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«Wien ist weniger bünzlig»

Teil 3 der Zeitlupe-Serie über Auslandschweizerinnen: Suzanne Wolf zog mit 26 Jahren nach Wien. Eine Rückkehr in die Schweiz kam für die heute 75-Jährige nie infrage. Es wäre ihr zu eng gewesen. 

Aufgezeichnet von Fabian Rottmeier

«Vor 49 Jahren habe ich beschlossen, nach Österreich auszuwandern – der Liebe wegen. Bei einem Skiurlaub in Davos hatte ich meinen zukünftigen Mann kennengelernt. 1971, im Alter von 26 Jahren, zog ich nach Wien. Ich entschied mich auch deshalb für die Heimat meines Partners, weil er sich gerade mit einer Tankstelle mit Autohandel selbstständig gemacht hatte.

Wien hatte damals etwa 1,7 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Kein Vergleich also zur Stadt St. Gallen, in der ich als eine von drei Töchtern des Stadtrats Robert Pugneth aufgewachsen war und mich nicht so frei bewegen konnte, wie ich mir dies gewünscht hätte. Als Zwanzigjährige zog ich nach dem üblichen Englandaufenthalt für rund fünf Jahre nach Basel.

«Die Anonymität von Wien gefiel mir. Zudem ist der Wiener im Umgang mit Frauen weitaus charmanter als der typische Schweizer Mann»

Die Anonymität von Wien gefiel mir. Zudem ist der Wiener im Umgang mit Frauen weitaus charmanter als der typische Schweizer Mann. Der Wiener Schmäh sagte mir zu. Weit weg war das Konkubinatsverbot der Schweiz. Mein Mann und ich lebten sechs Jahre zusammen, bevor wir heirateten. Etwas, das meine Mutter in St. Gallen jeweils allen verschwieg. 

Heute wohne ich ein wenig ausserhalb von Wien, in Purkersdorf in der Wienerwald-Region. Zur Stadtgrenze sind es aber bloss fünf Kilometer. Ich lebe in einem Haus mit einem schönen Garten. Ein Glück in Zeiten von Corona. Österreich schien der Schweiz in Sachen Massnahmen immer eine Woche voraus zu sein. Während der 14-tägigen Quarantäne nach Skiferien in der Schweiz haben Nachbarn für mich die Einkäufe erledigt. Die Nachbarschaftshilfe war sehr gross.

In den Siebzigern gab es in Wien für die breite Bevölkerung vor allem Ein- und Zweizimmerwohnungen, oft nur mit einem Gemeinschaftsklo im Gang. Richtige Mietkasernen, sogenannte Substandardwohnungen, in denen die Leute mit dem WC-Papier unterm Arm zur Toilette gingen. Dafür waren die Mieten sehr günstig. Bäder gab es erst in den feineren Häusern. Es kam auch vor, dass sich Leute die benachbarte Wohnung hinzumieteten, die Wand dazwischen herausbrachen und sich in der zweiten Küche ein Bad einrichteten – wenn sie es sich leisten konnten. Es war nicht unüblich, zu viert in einem Raum zu schlafen. Auch noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg gab es sogenannte Bettgeher, die sich das Bett mit jemandem teilten, der nachts arbeitete. Hier stellte ich auch fest, dass damals schon sehr viele Frauen und Mütter berufstätig waren. Ich selbst habe bis zur Pension im Marketing- und Werbebereich gearbeitet.

«Ein grosser Unterschied zwischen der Schweiz und Österreich sind die Standesunterschiede»

Österreichs Hauptstadt war und ist für mich als sehr musikaffiner Mensch mit Vorliebe für Operetten und Klassik ein Paradies. Wiens Aura begeistert mich bis heute: die Opernhäuser, die Sprechbühnen, die Chorkonzerte! Ich geniesse das alles sehr und besitze noch immer zwei Konzertabos sowie ein Opernabo, zudem singe ich in einem Chor. 

Ein grosser Unterschied zwischen der Schweiz und Österreich sind die Standesunterschiede. Es wird, vor allem in Wien, stark darauf geachtet, aus welcher Bevölkerungsschicht jemand stammt, sowohl bei Partner- als auch bei Freundschaften. Es kommt fast nie vor, dass etwa jemand aus der Mittelschicht, zu der ich mich ebenfalls zähle, einen Arbeiter heiraten würde. Sehr stark ausgeprägt ist auch die Parteizugehörigkeit, die sogar bei einer Stellenvergabe eine Rolle spielen kann, vor allem im öffentlichen Bereich. Beziehungen helfen bei allen Aktivitäten und werden auch intensiv genutzt.

«Wenn jemand schlecht über die Schweiz spricht, wehre ich mich für sie»

Schon längst bin ich Doppelbürgerin. Seit rund 14 Jahren gehöre ich dem Vorstand der Schweizer Gesellschaft Wien an und war demzufolge immer mit Schweizern in Wien und Umgebung in regem Kontakt. Eine Rückkehr in die Schweiz könnte ich mir aber nicht mehr vorstellen. Hier ist alles weniger bünzlig. Trotzdem: Wenn jemand schlecht über die Schweiz spricht, wehre ich mich für sie. Und bei den Skirennen schlägt mein Herz immer noch stärker fürs Schweizer Team. Beim Tennis bin ich ein absoluter Fan von Roger Federer und fiebere bei jedem Match mit.

Mein Mann ist vor 20 Jahren mit erst 63 Jahren verstorben. In die Skiferien reise ich jedoch bis heute mit meiner Schwester, die heuer 80 Jahre alt wird. In Österreich mussten meine Skipartnerinnen und -partner mittlerweile alle altersbedingt aufhören. Meine Schwester und ich sind in Flims und auf den Samnauner Pisten noch immer ganz passabel unterwegs. Ich freue mich über jede Skisaison, die ich noch anhängen darf.»

Zeitlupe-Serie: Auslandschweizerinnen und -schweizer

Mehr als 10 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer leben im Ausland. Die Zeitlupe gibt ihnen in einer Artikel-Serie ein Gesicht. Lesen Sie hier weitere interessante Portraits.

 

 

 


  • Haben Sie auch eine Weile im Ausland gelebt oder weilen Sie immer noch dort? Dann erzählen Sie uns im Kommentarfeld doch davon. Wir würden uns freuen.
Beitrag vom 04.08.2020
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