Viele Wege führen aus der Einsamkeit
Krankheit und eingeschränkte Mobilität, der Tod von Freundinnen und Bekannten, der Verlust des Partners oder der Partnerin: Menschen über 75 fühlen sich besonders häufig einsam. Gegen Einsamkeit lässt sich etwas tun.
Text: Usch Vollenwyder, Illustrationen: Annabelle von Sperber
Für viel zu viele Menschen sei Einsamkeit die traurige Realität des modernen Lebens. Das sagte die frühere britische Premierministerin Theresa May als Antwort auf eine Studie, die aufzeigte, dass jede fünfte Person des Vereinigten Königreichs – rund neun Millionen Britinnen und Briten – oft oder immer unter Einsamkeit leiden. Auf den 1. Januar 2018 ernannte May eine Ministerin für Einsamkeit und hievte damit das Thema auf die politische Agenda. Einsamkeit, bislang eine mit Scham besetzte Privatangelegenheit, geriet in den Fokus der Öffentlichkeit.
In Japan hat das Sterben vereinsamter alter Menschen einen eigenen Namen: Kodokushi. Eine US–Studie redet von Einsamkeit als einer Krankheit mit «epidemischen Ausmassen». Der deutsche Psychiater Manfred Spitzer veröffentlichte letztes Jahr ein Buch mit dem Titel «Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit». Schmerzhaft, ansteckend und tödlich sei sie. Verschiedene Studien belegen: Wer einsam ist, erkrankt häufiger als andere an Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall, Depression oder Demenz. Einsamkeit vermindert die Lebenserwartung noch stärker als Bewegungsmangel oder Übergewicht.
Einsamkeit ist auch in der Schweiz ein weit verbreitetes Phänomen. Laut der letzten Gesundheitsbefragung von 2012 leidet rund ein Drittel der Bevölkerung darunter. Am häufigsten sind die 18- bis 25-Jährigen und noch stärker die über 75-Jährigen betroffen. Wege aus der Einsamkeit gibt es viele – doch es braucht oft Mut und Überwindung, sie zu gehen. Im nachfolgenden Abc zeigt die Zeitlupe verschiedene Möglichkeiten auf. Einsamkeit lässt sich auch vorbeugen: «Der beste Schutz sind vertrauensvolle Beziehungen», sagt Hilde Schäffler, Projektleiterin bei Public Health Services (siehe Interview). Diesen Schutz gilt es früher auf-zubauen – ein Leben lang.
Das ABC gegen Einsamkeit
A wie Ausgang
Verlassen Sie Ihre eigenen vier Wände. Gehen Sie in den nahen Wald, in die Stadt, vielleicht ins Kino, in ein Konzert oder ins Theater. Wagen Sie sich an -einen Tanzanlass! Machen Sie einen Rundgang durchs Dorf, besuchen Sie den Garten oder die Cafeteria Ihres -Alterszentrums, nehmen Sie an den angebotenen Aktivitäten teil. Gehen Sie möglichst oft unter Leute!
B wie Besuchs- und Begleitdienste
Sie können nicht mehr unter die Leute gehen? Dann kommen diese zu Ihnen: Pro Senectute, das Rote Kreuz, viele Kirchgemeinden und Frauenvereine bieten Besuchsdienste an. Nehmen Sie sie in Anspruch – die freiwilligen Besucherinnen und Besucher sind für Sie da und begleiten Sie auch ausser Haus. Die meisten Organisationen offerieren ausserdem einen Fahrdienst, der Sie an ihr Ziel chauffiert.
C wie Computer
Mit einer Internetverbindung können Sie jederzeit überall sein oder die Welt zu sich nach Hause holen! Filme und Bilder aus fernen Ländern, Berichte aus nah und fern, Musik, Spiele und Rätsel, Diskussionsgruppen, Partnervermittlungsplattformen und Kontaktanzeigen finden Sie im Internet zuhauf. Spezielle Websites wie seniorweb.ch oder sozialkontakt.ch enthalten Informationen und Angebote für Senioren.
