Kinder mit einer Behinderung bedürfen besonderer Aufmerksamkeit und Betreuung. Ihre Geschwister übernehmen früh Verantwortung und stellen eigene Bedürfnisse zurück. Gesunde Geschwisterkinder erbringen eine grosse Leistung – meist lebenslang.
Text: Usch Vollenwyder
Als der kleine Peter im Sommer 1960 als jüngstes von sieben Geschwistern auf die Welt kam, fiel sein linkes Händchen auf: Die Finger fehlten. Erst später realisierte die Familie seine geistige Behinderung. Schon da legten die Eltern ihren gesunden Kindern ans Herz: «Peter gehört zu uns.» «Wie ein Mann» habe sich die Familie hinter den Kleinen gestellt, sagt seine um zehn Jahre ältere Schwester Bernadette Kurmann. Bis heute würde keines der Geschwister zulassen, dass ihm etwas Ungutes geschieht: «Peter ist unser Bruder, der besondere Fürsorge braucht.
»Seit dreissig Jahren lebt Peter Kurmann in der Stiftung für Schwerbehinderte Luzern SSBL in Emmen-Rathausen. Wie ein kleines Dorf sind die einzelnen Wohnhäuser auf dem Gelände eines alten Zisterzienserinnenklosters angeordnet. Beim Spazieren nimmt Peter den Arm seiner Schwester. So fühlt er sich sicher. Auf dem Weg zum Klostergarten wiederholt er die immer gleiche Frage. Bernadette Kurmann versteht, was er sagt. Von Anfang an hatte sie als mittleres der sieben Geschwister eine besondere Rolle bei der Betreuung des Nachzüglers. «Ich war wie eine zweite Mutter für ihn», erinnert sich die ehemalige Pflegefachfrau und Journalistin.
Peter war ein schwieriges Kind. Seine Zornesausbrüche waren mitunter gefährlich. Er zertrümmerte Fensterscheiben und traktierte Möbel. Irgendwann waren alle überfordert. Peter kam in ein anthroposophisches Wohnheim in Widen ob Bremgarten. Dort begann er zu malen. Die Malerei wurde zu seiner Leidenschaft. Immer wieder malt er Basel – das Rheinufer mit bunten Häuserzeilen. Niemand weiss, warum gerade Basel. Er malt sich selber im Sarg, seine Beerdigung in goldenen Farben und «Peter im Himmel». Doch vorher wolle er hundert Jahre alt werden.
«Peter ist, wie er ist», sagt Bernadette Kurmann. Wo auch immer sie mit ihm hingeht, fällt das ungleiche Paar auf – das war schon in der Kindheit so und auch später, als sie selber eine Familie hatte und Peter bei seinen Wochenend-Besuchen mit ihr und ihren drei Mädchen unterwegs war. «Was die Leute dachten oder sagten, berührte mich nicht.» Dank ihres Bruders habe sie gelernt, Haltung zu zeigen: «Seit meiner Kindheit kann ich für mich und für andere einstehen.» An ambivalente oder negative Gefühle erinnert sie sich nicht. Nur manchmal habe sie einen kleinen Stich im Herzen gespürt, wenn ihre Mutter sagte: «Peter ist mir der Liebste.»
Heute weiss sie, was damit gemeint war: dass Peter besondere Zuwendung brauchte. Sie ist den Eltern dankbar, dass sie ihr und ihren Geschwistern die bedingungslose Zusage zu diesem ganz besonderen Bruder vorgelebt haben. Auch wenn es mit Peter oft schwer und die Mutter manches Mal traurig gewesen sei: «Der katholische Glaube gab meinen Eltern den nötigen Halt und die Sicherheit, dass auch dieses Kind von Gott gewollt ist.»
Seit meiner Kindheit kann ich für mich und für andere einstehen
Bernadette Kurmann
«Gesunde Geschwisterkinder lernen früh, sich zurückzunehmen. Sie erfahren, dass ihre Bedürfnisse weniger zählen. Mit ihren Problemen müssen sie meist allein zurechtkommen, weil sie die Eltern nicht zusätzlich belasten wollen. Anpassung ist für sie die Norm», sagt Margrith Lin, Heilpädagogin, Psychologin und Buchautorin (siehe Interview S. 14). Aufgrund ihrer Erfahrungen würden diese Kinder in der Regel ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein und eine hohe Sozialkompetenz entwickeln. «Sie laufen aber auch Gefahr, sich überanzupassen und die eigenen Bedürfnisse zu vernachlässigen.»
