Der Horror der Vergangenheit
Gut drei Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer bekommen im Laufe ihres Lebens eine Posttraumatische Belastungsstörung. Die Betroffenen leiden unter Flashbacks, Angstattacken und Schlafstörungen. Doch eine Therapie kann den Weg zurück in ein normales Leben ebnen.
Text: Claudia Senn
Am Ende war es der Tod ihres Hundes, der Silvia Mittelholzer* ins Bodenlose fallen liess. Gelitten hatte die 60 Jährige seit Jahrzehnten, «aber will man es wahrhaben?» Ihr Leben lang packte sie die schlimmen Erinnerungen aus ihrer Kindheit «in eine Schublade», bis diese irgendwann nicht mehr zuging, weil sie einfach zu voll war. Als sie sich dann nicht einmal mehr dazu aufraffen konnte aufzustehen, musste Silvia Mittelholzer in eine Klinik.
Es ist nicht leicht auszusprechen, was damals vorgefallen ist. Bevor Mittelholzer – eine zartgliedrige Frau mit flackerndem Blick – davon erzählt, versichert sie sich erst einmal, ob die Journalistin auch ertragen kann, was sie zu hören bekommt. Dann berichtet sie mit einer so sachlichen Stimme, als wäre das alles jemand ganz anderem passiert, wie sie ab einem Alter von drei Jahren von zahlreichen Mitgliedern ihrer Familie und auch von anderen Menschen über Jahre hinweg missbraucht worden sei. Die Täter wurden gerichtlich verurteilt.
Die seelischen Wunden, die der jahrelange Missbrauch in Silvia Mittelholzers Kinderseele schlug, nennt man psychische Traumata. Im Alltag wird der Begriff Trauma manchmal leichtfertig für alle möglichen unangenehmen Erfahrungen verwendet, doch die eigentliche Definition des Wortes ist eine schwerwiegende seelische Verletzung, ausgelöst durch schlimmste Gefühle der Verzweiflung, des Ausgeliefertseins und der Bedrohung. Überlebende von Krieg, Folter, Gewaltverbrechen oder Naturkatastrophen sind oft traumatisiert, auch ein Verkehrsunfall oder eine lebensbedrohliche Erkrankung kann ein Trauma hervorrufen – und, wie in Silvia Mittelholzers Fall, sexualisierte körperliche Gewalt.
Panik im öffentlichen Verkehr
Die Folgen haben ihr Leben auf vielerlei Art und Weise geprägt. Ein Beispiel dafür ist die Panik, unter der sie im öffentlichen Verkehr leidet. Ihr Nervensystem ist in einem permanenten Alarmzustand und sorgt dafür, dass sie niemandem vertrauen kann. Als sie nach ihrem Zusammenbruch in die Clienia Littenheid eingewiesen wurde, eine Privatklinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Kanton Thurgau, teilte man ihr einen männlichen Therapeuten zu. «Das konnte ich anfänglich kaum akzeptieren», sagt sie, aber nach einigen Anlaufschwierigkeiten gelang es ihr doch. Auch mit Geschenken und kostenlosen Hilfeleistungen kann sie nicht umgehen, «denn in meiner Kindheit habe ich auf schreckliche Weise gelernt, dass man dafür immer einen Preis bezahlen muss».
Nicht jedes psychische Trauma hat so gravierende Folgen wie Silvia Mittelholzers Missbrauch in der Kindheit. Menschen sind erstaunlich widerstandsfähig und können oft auch schwerste Erfahrungen gut verarbeiten. Drei bis dreieinhalb Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer entwickeln jedoch im Laufe ihres Lebens eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Oft leiden sie unter Alpträumen oder Flashbacks, in denen sie ihr Trauma immer wieder von Neuem durchleben müssen, und sie meiden Situationen, die in irgendeiner Form an das traumatische Ereignis erinnern. Wer beispielsweise einen schweren Autounfall erlebt hat, fährt lange Umwege, um bloss nicht an der Stelle vorbeizukommen, wo der Crash passiert ist, oder er setzt sich erst gar nicht mehr ins Auto.
«Manche trauen sich kaum noch, das Haus zu verlassen. Sie sind in einer Negativspirale gefangen.»
Seraina Häfeli-Swallow, Psychiaterin
«Menschen, die mit einer PTBS zu uns kommen, sind oft sehr verzweifelt», sagt die Psychiaterin Seraina Häfeli-Swallow, leitende Ärztin an der Clienia Klinik in Littenheid. «Viele können ihren Alltag nicht mehr bewältigen, entfremden sich von ihren Ehepartnern, wirken hilflos, ziehen sich zurück. Manche trauen sich kaum noch, das Haus zu verlassen. Sie sind in einer Negativspirale gefangen.» Ältere PTBS-Patientinnen und Patienten «somatisierten» zudem häufig, das heisst, sie verlagern emotional belastende Zustände in körperliche Symptome, bekommen starke Schmerzen oder quälende Verdauungsstörungen, für die sich keine medizinische Ursache finden lässt. Meist leiden sie neben der PTBS auch an einer Depression, einer Angst- oder chronischen Schmerzstörung. «Diese Krankheiten beeinflussen sich wechselseitig so ungünstig, dass ein hoher Leidensdruck entstehen kann», sagt Seraina Häfeli-Swallow.
