Simone Sieder-Gigandet © Claudia Herzog

«Es war das ganze Jahr Weihnachten»

Am 8. Mai 1945 ging in Europa der Zweite Weltkrieg zu Ende. Die Erleichterung war gross – auch in der kriegsverschonten Schweiz. Simone Sieder war damals ein Baby, an die erste Zeit des Friedens kann sich die heutige 75-jährige aber noch gut erinnern.

Von Claudia Herzog

Am 8. Mai 1945 läuteten die Kirchenglocken im jurassischen Porrentruy alle zwei Stunden. Jeweils fünf Minuten lang. Die Gedenkgottesdienste waren überfüllt, auf dem grossen Platz vor dem Stadthaus strömten Menschen aus allen Himmelsrichtungen zusammen.

In ihren Händen hielten sie brennende Kerzen. Endlich, Frieden! «Es war ein kollektives Aufatmen, aber es herrschte keine Euphorie», erzählt Simone Sieder-Gigandet. «So manche fragten sich damals bang, ob dem Frieden wirklich zu trauen sei.»

«Die Grenze war nahe, es war naheliegend zu helfen»

Ihr Vater, dessen Brüder und ein paar seiner Freunde organisierten sich während des Krieges und unterstützten aktiv die französische Résistance. «Weil die Grenze sehr nahe war, war es naheliegend zu helfen», sagt Simone Sieder-Gigandet. «Unsere Familie lebte damals ein bisschen gefährlich, denn sie versteckte französische Deserteure und versorgte sie mit Lebensmitteln, mit Kleidern, mit Decken.» Und sie ergänzt: «Nicht weit von unserem Haus besass mein Vater einen Wald, von dort war man in wenigen Schritten in Frankreich. Mein Vater fuhr sehr oft an diese Grenze und darüber hinaus und wieder zurück. Immer mit dem Velo.»

Die heutige 75-jährige Simone Sieder-Gigandet war zu diesem Zeitpunkt noch ein Baby. Sie kennt die Wirren und das Ende des Zweiten Weltkrieges deshalb nur aus mündlichen Erzählungen. Trotzdem: Diese Geschichten haben ihr eigenes Leben geprägt. © Claudia Herzog

Simone Sieders Vater Firmin Gigandet war sein Leben lang keiner Partei verpflichtet, aber immer politisch aktiv und sei «in jeder Zeit Anti-Hitler gewesen». Er wollte «das Richtige tun», zeigte Zivilcourage und konnte sich dabei ganz auf seine ebenso mutige Frau verlassen. «Ich vergleiche meine Eltern immer als zwei Säulen, die ein Dach mittragen», sagt die 75-Jährige. «Die eine Säule hat der anderen Säule stets geholfen, in Balance zu bleiben.» Mutter und Vater, ein perfektes Team: Während er ein jüdisches Paar – das nach Holland wollte – über die Grenze schmuggelte, kochte sie in grossen Töpfen Suppe für alle. Ausserdem: In Porrentruy hätten alle Nachbarn, sogar die örtliche Polizei gewusst, was ihr Vater machte. «Er war einmal für zwei Tage im Gefängnis, ansonsten haben aber alle sein Tun und Wirken goutiert und weggeschaut», sagt Simone Sieder-Gigandet.

«Es war keine unbeschwerte Zeit»

Mit dem Kriegsende sei nicht alles plötzlich einfach geworden, sagt die ehemalige Dolmetscherin, Journalistin und Lehrerin. Beispielsweise dauerte die Rationierung der Lebensmittel noch länger an. Einkaufen konnte man nur mit gültigen Rationierungsmarken. «Hunger hatten wir nie, wir waren nicht arm, aber wir mussten sparen. So konnte meine Mutter uns in dieser Zeit keine neuen Kleider kaufen, es fehlte schlicht das Geld für Stoffe oder Wolle.

Zum Glück zogen damals Näherinnen von Haus zu Haus. Diese schneiderten zusammen mit der Mutter aus alten Gewändern der Erwachsenen neue Kleider für uns Kinder. Daran kann ich mich noch sehr gut erinnern: Denn ich sass immer mit am Nähtisch und schneiderte Röcke für meine Puppe.»

«Ich vergleiche meine Eltern immer als zwei Säulen, die ein Dach mittragen», sagt Simone Sieder-Gigandet, «die eine Säule hat der anderen Säule stets geholfen, in Balance zu bleiben.» © Claudia Herzog

Sieders Vater Firmin Gigandet besass die Uhrenfabrik «Ateliers Theurillat- Gigandet» und beschäftige vor dem Krieg 40 bis 50 Mitarbeiter. Ab 1945 musste er fast wieder bei Null starten, Mitarbeitende wieder einstellen, Aufträge einholen. Anderen ging es ähnlich. «Vor dem Krieg hatten wir in Porrentruy drei Metzgereien, nach dem Krieg nur noch eine», erzählt Sieder-Gigandet. «Es brauchte grosses Durchhaltevermögen, um wieder wirtschaftlich Fuss zu fassen.»

Und es brauchte Zeit, um wieder Normalität zu erlangen. «Der Krieg war so schrecklich, niemand konnte danach sofort wieder an seinen Alltag vor dem Krieg anknüpfen, die Menschen mussten das Geschehene erst verdauen. Auch in der kriegsverschonten Schweiz.»

«Der Blick auf die Welt hat uns Kinder stark gemacht»

Ab 1947 kamen viele ehemalige Résistance-Kämpfer und Deserteure – oft zusammen mit ihren ganzen Familien – zu Besuch nach Porrentruy, um sich beim Vater für seine Hilfe zu bedanken. Simone Sieder-Gigandet erzählt: «Das war eine spannende Zeit, besonders für uns Kinder. Und wir kriegten Geschenke von unseren Gästen – ein Spielzeug, ein Taschentuch oder sonst eine hübsche Kleinigkeit. Es war das ganze Jahr über Weihnachten.»

Mit adretter Masche im Haar: Simone Sieder-Gigandet zeigt ein Foto von sich als Mädchen. © Claudia Herzog

Diese Zufallsbekanntschaften während des Krieges entwickelten sich teilweise zu lebenslangen Freundschaften der Familie Gigandet. «Wenn der Krieg nicht gewesen wäre, hätte wir viele von diesen grossartigen Menschen nie kennengelernt», sagt Sieder-Gigandet. «An unserem Familientisch sassen immer Gäste – es wurde diskutiert, philosophiert, politisiert. Das hat uns Kinder stark gemacht. Und wir haben einen anderen Blick auf die Welt bekommen. Daraus nährte sich meine Neugier auf die Welt und Menschen, die anders leben als ich selbst. Dafür bin ich heute noch dankbar.»

1945: Endlich Frieden!

Am 8. Mai 1945 ging in Europa der Zweite Weltkrieg zu Ende. Ein ganzer Kontinent erwachte aus einem Albtraum. Die Erleichterung war auch in der Schweiz riesig. Die Angst vor dem Krieg wich der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Schweizer Radio und Fernsehen suchte Anfang 2020 Menschen, die sich an das Kriegsende und die Jahre danach erinnern.

Ab 1. Mai startet nun der Themenschwerpunkt «1945». Ab dem 4. Mai finden Sie alle gesammelten Beiträge hier: srf.ch/1945

Der Artikel über die Erinnerungen von Simone Sieder entstand im Auftrag von SRF.

Beitrag vom 29.04.2020
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