Studien bestätigen, dass gesunde Brüder und Schwestern oft besonders positiv und empathisch sind. Untersuchungen weisen aber auch auf ein erhöhtes Risiko für Belastungsstörungen und Depressionen hin. Lange waren diese Geschwisterkinder in der Forschung kein Thema. Auch in der Psychologie und Heilpädagogik gingen sie vergessen. Das Interesse galt ausschliesslich deren behinderten Brüdern und Schwestern. Laut Bundesamt für Statistik leben in der Schweiz rund 1,7 Millionen Menschen mit einer Beeinträchtigung. Mehr als ein Viertel von ihnen gilt als stark behindert. Diese rund zwei Prozent der gesamten Schweizer Wohnbevölkerung leben in einer entsprechenden Institution.
Schmerzhafte Erinnerungen
Heute ist dank der 1960 eingeführten Invalidenversicherung und mit Hilfe von Ergänzungsleistungen, der Hilflosenentschädigung sowie der öffentlichen Hand die Betreuung behinderter Menschen finanziell gesichert. Spezialisierte Institutionen und kompetentes Personal sorgen für das Wohl der Bewohnerinnen und Bewohner. Trotzdem bleiben Brüder und Schwestern für das behinderte Geschwister meist lebenslange Bezugspersonen. Spätestens wenn die Eltern pflegebedürftig werden oder sterben, ist die Familie vor neue Herausforderungen gestellt: Wer kümmert sich nun um die Aufgaben, die bis anhin die Eltern übernommen haben? Wer verantwortet die oft notwendige Beistandschaft? Vor allem Menschen mit einer geistigen Behinderung sind darauf angewiesen, dass jemand ihre Interessen wahrnimmt.
Erst in der Therapie realisierte ich, welcher Druck auf mir gelastet hatte
Margrit Wiegandt
Das weiss auch Margrit Wiegand. Noch immer spürt sie grosse Trauer, wenn sie an die ersten fast fünfzig Lebensjahre ihres Bruders Paul Bachmann denkt. Der Kleine war nicht geplant gewesen, und niemand hatte sich über den neuen Erdenbürger gefreut. Vor allem der Vater schämte sich zutiefst über den schwerstbehinderten, gehörlosen Sohn. Schon mit drei Jahren wurde Paul weggegeben. Margrit Wiegand erinnert sich, wie sie Mittwoch für Mittwoch mit der Mutter bergauf zur «Anstalt zur Hoffnung» ging, mit dabei das Bündelchen mit den Kleidern für den Bruder. Sie erinnert sich auch an das Geheimnis, das sie zu hüten hatte: «Gäll, seisch niemertem öppis.»
Dabei hätte sie ihn so gern gehabt, diesen kleinen, hilflosen Bruder, der so ganz und gar auf andere Menschen angewiesen war. Drei Jahre ist die heute 75-jährige Physiotherapeutin älter als er. Für sie war Paul keine Strafe, für sie war er in Ordnung – während ihre Eltern verstummt waren und auf ein Wunder hofften. Sie fuhren mit dem Kind nach Lourdes und zu Padre Pio und fragten sich, womit sie dieses Schicksal verdient hatten. Margrit Wiegand hatte schon fast erwachsene Söhne, als sie in einer Therapie ihre Vergangenheit aufarbeiten konnte. Endlich konnte sie auch über ihren besonderen Bruder reden. «Es war unglaublich befreiend. Erst da realisierte ich, welcher Druck all die Jahre auf mir gelastet hatte.»
Da es damals noch kaum Heimplätze für schwerst geistig behinderte Menschen gab, kam Paul Bachmann als junger Mann auf die geschlossene Abteilung in die Psychiatrische Klinik in Basel. Für Margrit Wiegand ist es immer noch unfassbar, dass ihr friedlicher, unschuldiger Bruder während Jahrzehnten in dieser Umgebung leben musste. Sie sieht noch den grossen Saal mit den aneinandergereihten Betten vor sich. Die Erinnerung tut weh. Sie fühlte sie hin und her gerissen zwischen Mitleid, Zuneigung und Pflichtbewusstsein und trug schwer an der Verantwortung. «Gäll, du luegsch de zum Pauli», hatte ihre Mutter gesagt. Unvergessen bleibt ihr das Gefühl von grenzenloser Freiheit, als sie nach der Matura ein halbes Jahr in England verbrachte und die Familie weit weg war.