Ein gutes soziales Umfeld schützt
Die gute Nachricht ist, dass Menschen seltener eine PTBS entwickeln, wenn sie im fortgeschrittenen Alter ein Trauma erleiden. Im Laufe ihres Lebens haben sie Bewältigungsstrategien erlernt, die ihnen helfen, auch mit belastenden Erfahrungen umzugehen. Zudem sind ältere Menschen meist besser in ein soziales Umfeld eingebettet als junge, die häufigen Veränderungen unterworfen sind und ihre Primärfamilie bereits verlassen, aber noch keine eigene gegründet haben.
Oft ist es jedoch gar kein neues Trauma, das bei älteren Menschen eine PTBS auslöst, sondern ein schlimmes Erlebnis aus der Kindheit oder Jugend, das die Betroffenen schon ihr Leben lang mit sich herumschleppen, und das nun mit Macht ins Bewusstsein drängt. Sei es, weil eine Demenzerkrankung die frühen Erinnerungen ungefiltert in den Vordergrund rückt, oder weil der Alterungsprozess an sich belastend ist. «Ältere Menschen, die krank und immer schwächer werden, fühlen sich oft schutzlos. Wenn sie zum Beispiel ins Pflegeheim umziehen müssen oder nach einer Operation hilflos im Bett liegen und unter Schmerzen leiden, kann das Gefühl des Kontrollverlusts und des Ausgeliefertseins dem damaligen Trauma nahekommen und es reaktivieren», sagt Häfeli-Swallow.
Grenzen zwischen Alt und Neu verwischen
Sie schildert den Fall einer Patientin auf einer deutschen Demenzstation, die jedes Mal, wenn ein Mann den Raum betrat, ausser sich vor Angst schrie: «Die Russen kommen! Die Russen kommen!» «Im Gespräch mit den Töchtern fanden wir heraus, dass die Mutter im Krieg von russischen Soldaten vergewaltigt worden war.» Ihr ganzes Leben konnte die Frau dennoch gut funktionieren, führte eine stabile Ehe, bekam zwei Kinder, ging einem Beruf nach. Erst als sie im Rahmen einer Demenzerkrankung nicht mehr zwischen alten und neuen Erinnerungen unterscheiden konnte, wurde das Trauma erneut ins Bewusstsein hochgeschwemmt. Jeden Tag erlebte sie nun den Horror der Vergewaltigungen von Neuem.
Auch Silvia Mittelholzer konnte trotz ihrer Traumata lange funktionieren. Viele Jahre versteckte sie sich hinter der Arbeit, stand 14 bis 16 Stunden täglich in ihrem Restaurant, «damit ich keine Zeit zum Nachdenken hatte», kippte schon morgens bei Schichtbeginn zwei Gläser Prosecco, um ihre seelischen Schmerzen zu betäuben. Bei ihr waren es die Geburten der beiden Söhne, die ihre Schutzmechanismen erstmals zusammenbrechen liessen.
Bei der ersten wären Mutter und Kind beinahe gestorben. Als der Kleine dann per Notfall-Kaiserschnitt endlich da war, kam ihr Vater zu Besuch und verlangte, das Baby halten zu dürfen. Mittelholzer, in panischer Angst, ihr Vater könnte ihrem Kind dasselbe antun wie einst ihr selbst, fing an zu hyperventilieren, wurde auf die Notfallstation verlegt, schrie nach ihrem Sohn, der ihr jedoch nicht gebracht wurde. «Da kamen all die schlimmen Erinnerungen wieder hoch.» Die unerträglichen Gefühle des Ausgeliefertseins und der Verzweiflung reaktivierten ihre Traumata.
Seelische Wunden und Narben
Heute sind beide Söhne erwachsen, doch die Beziehung zu ihrer Mutter ist zerrüttet, das ist Silvia Mittelholzers grösster Schmerz. Auch ihre Liebesbeziehungen seien ein Desaster gewesen. Der systematische Missbrauch in ihrer Kindheit hat es ihr verunmöglicht, tragfähige, harmonische und vertrauensvolle Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen.
«Die seelischen Narben bleiben. Doch eines Tages kann ich lernen, sie als einen Teil meines Lebens zu akzeptieren.»
Silvia Mittelholzer, PTBS-Patientin
Wie therapiert man jemanden, der mit so schweren Symptomen in die Klinik eingeliefert wird wie Silvia Mittelholzer? Am Anfang jeder Behandlung stehe eine fundierte Diagnose, sagt Seraina Häfeli-Swallow. Liegen neben der PTBS noch eine Depression oder eine schwere Angst- oder Schmerzstörung vor, so müssten diese zuerst angegangen werden, mit Psychotherapie und Medikamenten. «Denn solange die Patientinnen und Patienten nicht stabil sind, ist es ihnen gar nicht möglich, sich mit dem Trauma zu beschäftigen.» Das belastende Ereignis werde deshalb im übertragenen Sinne «erst einmal eingepackt und weggestellt», bis die Betroffenen wieder Boden unter den Füssen haben. Diesen Ansatz verfolgt auch der Therapeut von Silvia Mittelholzer. «Er sagte mir, der richtige Moment, um meine seelischen Wunden genauer anzuschauen, sei noch nicht gekommen. Die Narben würden bleiben, doch eines Tages könne ich lernen, sie als einen Teil meines Lebens zu akzeptieren.» Silvia Mittelholzer kann es kaum erwarten – und hat gleichzeitig Angst davor, sich mit den schlimmen Erinnerungen auseinanderzusetzen.
