Im Internet nach historischen Bild- und Tonaufnahmen stöbern und dabei in Erinnerungen schwelgen: Memoriav, der Verein zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturgutes der Schweiz, macht’s möglich.
Text: Usch Vollenwyder
Die Kamera entfernt sich von der topografischen Schweizer Karte, der Ausschnitt wird grösser, die Musik lauter. Ein Schriftzug erscheint: «Schweizer Filmwochenschau». Dann wechselt die Musik, sie wird ernst und getragen, ein neuer Titel taucht auf: «Abschied von General Guisan». Flimmernde Aufnahmen in Schwarzweiss, untermalt mit dramatischer Musik, lassen das Leben des Schweizer Generals Revue passieren. Eine militärische Stimme kommentiert aus dem Hintergrund: «Als die Schweizer Soldaten ihre Waffen ergriffen, als der Zweite Weltkrieg ausgebrochen war, als die Truppen der Heimat die Treue gelobten (…), da hatten wir einen Chef, dem alle vertrauten: General Henri Guisan.»
Informatives Kinovorprogramm
Diese Ausgabe der Schweizer Filmwochenschau wurde am 15. April 1960, zwei Tage nach Guisans Tod, schweizweit im Vorprogramm der Kinos ausgestrahlt. «Abschied von General Guisan» war eine Sondernummer und dauerte statt der üblichen fünf bis acht Minuten eine volle Viertelstunde. Der Film zeigt, was die Bevölkerung zur Zeit des Zweiten Weltkriegs bewegte: der Rütlirapport, das Alpenreduit, der Schutz der Schweizer Grenze, der Umgang mit Landesverrätern, Guisan in seinem Büro, Guisan im Gespräch mit den Offizieren, Guisan bei der Truppe. Und der Kommentar dazu: «Er fand die einfachen, männlichen Worte, die jeder sofort verstand.»
Hier können Sie die Ausgabe der Schweizer Filmwochenschau vom 15.4.1960 ansehen:
«Solche historischen Aufnahmen gehören zu unserem kulturellen Erbe. Sie geben uns Menschen von heute die Möglichkeit, die Schweiz von gestern in Bild und Ton zu erleben», sagt Cécile Vilas, Direktorin von Memoriav, dem Verein zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturgutes der Schweiz. Wie alte Bücher, Zeitungen und Schriften würden auch Fotografien, Filme, Ton- und Videoaufnahmen das kollektive Erinnern ermöglichen und zu Diskussionen anregen. Cécile Vilas ist überzeugt von der Wichtigkeit und Kostbarkeit solcher Dokumente: «Dieses kulturelle Erbe gilt es für die nachfolgenden Generationen zu erhalten.»
Seit mehr als zwanzig Jahren unterstützt und berät Memoriav Schweizer Gedächtnisorganisationen wie Bibliotheken, Museen, Archive und andere Institutionen bei der Erhaltung ihrer audiovisuellen Bestände. Expertinnen und Experten in den Fachbereichen Foto, Ton, Film und Video kennen den Umgang mit den fragilen Dokumenten und den kurzlebigen Technologien. So hat mithilfe von Memoriav auch die Bibliothek von Pro Senectute historische Aufnahmen aus vergangenen Pro-Senectute-Zeiten aufgearbeitet und im Internet aufgeschaltet.
Wandel unserer Gesellschaft», sagt Cécile Vilas. Aber auch Privatarchive zeigen, wie Menschen früher gelebt und -gearbeitet haben. Deshalb plädiert sie dafür, alte Fotos nicht einfach wegzuwerfen. «Wer sich von seinem Fotoschatz trennen will, sollte sich überlegen, welche Aufnahmen für die Allgemeinheit historisch interessant sein könnten.» Und diese mit möglichst genauen Angaben dem Staatsarchiv, der Kantonsbibliothek oder einer entsprechenden regionalen Institution übergeben. Memoriav hilft im Zweifelsfall weiter.
Zusammen mit verschiedensten Schweizer Gedächtnisorganisationen hat Memoriav bereits über eine Million audiovisuelle Dokumente vor dem Zerfall gerettet. Auf dem Internetportal www.memobase.ch sind viele dieser -Dokumente öffentlich zugänglich. Es braucht etwas Geschick und Geduld, sich auf der Webseite zurechtzufinden. Doch dann tun sich ganze Erinnerungswelten auf – wie beim Stöbern in den -alten Schweizer Filmwochenschauen: In den Kriegsjahren gehörten sie zu jedem Kinobesuch und prägten mit politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und sportlichen Beiträgen das Bewusstsein der Kinogäste.
Gegen faschistische Propaganda
Die erste Schweizer Filmwochenschau – damals unter militärischer Zensur – flimmerte am 1. August 1940 über die Kinoleinwände. Sie war vom Bundesrat als Gegengewicht zur Propaganda aus dem nationalistischen und faschistischen Ausland in Auftrag gegeben worden; bis Ende 1945 war ihre Aufführung in allen Schweizer Kinos obligatorisch. Bis das Fernsehen ab 1953 seinen Einzug in die Schweizer Wohnstuben hielt, war die Wochenschau die einzige Möglichkeit, bewegte Bilder über das aktuelle Zeitgeschehen zu sehen. Erst 1975 – nach 35 Jahren mit 1651 Ausgaben und insgesamt über 6600 dreisprachigen Beiträgen – wurde sie definitiv eingestellt.
2015 begann Memoriav mit der Veröffentlichung dieser Filmwochenschauen im Internet – zusammen mit der Cinémathèque Suisse und dem Schweizerischen Bundesarchiv. Bereits sind die 1950er- und 1960er-Jahre aufgeschaltet; die restlichen Jahrzehnte sollten bis 2020 folgen. Cécile Vilas freut sich: «Dann wird es möglich, sich von zu Hause aus in die Zeit von 1940 bis 1975 zu versetzen – die Zeit, die heutige Seniorinnen und Senioren aus ihrer Kindheit und Jugendzeit bestens kennen.»
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