Private Angelegenheit
Doch sie kehrte zurück. Sie heiratete und bekam zwei Söhne, die beide ihren Onkel Paul gut mögen. Vor 25 Jahren konnte Paul Bachmann in ein Wohnheim der Basler Stiftung LIV – Leben in Vielfalt – einziehen. Zum ersten Mal wurde er seinen Möglichkeiten entsprechend gefördert. Er begann zu malen – bis heute malt er farbenfrohe Bilder, die er auch schon ausstellen durfte. Margrit Wiegand ist unendlich dankbar für die liebevolle Betreuung, die ihr Bruder jeden Tag erfährt. Seit sie ihn so gut aufgehoben weiss, geht es auch ihr gut. Sie übernahm für ihn die Begleitbeistandschaft und steht in engem Austausch mit den Betreuenden, deren Engagement sie rundum bewundert.
«Früher wurde über ein behindertes Kind nicht geredet. Es galt als Familienangelegenheit, die man nicht in der Öffentlichkeit ausbreitete», sagt Expertin Margrith Lin. Schwerstbehinderte wurden oft als Strafe empfunden, sie wurden versteckt, galten als nicht bildungsfähig und erhielten keinerlei Förderung. Hilfe von aussen konnte keine erwartet werden. Ein behindertes Kind war ein Tabu. Das sei heute anders, sagt die Fachfrau: «Behinderung und Inklusion sind Themen, die in der Gesellschaft angekommen sind.» Für betroffene Geschwister gibt es Beratungsstellen, Informationsangebote oder auch Selbsthilfegruppen.
Margrit Wiegand tauscht sich in der Solothurner Selbsthilfegruppe für Geschwister von Menschen mit einer Behinderung aus. Tröstlich empfindet sie, wie viel sich zum Guten verändert hat. Wehmütig stimmte sie vor kurzem das Video einer jungen Frau aus der Gruppe, auf dem diese mit ihrem behinderten Bruder durch die Stube tanzt: «Da wurde mir wieder bewusst, was für ein schlimmes Leben Paul so lange führen musste.» Die regelmässigen Besuche bei ihm sind Margrit Wiegand ein Anliegen. Sie möchte sie nicht missen. Wenn Paul ihre Hände sucht, sich aus dem Rollstuhl zu stemmen versucht und seine Schwester zu sich hinunterzieht, dann spürt sie die lebenslange, tiefe Verbundenheit. Das tue ihr auch gut: «Paul nimmt mich so, wie ich bin.»
Bernadette Kurmann hat vor drei Jahren von ihrer älteren Schwester die umfassende Beistandschaft für ihren Bruder übernommen. Ihr ist es wichtig, Peters grosse Lebensleistung hervorzuheben: «Mit sechs Jahren kam er von zu Hause fort in ein Heim. Er lernte, Veränderungen zu akzeptieren und die Tatsache, dass andere Menschen über ihn bestimmen. Immer wieder muss er sich auf neue Betreuerinnen und Betreuer einlassen.» Diese beschreiben Peter als humorvoll, liebenswürdig und hilfsbereit. Bernadette Kurmann ist über diese Aussensicht gerührt – der Bruder nerve sie nämlich manchmal gewaltig mit seinen stereotypen Fragen und dem Zwang, die immer gleiche Antwort bekommen zu wollen. Von den Mitarbeitenden lerne sie auch, Peter ernst zu nehmen, ohne ihn erziehen zu wollen: «Immer noch ertappe ich mich dabei, wie ich mich als grosse Schwester um den kleinen Bruder sorge – wie in der Kindheit.»
«Ein Bruder lebenslänglich» heisst das Buch von Margrith Lin, in dem sie die gemeinsame Lebensgeschichte mit ihrem geistig behinderten Bruder Richard festhält. Sich abzugrenzen, sei schwierig, aus dem Geschwisterverbund lasse sich kaum aussteigen, sagt die Professorin für Heilpädagogik. Meist entstehe eine gewisse Distanz, wenn die gesunden Geschwister ihrem Beruf nachgehen und eine eigene Familie gründen. Im Alter, wenn wieder mehr Zeit und weniger Verpflichtungen den Alltag prägen, könne sich diese Beziehung noch einmal vertiefen: «Viele dieser Brüder und Schwestern sind besonders anhänglich und geben ihren gesunden Geschwistern emotional sehr viel zurück.» ❋
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