Nicht jedes Trauma muss bis ins Detail durchleuchtet und verarbeitet werden, sagt Häfeli-Swallow. Bei der Mehrheit der Patientinnen und Patienten mache es mehr Sinn, «das belastende Ereignis einfach stehen zu lassen» und den Betroffenen Werkzeuge in die Hand zu geben, die sie im Alltag unterstützen, sodass das Trauma nicht mehr solche Macht über sie hat. Diese sogenannt traumastabilisierende Therapie steht im Gegensatz zur traumafokussierten Therapie, bei der die Patientinnen und Patienten das Erlebte unter Anleitung immer wieder erzählen und besprechen, um es schliesslich «an einem Ort im Gehirn abzulegen, wo es nicht mehr die ganze Zeit präsent ist». Löschen könne man die schlimmen Erinnerungen nicht, sagt Seraina Häfeli-Swallow, doch die in der Therapie gewonnene innere Distanz lindere die PTBS-Symptome und helfe den Betroffenen, mit dem Erlebten besser fertig zu werden. Je kürzer das Trauma zurückliegt, desto höher sind die Erfolgsaussichten der Therapie.
Seraina Häfeli-Swallow erlebt in ihrem Alltag oft Vorurteile und Unverständnis gegenüber PTBS-Patientinnen und Patienten. «Da fallen Sätze wie: ‹Jeder Mensch hat doch Schweres erlebt› oder: ‹Jetzt reiss dich endlich mal zusammen.›» Dabei litten die Betroffenen sehr unter ihren Symptomen und könnten sie willentlich kaum beeinflussen. Auch das Personal in den Pflegeheimen sei nicht immer mit der Thematik vertraut und reagiere deshalb manchmal hilflos oder wenig empathisch. Besonders körperlich nahe Situationen wie die Intimtoilette könnten bei manchen Patientinnen ein Trauma reaktivieren.
Silvia Mittelholzer wünscht sich, sie könnte «endlich mal eine richtige Wut auf die Menschen entwickeln, die mir das alles angetan haben. Doch das gelingt mir nicht.» Bis dahin ist es wohl noch ein weiter Weg.
*Name von der Redaktion geändert
Begriffe
Trauma
Ein Trauma ist ein hochgradig belastendes Ereignis, das bei nahezu allen Menschen grösste Verzweiflung sowie Gefühle des Ausgeliefertseins und der Bedrohung auslösen würde. Klassische Auslöser sind z. B. sexualisierte Gewalt, Folter, Kriegserlebnisse, Fluchterfahrungen, Verkehrsunfälle, Naturkatastrophen, Raubüberfälle, der Tod eines nahen Angehörigen oder schwere Krankheit. Auch mitansehen zu müssen, wie jemand anderem etwas Schreckliches widerfährt, kann traumatisierend wirken.
Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
Wer ein Trauma erlitten hat, erlebt die traumatische Situation häufig in Alpträumen oder Flashbacks immer wieder von Neuem. Er vermeidet jegliche Aktivitäten, die an das Trauma erinnern könnten, leidet unter einem ständigen Bedrohungsgefühl und ist ausgeprägt schreckhaft. Halten diese Symptome länger als einen Monat an, spricht man von einer PTBS. Geforscht wird dazu erst, seitdem unzählige traumatisierte Soldaten aus dem Vietnam-Krieg heimkehrten und das amerikanische Gesundheitssystem vor grosse Herausforderungen stellten.
Komplexe PTBS
Eine komplexe PTBS entsteht nicht durch ein einzelnes Ereignis, sondern durch schwere anhaltende oder wiederholte Traumatisierungen (wie bei Silvia Mittelholzer). Zusätzlich zu den klassischen Symptomen einer PTBS leiden Betroffene etwa unter einem schlechten Selbstwertgefühl, sozialem Rückzug und der Unfähigkeit, anderen Menschen zu vertrauen.
Retraumatisierung
Eine neue traumatische Erfahrung trifft auf ein bereits vergangenes Trauma und löst so PTBS- Symptome aus. Beispiel: Ein Soldat im Krieg übersteht zwei lebensbedrohliche Angriffe, von denen er sich wieder erholen kann. Bei der dritten Attacke sind seine Reserven jedoch aufgebraucht, er entwickelt eine schwere PTBS.
Traumareaktivierung
Bestimmte Gerüche, Geräusche oder Situationen können dazu führen, dass sich die Betroffenen wieder an ein altes Trauma erinnern und davon überwältigt werden.
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