wenn Fehler passieren. Neurowissenschaftlerin Barbara Studer erklärt, weshalb Vergebung dazu beiträgt, ein gesünderes und erfüllteres Leben zu führen.
Vergebung wird oft als emotionales oder spirituelles Konzept betrachtet. Dabei sollte sie uns alle interessieren und beschäftigen. Denn aus der Psychologie und den Neurowissenschaften wissen wir, dass der Prozess der Vergebung mindestens dreifache Wirkung hat: Sie erhöht das psychische Wohlbefinden, stärkt Beziehungen und modelliert unser Gehirn. Somit ist Vergeben auch ein wichtiger Teil eines ganzheitlichen Ansatzes zur Förderung der Gehirngesundheit. So zeigt beispielsweise eine Studie, die die Auswirkungen von Vergebung auf ältere Erwachsene untersuchte, dass die Bereitschaft zur Nachsicht die kognitiven Funktionen, einschliesslich Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Problemlösungsfähigkeit, positiv beeinflusst.
Auch konnte nachgewiesen werden, dass Vergebung den Zusammenhang zwischen Stress und psychischen Erkrankungen reduziert und damit das Risiko für Depressionen, Angstzustände und andere psychische Gesundheitsprobleme bedeutsam senkt. Dies ist auf Veränderungen im Stoffwechsel und im limbischen System zurückzuführen, das für Emotionen und Stressreaktionen verantwortlich ist. Zudem kann Nachsicht dazu beitragen, dass man besser mit negativen Emotionen umzugehen lernt und mehr Verständnis für andere entwickelt, was zu einer Stärkung der Beziehungen führt.
Umgekehrt zeigt die Forschung, dass wir die Auswirkungen von Ressentiments und Nichtvergeben und der damit verbundenen negativen Emotionen nicht unterschätzen sollten. Sie lösen auch physiologisches Unbehagen aus, können zu einer Hyperaktivität des sympathischen Nervensystems führen. So zerrt chronischer Ärger unbewusst an unseren mentalen und physiologischen Kräften, da er unseren Organismus in einen «Kampf-oder-Flucht»-Zustand versetzt, was in Veränderungen der Herzfrequenz, des Blutdrucks und des Immunsystems resultiert. Dies begünstigt Nervosität, Schlaflosigkeit und somatische Erkrankungen. Zusätzlich belastet es die Gehirngesundheit und kann speziell den Hippocampus, eine wichtige Struktur im Gehirn, die besonders anfällig auf Stress ist, schädigen.
Zu wissen, dass Vergebung wichtig für die Hirngesundheit ist, reicht natürlich nicht aus, dass wir dies auch gut beherrschen. Wir wissen alle, dass Nachsicht kein einfacher oder schneller Prozess ist und dass es dafür Zeit und Anstrengung benötigt. Dies wird auch von der Neurobiologie bestätigt: Das Gehirn setzt dabei Prozesse der Analyse, Reflexion, Emotionsregulation und Planung in Gang. Es versucht, in die Zukunft zu projizieren und das Schwierige der Vergangenheit zu verarbeiten und zurückzulassen. Die Vergebung als einen aktiven Prozess zu akzeptieren, den man üben und lernen kann, ist essenziell.
Wichtig ist auch, das Ziel des Vergebungsprozesses zu berücksichtigen. Dieses besteht nicht darin, das Geschehene zu vergessen, sondern zu lernen, mit dem Geschehenen umzugehen, schlechte Gefühle loszulassen, Angst zu reduzieren und erneut Hoffnung und Zukunftsperspektiven zu finden. Das sind alles Dinge, für die man sich bewusst entscheiden kann, unabhängig davon, ob die andere Person es verdient oder nicht.
Also bitte zögern Sie nicht, einfühlsam und mitfühlend mit sich selbst zu sein, sich selbst und anderen immer wieder zu vergeben. Tun Sie es Ihrer psychischen und körperlichen Gesundheit zuliebe. Tun Sie es im Wissen, dass Sie sich dadurch emotionales und kognitives Wohlbefinden schenken. Auch wenn es nicht immer einfach ist: Seien Sie es sich wert, es lohnt sich.
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