D wie Dankbarkeit
Schauen Sie zurück: Was gab es Schönes in Ihrem Leben? Woran erinnern Sie sich gerne? Wann erlebten Sie besonders glückliche Momente? Stöbern Sie in alten Fotos und Briefen, blättern Sie in Tagebüchern und Fotoalben, kramen Sie in Ihren Erinnerungen und freuen Sie sich über Erlebtes und Gelungenes. Versuchen Sie, das Positive mehr zu gewichten als das Negative. Fühlen Sie sich vom Leben beschenkt.
E wie erste Hilfe in einsamen Stunden
Notieren Sie sich kleine Freuden, jede auf einen separaten Zettel: sich einen Blumenstrauss kaufen, eine bestimmte CD hören, ein feines Bad nehmen, -einen Spaziergang machen, einen schönen Bildband anschauen, in einem Trost-buch lesen, einen aromatischen Tee aufgiessen, eine Gedankenreise machen … Wenn die Einsamkeit Sie zu erdrücken droht: Ziehen Sie einen Vorschlag. Wenn er nicht passt, nehmen Sie einen anderen.
F wie Freiwilligenarbeit
Nicht nur Pro Senectute, sondern praktisch alle gemeinnützigen Organisationen sind auf der ständigen Suche nach freiwilligen Helferinnen und Helfern. Freiwillige werden für Auslandeinsätze und in Zoos gesucht, als Unterstützende im Klassenzimmer, bei Umweltorganisationen und für Bergeinsätze. Schauen Sie, was zu Ihnen passt! Die Internetseite www.benevol.ch listet alle Einsatzmöglichkeiten nach Kantonen auf.
G wie Geduld
Suchen Sie nicht krampfhaft nach Kontakten! Haben Sie Geduld – mit sich selber und mit der Gruppe, zu der Sie gehören möchten. Nehmen Sie sich genug Zeit, um neue Menschen kennenzulernen – und geben Sie diesen die nötige Zeit, sich auf Sie einzustellen. Fühlen Sie sich nicht verletzt, wenn es beim ersten Mal nicht gleich klappt. Versuchen Sie es erneut, vielleicht an einem anderen Ort.
H wie Haustiere
Ob das Tier ein Fell, Schuppen oder Federn hat: Die Beziehung zu einem Tier tut gut und gibt dem Alltag eine Struktur. Wer kein eigenes Tier halten kann: Viele Tierheime sind froh, wenn ihre Vierbeiner von Freiwilligen ausgeführt werden. Tierkontakte sind überall möglich: Gehen Sie in den Zoo, füttern Sie die Enten am Teich, hören Sie auf das Gezwitscher der Vögel in der freien Natur. Organisieren Sie sich den Besuch eines Therapiehundes.
I wie Interesse
Zeigen Sie Interesse an ihrer Umgebung! Laden Sie Nachbarn und Bekannte zu sich zu Besuch ein. Hören Sie zu, wenn Ihnen jemand aus seinem Leben erzählt, fragen Sie nach, nehmen Sie Anteil. Machen Sie anderen eine Freude, sparen Sie nicht mit echten Komplimenten. Überlegen Sie sich, wo Ihre eigenen Interessen liegen. Pflegen Sie sie, nehmen Sie sich Zeit für Ihre Hobbys.
J wie Ja sagen
Ja sagen zu sich und seiner Lebensgeschichte, sich akzeptieren, sich selber mögen und sich seiner liebenswerten Seiten bewusst sein: Das fällt vielen Menschen schwer. Ständige Selbstzweifel machen es jedoch schwierig, offen auf andere Menschen zuzugehen. Deshalb: Kümmern Sie sich gut um sich selber, verwöhnen Sie sich, seien Sie grosszügig auch zu sich!
K wie Kirchgemeinden
Fast alle Kirchgemeinden kümmern sich aktiv und mit einem vielfältigen Angebot um ihre älteren Gemeindemitglieder. Sie bieten Seniorennachmittage und Mittagstische, Seniorenferien, Ausflüge und zahlreiche Vorträge und Veranstaltungen an – vom Grillplausch über christliche Kontemplation bis hin zum Adventskranzbinden. Informieren Sie sich bei Ihrer Kirchgemeinde.
L wie Lesen
Gehen Sie in eine Bibliothek! Diese verleiht auch Bücher in Grossdruck, Hörbücher oder Lesestoff für E-Books, auf denen sich die Buchstabengrösse variieren lässt. Die Schweizerische Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte SBS sowie die Bibliothek von Pro Senectute Schweiz haben ein grosses Sortiment an Lesestoff, das speziell auf Menschen mit einer Sehbehinderung zugeschnitten ist.
M wie Musik
Hören Sie Musik, machen Sie Musik! Es gibt immer einen Radiosender, der Ihre Lieblingsmusik bringt – Ländler oder alte Schlager, Rock und Pop oder klassische Musik. Legen Sie eine CD auf. Bewegen Sie sich dazu, schaukeln und schunkeln Sie. Versuchen Sie, ihrer alten Flöte ein paar Töne zu entlocken; summen, pfeifen oder singen Sie. Am besten gleich in einem Chor, der Ihnen entspricht.
N wie Nachbarn
Nachbarn kann man nicht wählen. Doch ein gutes nachbarschaftliches Netz hilft im Alltag und vertreibt Gefühle von Einsamkeit. Nehmen Sie nachbarschaftliche Hilfe an und freuen Sie sich darüber. Bemühen Sie sich selber auch um eine gute Nachbarschaft, suchen Sie das Gespräch und bieten Sie Ihre Hilfe an: Bei Abwesenheit füttern Sie die Katze, giessen die Blumen oder leeren den Briefkasten.
O wie Online-Kontakte
Virtuelle Kontakte reichen in der Regel nicht, um tiefe Beziehungen aufzubauen. Doch sie sind besser als gar keine Kontakte: Kommunizieren Sie mit weit entfernten Enkeln oder Freundinnen über Skype, SMS, WhatsApp oder E-Mail, statt gar nicht an ihrem Leben teilzunehmen. Auf der neuen Website www.zeitlupe.ch finden Sie zudem den Treffpunkt, auf dem sich Leserinnen und Leser austauschen können.
Q wie Quartier
Spazieren Sie durchs Quartier oder durch Ihr Dorf: Wem begegnen Sie? Mit wem können Sie ein paar Worte wechseln? Wer kommt vielleicht mit einen Kaffee trinken? Seien Sie nachsichtig, wenn andere keine Zeit dafür haben. Nehmen Sie am Quartierleben teil, besuchen Sie Veranstaltungen wie Quartierfeste, Flohmärkte oder Herbst-messen. Erkundigen Sie sich, welche traditionellen Anlässe und Vereine es in Ihrem Dorf gibt.
R wie Restaurantbesuch
Es braucht Überwindung, sich allein in ein Restaurant zu setzen. Versuchen Sie es! Ein feines Essen und ein gutes Glas Wein in einer schönen Umgebung können zu einem Fest für sich selber werden. Wenn die Hemmschwelle zu hoch oder das Geld knapp ist: Gehen Sie in ein Café, an einen Kiosk oder an einen Stand auf dem Markt. Dort ist die Atmosphäre meist ungezwungener, und ein unverbindliches Gespräch fällt leichter.
S wie Selbsthilfe
Örtliche Selbsthilfegruppen, die Vernetzung einzelner Personen oder Selbsthilfeangebote im Internet führen Menschen mit demselben Problem zusammen. Unter Gleichgesinnten kann man sich austauschen, voneinander lernen und sich gegenseitig unterstützen. Auf der Webseite www.selbsthilfeschweiz.ch sind unter dem Stichwort «Einsamkeit» alle Angebote aufgelistet.
T wie Telefon
Greifen Sie zum Telefonhörer! Rufen Sie eine Freundin an, einen Bekannten, jemanden von der Familie. Erzählen Sie von sich und hören Sie, was Ihr Gegenüber zu erzählen hat! Durchforsten Sie Ihr Adressbüchlein: Welche Kontakte haben Sie definitiv verloren, welche möchten Sie vielleicht reaktivieren? Die Dargebotene Hand Telefon 143 hilft in Krisen und schwierigen Lebenssituationen weiter.
U wie Unterstützung
Um Unterstützung bitten und Hilfe annehmen ist ein Zeichen von Stärke! Akzeptieren Sie Unterstützungsangebote wie Spitex-Dienste, Mahlzeitendienst, Transportdienste oder Besuchs- und Begleitdienste. Fragen Sie ihre Enkel oder Nachbarn, Familienangehörige und Bekannte um kleinere und grössere Handreichungen – sei es für einen Einkauf, einen Arztbesuch oder bei einem PC-Problem.
V wie Volkshochschule
Nicht nur Pro Senectute, auch Volkshochschulen, Migros-Klubschulen, Seniorenuniversitäten, Bildungshäuser wie das Lassalle-Haus im Kanton Zug oder das Kloster Kappel am Albis bieten zahlreiche Kurse, Vorträge und Studiengänge an – von Altgriechisch bis Zen-Meditation. Überlegen Sie sich: Was möchten Sie gerne auffrischen oder neu lernen? Interessierte haben die Qual der Wahl!
W wie Wandern
Bewegen Sie sich, machen Sie einen Spaziergang oder eine Wanderung, fahren Sie Velo, tanzen Sie oder machen Sie Aquafit. Je nach Interesse schliessen Sie sich einer Sport-, Wander- oder einer organisierten Reisegruppe an – Angebote gibt es zuhauf! Ihr Körper und Ihre Gesundheit danken es Ihnen. Bei sportlicher Betätigung werden Glückshormone ausgeschüttet, man fühlt sich wohl und selbstbewusst.
X wie Xanax
Manchmal braucht es den Einsatz von Medikamenten. Wenn aus Einsamkeit eine Depression wird, ist professionelle Hilfe angesagt. Konsultieren Sie eine Fachperson, wenn Sie sich über längere Zeit schlecht fühlen oder nicht mehr weiterwissen. Auch Zweisamkeit schützt nicht vor Einsamkeit: Gehen Sie auf Ihren Partner zu, unternehmen Sie wieder etwas zusammen. Besuchen Sie wo nötig eine Eheberatung.
Y wie Yoga
Yoga, Tai Chi, Qi Gong, autogenes Training, Meditation, Gedankenreisen: Viele Wege führen zu Entspannung und innerer Ruhe. Geeignete Kurse werden überall angeboten. Auch einfachste Atemübungen führen zum Ziel: In den Bauch atmen, tief ein- und ausatmen und den Atem während einiger Sekunden anhalten. Wer Zugang zum Gebet hat, kann seine Sorgen einer höheren Macht anvertrauen.
Z wie Zeitlupe
Die Zeitlupe, das Magazin für Menschen mit Lebenserfahrung, bietet Geschichten, Rat, Tipps und Anregungen für den Alltag, unterhält mit einer Reihe von Rätseln und informiert über Angebote und Anlässe von Pro Senectute in den verschiedenen Kantonen. Mithilfe von Kontaktanzeigen lassen sich Bekanntschaften suchen und finden. Unter www.zeitlupe.ch stossen Sie zudem auf den virtuellen Treffpunkt für interessierte Leserinnen und Leser.
Informationen:
Erkundigen Sie sich bei Ihrer Pro-Senectute-Stelle, bei Ihrer Gemeinde, Ihrer Kirchgemeinde oder Ihrer Pfarrei nach Angeboten in Ihrer Nähe. Auch die Spitex oder das Rote Kreuz sind mit ihren Dienstleistungen in der ganzen Schweiz präsent.
Adressen:
Eine Liste mit Adressen zu all den Angeboten finden Sie hier. Diese Liste kann auch im Sekretariat bestellt werden: Zeitlupe, Postfach 2199, 8027 Zürich (bitte ein an Sie adressiertes und frankiertes Couvert beilegen).
Buch:
2018 erschien das Buch «Einsamkeit, die unerkannte Krankheit». Der Autor Manfred -Spitzer, Hirnforscher und Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, hat die neusten Forschungsergebnisse ausgewertet und kommt zum Schluss: Einsamkeit ist schmerzhaft, ansteckend und tödlich.
«Einsamkeit ist ein schambesetztes Thema»
Hier lesen Sie das Interview mit Expertin Hilde Schäffler.
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